Neue Widerstandsformen braucht das Land!?
Über die Bedingungen des Scheiterns

Vortrag von Wolfgang Ratzel (Autonomes Seminar an der Humboldt-Universität)

08-2013

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Vorbemerkung: Der Vortrag wurde in Berlin-Kreuzberg im Mehringhof am 28 Juni 2013 frei nach Stichpunkten und gestützt auf Kernaussagen v.a. der Machtanalysen von Michel Foucault und Armin Krishnan gehalten – weiteres siehe Literaturliste. Es nahmen 36 Leute teil.

I. Drei Thesen und eine Frage

1. Die heutigen Widerstandsformen entsprechen nicht mehr der Art und Weise, wie spätmoderne Machtverhältnisse funktionieren. Sie sind auf dem Niveau des späten 20. Jh. stehen geblieben, teilweise sogar im 19. Jahrhundert.

2. Wer unter den Bedingungen des spätmodernen Kapitalismus Widerstand leistet, muss - um eine adäquate Re-Aktion hervorbringen zu können - zuallererst versuchen, die Art und Weise zu analysieren, wie die spätmodernen Machtverhältnisse funktionieren und sich organisieren.

3. Hauptbedingung des Scheiterns: Der linke Widerstand verzichtete und verzichtet mehr als je zuvor auf eine Analyse der spätmodernen Machtverhältnisse und muss deshalb scheitern.

Frage:

Brauchen wir überhaupt neue Widerstandsformen? – oder ist vielleicht die Beschränkung auf Widerstandshandlungen das Problem? Hat in der Spätmoderne nicht immer schon verloren, wer sich mit Widerstandshandlungen zufrieden gibt?

II. Jede Epoche hat ihren Leitbegriff

Im Gefolge der Französischen Revolution von 1789 stand auch noch das 19. und 20 Jahrhundert unter dem Leitbegriff der Revolution. Die Hauptfrage war: Reform oder Revolution. Wer sich mit einer Reform der Verhältnisse bescheidete, musste die Leitperspektive Revolution ablehnen.

Noch in der 68er-bewegung des 20. Jahrhunderts dominierte der Leitbegriff „Revolution". Die reformistische Perspektive eines „Gangs durch die Institutionen" war gezwungen, sich gegen die Perspektive einer „revolutionären Existenz" zu rechtfertigen.

Nach der Niederlage der revoltierenden Gruppen –spätestens nach dem „Deutschen Herbst" 1977 – setzte sich die Perspektive „Konkrete Utopie" resp. „Vorwegnahme künftiger Verhältnisse" in konkreten Projekten, selbstverwalteten Betrieben, Kommunen, Ökodörfern u.v.m. durch.

Spätestens in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich der „Widerstand" als Leitbegriff durchgesetzt.

II.1. Was verbindet und unterscheidet „Revolution" von „Widerstand"?

Was sagt das Wort „Revolution"

Die heutige Bedeutung bildete sich in der Französischen Revolution heraus und meint den gewaltsamen politischen Umsturz. Einer Revolution geht es um die Umkehrung der Machtverhältnisse: Statt der Klasse der Bourgeoise soll die Klasse des Proletariats herrschen. Statt der kapitalistischen Verhältnisse sollen sozialistische und später kommunistische Produktionsverhältnisse herrschen. Eine Revolution zielt auf den Umsturz einer Gesellschaftsordnung als Ganzes. Ihr begrifflicher Gegensatz heißt Reform oder Evolution. Da sich die revolutionären Perspektiven aufgelöst haben, kann „Revolution" heute in der Werbung verwertet werden.

Was sagt das Wort Widerstand?

Widerstand und widerstehen kommt vom althochdeutschen widerstandan, das sich im Mittelhochdeutschen in widerstan wandelt.

Das Wort kommt aus der Sprache des Krieges und bedeutet ursprünglich verhindern, Widerstand leisten im Sinne von „physisch standhalten" (im Krieg und in der Schlacht).

Dann erweitert sich der Sprachgebrauch auf das Alltägliche und meint: Nicht nachgeben, nicht folgen, sich verschließen, sich widersetzen.

Im Alltagsgebrauch der Neuzeit wird Widerstand als Verweigerung des Gehorsams oder als ein aktives oppositionelles Handeln gegenüber der Obrigkeit oder der Regierung verstanden.

Wer also Widerstand leistet, reagiert auf Zumutungen der Macht. Der Widerstand will diese Zumutungen abwehren und verteidigt den Zustand, der vor den Zumutungen herrschte, den Status quo ante. Von erfolgreichem Widerstand wird gesprochen, wenn die konkreten Zumutungen abgewehrt sind. Danach erlöscht der Widerstand und flammt wieder auf, wenn die nächste Zumutung ins Haus steht.

Schlussfolgerung: Eine Epoche des Aufbegehrens, die unter dem Leitbegriff des Widerstands steht, wirkt rein re-aktiv und beschränkt sich auf die Erhaltung des gegebenen Zustands der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Aus der Perspektive der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse bezeichnet diese Beschränkung auf Widerstand die NIEDERLAGE der Bewegung.

III. Das Wort „Widerstand" als abendländisches Mantra

Die spezifisch abendländische Ausformung der Rede vom Widerstand zeigt sich darin, dass sie wie ein Mantra rezitiert wird. Oder man trägt den Widerstand wie eine moralische Pflicht gleich einem kategorischen Imperativ vor sich her. Das zeigt sich in Schlagworten wie: „Wer sich wehrt, kann verlieren. Wer sich nicht wehrt, hat schon verloren." – oder: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.

Man glaubt, durch unablässiges Rezitieren und Praktizieren des Aufrufs zum Widerstand die Verhältnisse zwingen zu können.

In der Widerstandspraxis hieß das: Nach der Demonstration ist immer vor der Demonstration. Eine Kundgebung jagt die andere. Es kam und kommt zu einer regelrechten Explosion von Widerstandsformen. Die „Radikalität" von Widerstandsformen wird nicht mehr an inhaltlichen Zielen oder der Qualität von Systemkritik gemessen, sondern an der reinen Form festgemacht. „Ziviler Ungehorsam" galt somit als radikaler als „Latschdemos"; Plünderungen von Konsumtempeln, die zu „Aneignungen" umgewertet wurden, galten als „radikaler" als Latschdemos uswusf.. Die Debatte wird zur reinen „Formdebatte": Man glaubte, durch serielle Demonstrationen wie Montagsdemos Erfolge erzielen zu können. Man erwartete die Abwehr der Zumutungen durch das Umsichgreifen dieser Widerstandsrituale und durch steigende TeilnehmerInnenzahlen. Das Riesenhafte von Widerstand sollte Erfolge zeitigen. Der Zweifel fand kein Ohr. Aber der Erfolg blieb aus, und die Rituale verflüchtigten sich, ohne dass jemals Konsequenzen gezogen wurden.

IV. Wie hängen Macht und Widerstand zusammen?

Die Widerstandleistenden glaubten, auf eine Analyse der Machtverhältnisse verzichten zu können. Das war der grundlegende Mangel. Deshalb konnte der Widerstand nicht begreifen lernen, woher der Widerstand kommt, worin die Funktion von Widerstandshandlungen besteht und wo die Grenzen des Widerstands liegen.

Wie aber funktionieren Machtverhältnisse? Woher kommt der Widerstand? Ich beziehe mich hierbei –auf der Folie der Auseinandersetzung zwischen Nietzsche und Heidegger über den abendländischen Nihilismus- auf die Machtanalysen von Michel Foucault:

IV.1. Wie funktioniert Macht (Foucault)?

(Zu den nachfolgenden Fragen habe ich ein Merkblatt mit den u.g. Zitaten an die Teilnehmerschaft verteilt - siehe LitListe)

(1) Was sagt überhaupt das Wort „Macht"?

Macht entfaltet Kräfteverhältnisse und ereignet sich immer in Beziehungen. Beziehungen werden zu Machtbeziehungen, wenn eine Instanz (Institution oder Person) eine andere Person oder viele Personen oder Institutionen lenken will.

Dieses Lenken-wollen verfolgt Zwecke, die der Machterhaltung und Machtsteigerung des macht-ausübenden Herrschaftszentrums, der Institution oder Person dienen.

Michel Foucault stellt den Gesellschaftsraum somit als Netz von Beziehungs-Knoten dar, wobei die Knoten –je nach der Intensität ihrer Kraftwirkungen- dünner oder dicker sind. Die Herrschaftszentren (Regierung, Unternehmensvorstände usw.) kann man als geronnene Kräfteverhältnisse beschreiben, die infolge ihrer geballten Kraft kleineren Zentren oder Einzelpersonen überlegen sind.

Kommentar:

- Entscheidend an dieser Sichtweise ist, dass es in diesen Machtbeziehungsnetzen kein Außerhalb gibt. Alle und alles ist Teil einer Ganzheit von Macht-Spielen, die aber nicht in Balance sondern asymmetrisch geschehen: Die einen verfügen über mehr Kraft und Lenkungsvermögen als die anderen, aber alle „machten" mit.

Damit stellt Foucault die herkömmliche Sichtweise in Frage, dernach die Macht von oben kommt (Die-da-oben versus Wir-da-unten) und einseitig auf eine Klasse oder eine Bevölkerung einwirkt. In dieser herkömmlich-linken Sichtweise sind Die-da-oben immer schon die Täter und Wir-da-unten die Opfer von Machtwirkungen.

Ergo: Die Macht ist nicht verortbar; sie sitzt nicht irgendwo (im Rathaus oder im ZK oder im Parlament oder im Regierungsgebäude oder in der Vorstandsetage) sondern durchquert als asymmetrische Kräfteverhältnisse den gesamten gesellschaftlichen Raum.

(2) „[c] ist die Macht nicht einfach eine Form kriegerischer Herrschaft? Muß man dann infolgedessen nicht alle Probleme der Macht im Sinne von Kräfteverhältnisse begreifen? Eine Art verallgemeinerter Krieg, der nur zu bestimmten Zeiten die Form des Friedens und des Staates annähme. Der Frieden wäre dann eine Form des Krieges und der Staat eine Art ihn zu führen." (Wahrheit und Macht. Interview mit Michel Foucault. In: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Berlin1978, Merve Verlag, S. 40)

Kommentar:

Diese Sichtweise stellt die herkömmliche Annahme auf den Kopf, wonach es eine klare Grenze zwischen Krieg und Frieden gebe. Wenn Machtverhältnisse sich in einem „Spiel" asymmetrischer Kraftwirkungen entfalten, dann befinden wir uns immer im Krieg, der aber unter einem bestimmten Level von Intensität als „Frieden" erscheint. Herrschaft ist somit immer kriegerisch und die Politik ist immer Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln (im Gegensatz zu Clausewitz, der sagt, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln).

(3) „Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht." (ebenda, S. 35)

Kommentar:

Wenn Herrschaftszentren über Machtbeziehungen auf andere Herrschaftszentren, Personen oder Institutionen einwirken, dann geschieht es zum Zwecke der eigenen Machterhaltung und Machtsteigerung. Machtverhältnisse sind somit IMMER Ausbeutungs- und Aneignungsverhältnisse. Um ausbeuten zu können, muss die Produktivität der Regierten und Gelenkten entfaltet werden. Macht entfaltet somit die Kräfte derer, auf die sie einwirkt, um die Produkte einer solchermaßen gelenkten Kraftentfaltung sich einverleiben zu können.

Ergo: Wenn die Macht als produktiv beschrieben wird, dann widerspricht diese Sichtweise diametral der herkömmlichen Auffassung, wonach die Macht die Ausgebeuteten unterdrückt und sie an deren Entfaltung hindert.

Summa summarum:

Die Macht ist überall – als Entfaltung von Kräfteverhältnissen, die eigensten Zwecken dienen sollen. Die Macht ist produktiv, weil sie die Kräfte derer, auf die sie einwirkt, entfalten muss, um sie zu eigenen Zwecken ausbeuten und aneignen zu können.

IV.2. Wie funktioniert Widerstand (Foucault)?

(1) „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht." (Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Band 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1977, S. 116)

[Die Machtverhältnisse] können nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren spielen. Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. Darum gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der Großen Weigerung - die Seele der Revolte, den Brennpunkt der Rebellionen, das reine Gesetz des Revolutionärs. Sondern es gibt einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände, die nur im strategischen Feld der Machtbeziehungen existieren können." (ebenda, S. 117)

Sie [die Widerstände] sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber. Darum sind sie auch unregelmäßig gestreut: die Widerstandspunkte, -knoten und –herde sind mit größerer oder geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt, gelegentlich kristallisieren sie sich dauerhaft in Gruppen oder Individuen oder stecken bestimmte Stellen des Körpers, bestimmte Augenblicke des Lebens, bestimmte Typen des Verhaltens an." (ebenda, S. 117)

Kommentar:

Es sind die Machtbeziehungen, die Widerstandshandlungen hervorbringen. Und die Macht BRAUCHT den Widerstand! Die Machtbeziehungen können sich ohne Widerstand nicht modernisieren und an neue Bedingungen anpassen. Die Macht kann ihre Machttechnologien nicht verfeinern, abstimmen und ausbalancieren, wenn der Widerstand sie nicht dazu zwingt.

Die Macht ist in bestimmten Sinne am Widerstand interessiert. Wenn nicht Widerstand geleistet werden würde, müsste sie den Widerstand erfinden oder fördern oder sogar selbst organisieren (was heute bereits zu geschehen beginnt).

Diese Sichtweise ver- und zerstört vollends die herkömmliche Auffassung, die besagt, dass die Widerständigen selbst den Widerstand hervorbringen. Wenn aber die Macht den Widerstand hervorbringt, können sich die Widerständigen nicht mehr mit der Aura der heroischen Streetfighter umfloren; sie sind nichts als notwendige Bedingungen der Machtausübung der Herrschaftszentren (und werden oft genug noch von den Herrschaftszentren ausgehalten, z.B. durch Grundsicherung).

(2) „[c] Und wie der Staat auf der institutionellen Integration der Machtbeziehungen beruht, so kann die strategische Codierung der Widerstandspunkte zur Revolution führen." (ebenda, S. 118)

Ich sage einfach: sobald es ein Machtverhältnis gibt, gibt es eine Widerstandsmöglichkeit. Wir stecken nie völlig in der Falle der Macht: unter bestimmten Bedingungen und mit einer präzisen Strategie kann man immer ihrem Zugriff entkommen." („Nein zum König Sex" In: Michel Foucault: Dispositive der Macht. Berlin 1978, Merve Verlag, S. 196)

Kommentar:

Foucaults Machtanalyse hätte mit dem Ergebnis enden müssen, dass, wer nur Widerstand leistet, immer schon in der Falle der Macht sitzt. Dieses Ergebnis durfte nicht sein. Denn Foucault ging es stets um die Möglichkeit des Entkommens aus dem Wirkungsfeld der Macht. Deshalb eröffnet er – im Widerspruch zu seiner Machtanalyse - einen Hoffungshorizont, wonach es möglich wäre, Widerstandspunkte revolutionär zu codieren. Codieren heißt in diesem Zusammenhang wohl „in Form bringen bzw. formen", was natürlich nur in Machtbeziehungen möglich wäre. Widerstandsbeziehungen entsprächen somit Machtbeziehungen; Widerstand würde als Machtbeziehung funktionieren; d.h.: Die Widerstandszentren funktionieren auf dieselbe Weise wie die Herrschaftszentren – nur unter anderen Zielvorstellungen. Es geschähe im Endeffekt nichts als eine „Umkehrung der Macht".

Foucault hat diese Ausweglosigkeit erkannt und verfiel in ein achtjähriges beredtes Schweigen, um danach in den Fortsetzungsbänden „Sexualität und Wahrheit, Band 2: Der Gebrauch der Lüste" und „Band 3: Die Sorge um sich" die antiken Weisen der Subjekt-Konstitution als Möglichkeit des Entkommens zu entdecken. Aber das ist eine andere Geschichte (die mich nicht überzeugt).

V. Wie funktionieren Herrschaftszentren (Nietzsche):

Alle Werte sind „[c] Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde." (Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Frankfurt am Main 1992 (Insel Verlag), Notat 12, S.22)

Der Gesichtspunkt des Werts ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungsbedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens" (Herrschafts-Gebilde). (In: ebenda, Notat 715, S.498)

(Anmerkung: Aus Zeitgründen konnte der Zusammenhang zwischen der nietzscheanischen Wert-Logik (als Erscheinungsform des europäischen Nihilismus) und der Foucaultfschen Machtanalyse nicht vorgetragen werden)

VI. Über die Doktrin der „Gezielten Tötung" als neue Qualität einer spätmodernen Funktionsweise der Machtverhältnisse (Krishnan)

Im Folgenden beschreibe ich unter Verweis auf die Analyse von „Armin Krishnan: Gezielte Tötung. Die Zukunft des Kriegs" (siehe LitListe) die neue Qualität spätmoderner Machtbeziehungen, die einerseits die Grenze zwischen äußeren und inneren Feinden, andererseits die Grenze zwischen Staatenkrieg und Bürgerkrieg auflöst.

Meine These lautet:

- Die westlich-abendländischen Herrschaftszentren dehnen die Freiheitsrechte ihrer Bürgerschaften und die Möglichkeiten von Meinungsäußerung, Mitbestimmung und Systemkritik in Richtung direkte Demokratie aus und werden sie weiter ausdehnen.

- Gleichzeitig wird jede Person „deaktiviert" (notfalls durch „Gezieltes Töten"), sofern sie eine „rote Linie" der Kritik überschreitet.

- Diese „rote Linie" wird von den Herrschaftszentren entschieden und bezieht sich auf ein bestimmtes Handlungsmuster, das als staatsfeindlich definiert wird. Das kritische Denken und die Meinungsäußerung durch Wort, Schrift, Medien und Versammlungen bleiben also geschützt – aber nur solange sie nicht in eine Handlungsweise umschlagen, die als Gefährdung der Sicherheit und Ausdehnung der Herrschaftszentren gilt. Diese rote Linie ist aber nicht einheitlich definiert, sondern je nach Situation, Ort und Zeit und subjektiver Einschätzung variabel und somit unscharf und uneindeutig.

- Ausführendes Organ der gezielten Deaktivierung (notfalls auch Liquidierung) von einzelnen Handelnden ist der „tiefe Staat"; das ist ein Dispositiv von Grundüberzeugungen, internen Vernetzungen, Sondereinsatzkommandos, Geheimdiensten und geeigneten Waffensystemen („u.a. Drohnen). Dieser „tiefe Staat" kann als „permanenter Ausnahmezustand auf dem Sprung" bezeichnet werden. Er funktioniert anonym und verdeckt im Schatten des freiheitlichen Rechtsstaats. Er funktioniert punktuell und situativ und verschwindet spurenlos dorthin, woher er kam, und wo er auf seinen nächsten Einsatz wartet.

Kommentar:

Diese These widerspricht der herkömmlich-linken Sicht, wonach die Herrschaftszentren die bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte als Hindernis bei der Ausübung ihrer Macht sehen und deshalb beständig einschränken wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Freiheitsrechte werden geschützt und beständig ausgedehnt.

Aber unter der Oberfläche des sich optimierenden Rechtsstaat wartet der Ausnahmezustand, der alle, die in der Sphäre der Freiheit eine variable und uneindeutige rote Linie feindlicher Handlungen (!) überschreitet, erbarmungslos deaktiviert.
 

Ich erörtere die These an folgenden Quellentexten aus Armin Krishnan:

(1) Individualisierung des Krieges: Der Feind sind nicht mehr „legitime politische Gesamtheiten" wie Nationen oder Parteien, Gruppen usw., sondern kleine Gruppen von Individuen, „die individuell schuldig oder kriminell sind." (S. 48)

Diese Individuen werden dann dämonisiert, um sie dann als lebensunwerte Un-Menschen liquidieren zu können.

Kommentar:

Die beiden Bush-Administrationen bekämpften noch hauptsächlich „Schurkenstaaten" als ihre erklärten Hauptfeinde. Die Obama-Administration hingegen sieht den Hauptfeind mehr und mehr in terroristischen oder gefährlichen Einzelpersonen und Gruppen. Feind-Staaten treten in den Hintergrund.

Damit wird die Grenze zwischen Innen und Außen verwischt. Der terroristische Feind ist überall: im Außen ebenso wie im Innern der Herrschaftszentren. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist potenzieller Feind. Das wiederum ver- und zerstört die herkömmliche Ansicht, dass der innere Widerstand anders behandelt wird als der äußere Feind.

(2) Der Feind wird zum „System", das Individuum zu einem Knotenpunkt im System:

Die Systemfeinde und gefährlichen Personen und Gruppen werden als System verstanden, „[c] das aus einer Vielzahl von Knotenpunkten besteht, die bestimmen, wie der Gegner funktioniert, wie also Ströme von Information, Befehlen, Material, Energie usw. im >System< des Gegners fließen, und die es dem Gegner ermöglichen zu handeln."

Man greift dann die Knotenpunkte an, die den Feind maximal seiner Widerstandsmöglichkeiten beraubt bei minimaler notwendiger Zerstörung (Beispiele: Man schaltet nicht ein Elektrizitätswerk aus, sondern nur den entscheidende Verteilerstation. Man „eliminiert" durch gezielte Tötungen (Drohnen) nicht eine feindliche Gruppe insgesamt, sondern nur die entscheidenden „zentralen Individuen", die „Hochwertziele" genannt werden. (vgl. Armin Krishnan: Gezielte Tötung. Die Zukunft des Krieges", Berlin 2012 (Matthes und Seitz), 1. Auflage, S. 42f.)

Kommentar:

Diese systemtheoretische Sichtweise dehumanisiert bzw. entmenschlicht den Feind zu einem Wert. Der Feind wird somit noch einmal mehr als lebensunwert bewertet (denn dann wäre er ja noch Mensch), sondern einfach nur noch als Unwert geschätzt.

Auf diese Weise wird der Feind paradoxerweise -je nach Lenkungspotenz- mehr oder weniger „wertvoll"; d.h.: die vollkommen zum Wert verdinglichten Führer werden als „Hochwertziele" vorrangig ausgeschaltet.

(3) „Kriege werden zunehmend von Staaten gegen Individuen geführt und immer weniger gegen andere Staaten oder ganze Völker."

Trend: „Regierungen können ohne juristische Aufsicht und ohne Notwendigkeit der Vorlage von Beweisen weltweit >Terroristen< töten. Sehr viel besorgniserregender ist die Tatsache, dass es bereits technisch möglich ist, dies heimlich zu tun [vor allem mittels Drohnen, WR]. Damit bedarf es nur einer Änderung eines politischen Richtungswechsels, um ein existierendes Tötungsprogramm wie das der CIA erheblich auszuweiten und heimlich all jene zu töten, die mit ihrer Kritik die Legitimität einer Regierung in Frage stellen.. So könnte es auch in westlichen Demokratien verstärkt zu bequemen Selbstmorden und Herzinfarkten von Regierungskritikern kommen. [c] Im schlimmsten Fall könnten auch westliche Regierungen die eigene Bevölkerung zum Feind erklären und durch heimliche und selektive Tötungen ausdünnen, um damit ideologische und sozialtechnische Ziele zu verfolgen. [c] Die Namen von Millionen von Menschen stehen in den USA und Europa ohne deren Wissen auf >Terrorbeobachtungslisten<. Nicht nur müssen die betroffenen Personen befürchten, dass ihnen dadurch massive Nachteile erwachsen, sie könnten in der Zukunft schnell und lautlos in geheimen Gefängnissen verschwinden oder auf Todeslisten gesetzt werden – ein Recht, das die Obama-Regierung bereits zu besitzen behauptet." (ebenda, S.216f.)

Kommentar:

Die Enthüllungen des CIA-Agenten und NSA-Mitarbeiters Snowden bestätigen das gigantische Ausmaß der präventiven Überwachung. Sie bestätigen vor allem aber, dass die Grenze zwischen den „eigenen" und den „fremden" gefährlichen Personen und Gruppen längst verwischt ist. Wir leben somit im Zeitalter des Weltbürgerkriegs (was nicht ausschließt, dass traditionelle Staatenkriege wiederkehren).

Die Frage „Gibt es einen „dritten Weg" jenseits von Revolution und Widerstand?" konnte aus Zeitgründen nicht mehr vorgetragen werden.

VII. Summa summarum

Widerstand ist not-wendend. Wer überleben will, muss Widerstand leisten. Das steht außer Frage.

Beim Nachdenken über die Option „Widerstand" muß vorab geklärt werden, worum es den Widerständigen eigentlich geht. Geht es nämlich „nur" um ihr nacktes Überleben bzw. um die Erhaltung seines Status Quo bzw. um Verbesserungen des Status Quo für sich oder sein Milieu oder seine Klasse, dann kann die Orientierung auf Widerstand die adäquate Methode sein, um diese Ziele zu verfolgen.

Der Erfolg kann sich einstellen, wenn der Status Quo kompatibel ist zu den Machterhaltungs- und Machtsteigerungsinteressen der Herrschaftszentren. In Südeuropa ist das im Moment nicht der Fall. Deshalb werden auch gewaltigste (und gewalttätige) Widerstandsbewegungen keinen Erfolg haben.

Aber selbst im Erfolgsfall wird man auf diese Weise niemals über die technisch-kapitalistischen Verhältnisse hinauskommen – man wird die Modernisierung der Macht bewirken. Man sitzt in der Falle der Macht.

Die große Frage lautet:

Wie kann eine Bewegung unter den Bedingungen der spätmodernen Kriegs- und Aufstandsbekämpfungsdoktrin Kill-or-Capture über die technisch-kapitalistischen Verhältnisse hinauskommen? Wie die „Rote Linie" überschreiten?

Kleine Literaturliste:

Über die moderne Funktionsweise der Macht

- Michel Foucault: „Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Band 1" (Suhrkamp)
- Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. (Merve)

Über das spätmoderne Paradigma der Kriegführung und Aufstandsbekämpfung

- Armin Krishnan: „Gezielte Tötung. Die Zukunft des Krieges" (Verlag Matthes und Seitz)

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Vortragstext vom Autor für diese Ausgabe