Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Die nächste „Rentenreform“ kommt alsbald: Die Zumutung zu viel?
Gewerkschaften mobilisieren nun für den 10. September 13. Doch Optimismus wäre noch verfrüht

08-2013

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There is no alternative: Das berühmte „Tina-Prinzip“, das auf die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher zurückgeführt wird, gilt auch in den Augen eines Großteils der sozialdemokratischen und grünen RegierungspolitikerInnen in Frankreich. Dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik der alten, im Frühjahr 2012 abgewählten Rechtsregierung über weite Strecken hin ,alternativlos‘ war – die damals oppositionelle Sozialdemokratie hätte es nie offen eingeräumt, die nunmehr regierende Sozialdemokratie dagegen scheint es jeden Tag unter Beweis zu stellen.

Vor allem zwei gegen Maßnahmen der Rechtsregierung unter Nicolas Sarkozy und François Fillon machte die französische Sozialdemokratie im vergangenen Jahr Wahlkampf. Erstens gegen ihr Vorhaben, die Mehrwertsteuer anzuheben, um dadurch – also über die Besteuerung bei den KonsumentInnen – die Unternehmen steuerlich zu entlasten. Dies wurde als Maßnahme zur „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ der Betriebe dargestellt. Eine der ersten Abstimmungen der neuen sozialdemokratisch-grünen Mehrheit bestand im Juni 2012 darin, diese Mehrwertsteuererhöhung abzuschaffen. Sie wurde als skandalös hingestellt, da die Konsumbesteuerung eine der denkbar ungerechtesten Steuern überhaupt ist: Im Gegensatz zur Einkommensbesteuerung ist sie völlig vom Einkommen unabhängig und wächst nicht proportional zu den Einkünften an. Und da die Sparquote bei den höheren Einkommensgruppen auch höher ausfällt, sind sie anteilsmäßig weniger stark betroffen, da sie keinen geringeren Anteil ihres Einkommens für unmittelbaren Konsum ausgeben.

Eine solche Steuerpolitik ist und bleibt also skandalös. Nur, ihre Abschaffung – das war gestern. Heute hat nämlich bereitet sich Frankreich auch unter der sozialdemokratisch-grünen Regierung auf eine Mehrwertsteuererhöhung vor, beschlossen im letzten Winter. In Kraft treten soll sie zum 1. Januar kommenden Jahres. Der Unterschied zur alten Rechtsregierung besteht lediglich darin, dass die Erhöhung anders auf die Mehrwertsteuersätze verteilt wird. Die verschiedenen Konsumgüter sind auf drei verschiedene Mehrwertsteuersätze verteilt: Der oberste sollte unter der Rechtsregierung von 19,6 auf 21,2 Prozent angehoben werden, der mittlere dagegen bei 7 Prozent bleiben. Nunmehr wird der oberste nur auf 20 Prozent steigen, dagegen der mittlere von zuvor sieben auf zehn Prozent klettern. Die grundsätzlichen Bedenken bleiben in beiden Fällen dieselben.

Ein anderes, besonders heftig umstrittenes Vorhaben der alten Rechtsregierung bestand darin, in Unternehmen so genannte „Kollektivverträge zur Wettbewerbsfähigkeit“ abschließen zu können. Diese sollten es erlauben, in Krisenzeiten auf betrieblicher Ebene befristete Verträge zwischen Unternehmensleitung und Gewerkschaften abzuschließen, die entweder die Löhne unter geltendes (kollektivvertragliches) Recht absenken oder aber die Arbeitszeit erhöhen – unter Umständen ohne Lohnausgleich. Auch dagegen machte die damalige Opposition erbitterten Wahlkampf. Und auch diese Maßnahme wird kommen. Ein Gesetz vom Mai dieses Jahres erlaubt es etwa, für eine Dauer von bis zu zwei Jahren – und ohne dass eine Verlängerung durch ein neues Abkommen ausgeschlossen wäre – betriebliche Vereinbarungen zu treffen, die auf den genannten Gebieten ungünstiger für die Beschäftigten ausfallen als sonst geltendes Recht. Gerechtfertigt wird die, von vielen Lohnabhängigen als bedrohlich erlebte, Weichenstellung mit der Zustimmung eines Teils der Gewerkschaften: Diese schlossen am 11. Januar 13 ein Abkommen mit den Arbeitgeberverbänden, die die Einführung solcher Vertragsmechanismen erlaubt.

In der Gesamtheit wurden solche wirtschaftsliberalen „Reformen“ und Einschnitte mit Unterstützung der regierenden Linksparteien wie auch eines Teils der Gewerkschaften nur deshalb denkbar, weil diese die Logik der Alternativlosigkeit vollkommen verinnerlicht haben. Die Krise des Finanzsektors von 2008 erforderte staatliche Eingriffe zur „Rettung der Banken“ und löste hohe zusätzliche Staatsausgaben aus. Es folgte die Staatsschuldenkrise, die Regierenden wie Bevölkerungen zeigen kann, wie sehr den Ländern die Hand an der Gurgel liege, während man in Griechenland ein Exempel zu statuieren begann. Dies löste Panik aus. Politische wie gewerkschaftliche Akteure, die nicht über den Tellerrand des Hier und Heute hinauszudenken bereit sind, haben sich von dieser Logik anstecken lassen und glauben nicht mehr an Gestaltungsspielräume, abgesehen vom Streit über winzige Details – es ist angeblich kein Geld mehr. Längst vergessen haben sie, dass Sozial-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung in ihrer bestehenden Form in Frankreich 1944/45 eingeführt wurden, in einem kriegszerstörten und teilweise ruinierten Land, das riesige Kosten für den Wiederaufbau aufbringen musste. Damals waren progressive Reformen möglich, die scheinbar undenkbar geworden sind.
Der nächste Einschnitt könnte jedoch jener zu viel werden. Am 04. und 05. Juli 13 begann die Regierung die „Konzertierung“ über die Rentenreform in Frankreich (vgl.
http://www.lemonde.fr ) – die nächste, die auf dem Kalender steht. Nach jenen von 1993, 2003, 2007 und 2010…

Die jüngste liegt erst drei Jahre zurück und wurde im November 2010 gegen erbitterte Widerstände von Linksparteien und Gewerkschaften verabschiedet. Damals ging es darum, die Anzahl der erforderlichen Beitragsjahre von bislang 40 auf 41,5 hochzusetzen. Jetzt soll eine weitere Anhebung auf, je nach Geburtsjahrgängen, 43 oder sogar 44 Jahre folgen. Erste Aufschreie erfolgten bereits, doch bleiben sie bislang noch verhalten. Laut einer Umfrage von vergangener Woche sollen sogar 53 Prozent grundsätzlich zur Akzeptanz auch von 43 Beitragsjahren bereit sein (vgl. http://www.lefigaro.fr/f sowie http://www.lefigaro.fr/flash-eco/ ) – so weit könnte das „Tina-Denken“ schon zu greifen begonnen haben. Noch vor zehn Jahren hätten solche Zumutungen zu einer sozialen Explosion geführt.

Eine weitere Maßnahme, die der im Regierungsauftrag erstellte Untersuchungsbericht Rapport Moreau (vgl. http://www.lemonde.fr/) enthält, ist ein mehrjähriges Einfrieren der Renten, die nur noch unterhalb des Inflationsausgleichs erhöht werden dürfen, also an realer Kaufkraft verlieren sollen. An diesem Punkt hat allerdings die regierende Sozialdemokratie versucht, sich jetzt ein bisschen (verbal) zu profilieren, indem sie sich in einem Parteibeschluss vom Abend des Dienstag, den 10. Juli 13 formal dagegen ausspricht (vgl. http://www.lemonde.fr). Der linke Parteiflügel, oder was unter diesem Namen bezeichnet wird, hatte vergangene Woche todesmutig – nein, nicht die Bekämpfung der „Rentenreform“ oder einen Generalstreik dagegen verlangt, jedoch sich für ihre „Verschiebung“ ausgesprochen. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ und http://www.lemonde.fr/politique zuzüglich http://www.lemonde.fr/politique/article/ )

Zum ersten Mal seit drei Jahren haben die Ankündigungen bei der Rentenpolitik nunmehr immerhin zur Anmeldung von gewerkschaftlichen Widerständen geführt: Ein Teil der Gewerkschaften (CGT, FO, FSU, Solidaires; vgl. auch http://www.lemonde.fr/politique/ oder http://www.lemonde.fr/ will am 10. September 13 dagegen streiken und demonstrieren – während insbesondere die CFDT bereits längst zum Landeanflug auf den Bettvorleger der Regierung angesetzt hat. „Es ist nicht klar, ob wirklich eine Dynamik zustande kommt, vor drei Jahren standen wir um dieselbe Jahreszeit erheblich besser da: Damals hatte es bereits im Mai und Juni 2010 massive Demonstrationen vor denen im September gegeben“, erklärte hingegen ein Führungsmitglied der Bildungsgewerkschaft FSU dazu an diesem Dienstag zum Verf. dieser Zeilen. Auch die Niederlage von 2010 beim Thema hat tiefe Spuren hinterlassen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.