Neue Widerstandsformen braucht das Land?!
Zur Geschichte von Sozialprotesten und Protestformen

von Anne Seeck

08-2013

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Im Rahmen der Veranstaltung „Neue Widerstandsformen braucht das Land?!“ am 28.6.2013 im Mehringhof in Berlin hielt ich einen Vortrag zu Widerstands-/Protestformen und der Geschichte der Sozialproteste.  Meine Eingangsthese lautete: Es gibt genug Protestformen, diese erweitern sich beständig. Aber die Erwerbslosenbewegung ist arm an Protestformen; sie könnte von anderen sozialen Bewegungen viel lernen.

Joachim Raschke hat 1985 folgende Einteilung von Aktionsformen vorgeschlagen:

1. die intermediäre Aktion, die über fremde oder unter eigener Kontrolle befindliche Vermittlungsträger bzw. -organisationen (Parteien, Gewerkschaften, Medien) in die politische Auseinandersetzung eingreift. Wichtige Beispiele sind der Wahlkampf und institutionalisierte Streiks als Bestandteil des gewerkschaftlichen Tarifkampfes.

In der Erwerbslosenbewegung sind ein Beispiel die Briefe, die an Politiker geschrieben wurden, mit der Frage, welche Höhe der Regelsatz haben sollte. (http://www.regelsatzerhoehung-jetzt.org/http://www.regelsatzerhoehung-jetzt.org/http://www.regelsatzerhoehung-jetzt.org/) Es wurden aber auch Petitionen an Sozialstadträte überreicht, in Friedrichshain und Neukölln.

2. die demonstrative Aktion, die sich an Vermittlungs-und Kontrollinstanzen wendet, dabei aber keinen Zwang ausübt, sondern den Konfliktgegner und die Öffentlichkeit von ihrem Anliegen zu überzeugen versucht. Demonstrationen und Protestkundgebungen sind dafür bekannte Beispiele.

Während der Erwerbslosenproteste 1998 und der Hartz IV- Proteste 2003/04 die beliebteste Protestform.

Zur demonstrativen Aktion zählen: Kundgebung, Demonstrationen (unterschiedliche Bewegungsarten: z.B. Fahrraddemo; expressive Zuspitzungen: Schweigemärsche, Lärmdemonstrationen, Vermummungsdemonstrationen, anachronistischer Karnevalsumzug; eskalierende Demonstrationen: z.B. Sonntagsspaziergang im Grunewald gegen Spekulanten), Symbolisch-expressive Aktion: Menschenkette, Mahnwache, Schweigekreis, Menschenteppich, Die-In (Frauenfriedensbewegung), Rund Protesttheater

3. die direkte Aktion, die sich unter Umgehung der institutionalisierten Vermittlung unmittelbar an die Kontrollinstanzen (Staat, Unternehmen usw.) richtet und ihnen mehr oder weniger großen Schaden androht. Die möglichen Kosten sollen den Gegner zum Einlenken bringen. Die breite Palette direkter Aktionen reicht vom politischen Streik, Boykott und Sabotage über Besetzung und Blockade bis hin zum Aufstand usw.

Mit der Aktion „Champagner 99“ gab es gescheiterte Besetzungen von Arbeitsämtern, am 3.1.2005 gab es die Aktion Agenturschluß und es gab eine Straßenbahnblockade der AG Mobilität des Sozialforums.

Hier nun die verschiedenen Formen der Direkten Aktion:

Verweigerung:

Streik: Hier wird die Arbeitskraft verweigert. Es gibt Streiks, die als direkte Aktion zu werten sind, z.B. die spontane Arbeitsniederlegung, politischer Streik. (Möglichkeit, Beschäftigungsmaßnahmen zu bestreiken?)

Boykott: Die Auseinandersetzungen der neuen sozialen Bewegungen sind hauptsächlich im Reproduktionsbereich angesiedelt. Bei ihren Verweigerungsaktionen geht es darum, festgefügte Rollenerwartungen außerhalb der Produktionssphäre, z.B. als KonsumentIn, WählerIn oder SteuerzahlerIn, nicht zu befolgen. (z.B.Volkszählungsboykott) Die wohl häufigste Form der Verweigerung stellt die Ignorierung polizeilicher Anordnungen und Aufforderungen sowie gerichtlicher Verfügungen dar. (Oftmals werden Briefe von Gerichtsvollziehern, Zwangsräumungen ignoriert, die Post nicht mehr geöffnet. Erwerbslose sind keine Lohnsteuerzahlende und oft Nichtwähler. Wie wär es mit einem Boykott von Billig-T-Shirts aus Bangladesh? Alternative die Kleiderkammern und Tafeln?)

Hungerstreik und Fastenaktion: RAF, Startbahn-West-Gegner. Im kirchlichen Rahmen ist das Fasten aber eher als demonstrative Aktion zu betrachten und in eine Reihe mit Mahnwache und Schweigekreis zu stellen. (Friedensbewegung) (Hungerstreiks von Erwerbslosen hat es gegeben, z.B. Ralph Boes)

Behinderung

In-Aktion: Die Teilnehmer versuchen durch ihre Anwesenheit den gewohnten Gang der Dinge zu stören, z.B. Go-,Sit-oder Sleep-in. Es herrscht nicht der Ernst der Blockade, sondern es werden Soldaten „besucht“, man „spaziert“ im Wald, „schläft“ auf öffentlichen Straßen oder veranstaltet ein „kollektives U-Bahnfahren“.(z.B. Probeschlafen auf dem Kudamm 1981, um gegen die Räumung besetzter Häuser zu protestieren)

(In- Aktionen wären in Jobcentern möglich, z.B. Zahltag. Es gab Ein-Euro-Spaziergänge, Schwarzfahraktionen, Go-In beim BVG-Chef.)

Die Ortsblockade: z.B. Gorleben, Brokdorf, Wackersdorf, Startbahn West: Der friedensbewegte Protest richtet sich überwiegend gegen militärische Einrichtungen.

Bei der Ortsblokade geht es um die Blockierung der Austauschbeziehungen eines Objektes mit seiner Umwelt durch Blockierung des Bau-, Werk-und Militärverkehrs.

Die Verkehrsblockade: Sie zielt auf die allgemeine Mobiliät der Gesellschaft durch Behinderung des Straßen-, Bahn-und Flugverkehrs. Eine der größten und erfolgreichsten Straßenblockaden war die „Wendland-Blockade“.

Als Funktionsblockaden werden Aktionen bezeichnet, die sich gegen Handlungsgeschehen richten, die sich unter Kontrolle des Konfliktgegners befinden, wie z.B. gegen Militärmanöver und den Bau von industriellen und atomaren Großanlagen.

(Blockaden hat es von den piqueteros in Argentinien gegeben. Was sollen Erwerbslose blockieren? Nicht die Banken, sondern die Bundesagentur für Arbeit? Die Jobcenter? )

Besetzung

Platzbesetzung: Am 18.Februar 1975 wurde in Whyl das erste Mal in der Protestgeschichte der Bundesrepublik ein für den Bau eines Atomkraftwerkes vorgesehenes Gelände besetzt. 1980 wurde eine Tiefbohrstelle besetzt und darauf die Freie Republik Wendland errichtet und nach 4 ½ Wochen geräumt. Weitere Beispiele sind die Startbahn West und Wackersdorf.

(macht Occupy etc., Flüchtlinge am Oranienplatz, Kotti & co)
Baum-und Strommastbesetzung: in der Ökologiebewegung
Betriebsbesetzung: Bis Ende der 70er selten, ab 1980 häufigere Aktionsform (z.B.Alcatel)
Gebäudebesetzung: (wäre möglich; Soziales Zentrum, Zeitungsräume etc. besetzen, während Unterschichtendebatte)

Zerstörung:

Anschlag: Zerstörungsaktionen sind in allen großen Konflikten der Ökologiebewegung zu finden, z.B. Anschläge auf Firmen, die beim Bau des Atomkraftwerkes Brokdorf beteiligt waren.

Scherbendemonstration und Zaunkampf:

Stadtteil-Riot: Bekannt ist die Nacht vom 1.auf den 2.Mai 1987 in Berlin-Kreuzberg. Die Bilanz der Nacht: 47 Festnahmen, weit über hundert Verletzte, 36 geplünderte Läden, Schäden in Millionenhöhe, die Polizei mußte sich für Stunden aus Kreuzberg zurückziehen.

David Graeber hat ein neues Buch „Die direkte Aktion“ herausgebracht. (Nautilus 2013)

Verschiedene Formen direkter Aktionen sind demnach:

  1. am Ort der Produktion (Streiks)

Die Frage ist, wo können Erwerbslose streiken?Aufstocker arbeiten prekär im Niedriglohnsektor, wo es kaum Organisierung gibt; Streiks in Maßnahmen? Bedeutet das Abbruch?

  1. am Ort der Zerstörung (Blockieren, um besetzte Häuser zu retten)

siehe Geza- Park in Istanbul soll zerstört und bebaut werden; am 1. Mai 1985 besetzen Erwerbslose ein leerstehendes Haus und errichten ein Erwerbslosenzentrum in Braunschweig

  1. am Ort der Konsumption (Konsumboykott)

Arme Konsumenten sind moralisch degradiert, weil sie Billigwaren einkaufen, kaum Solidarität z.B. mit armen Textilarbeitern in Bangladesh

  1. am Ort der Entscheidung (Gipfel)

Es gab Proteste, während die Hartz – Kommission tagte; am Reichstag werden die Proteste oftmals in die letzte Ecke verwiesen (z.B. Kundgebung gegen Kinderarmut)

  1. am Ort der Aneignung

Aneignungsaktionen gab es von Erwerbslosen in den 80er Jahren, 1998 Karstadt, ansonsten sehr selten, individuell illegale Aktionen (Stromklau)

In einem nächsten Schritt möchte ich die derzeitige Erwerbslosenszene mit Occupy Wall Street und ihren anarchistischen Prinzipien vergleichen:

  1. Die Weigerung, die Legitimität bestehender politischer Institutionen anzuerkennen (sie stellen keine Forderungen an den Staat)

Die Erwerbslosenbewegung stellt Forderungen an den Staat: 80 Euro mehr für Lebensmittel, 10-30-500; 10 Euro Mindestlohn, 30 Stunden Arbeitszeitverkürzung, 500 Euro Regelsatz; Forderung Existenzgeld/ bedingungsloses Grundeinkommen

  1. Die Weigerung, die Legitimität der bestehenden Rechtsordnung anzuerkennen (sie erkennen Verordnungen nicht an)

Es wird ein Sanktionsmoratorium gefordert, die Gesetze zu den Sanktionen sollen nur zeitweise ausgesetzt werden, keine Abschaffung der Sanktionen; Rechtsexpertentum in der Erwerbslosenszene statt Nichtanerkennung der Rechtsordnung; selten wird die institutionelle Ordnung gestört

  1. Die Weigerung, eine interne Hierarchie entstehen zu lassen und stattdessen eine Form konsensorientierter direkter Demokratie zu schaffen (Konsens und ohne Führer)

Durch Professionalisierung und Expertentum entstehen Hierarchien und Funktionärsstrukturen auch in der Erwerbslosenbewegung.

  1. Die Schaffung einer neuen im Gehäuse der alten Gesellschaft (Zeltlager wurden Räume für Experimente, Vollversammlungen, Gemeinschaftsküchen und -büchereien, medizinische Versorgung, Medienzentren, weitere Institutionen)

Konzentration auf Beratung und Begleitung, kaum andere Infrastruktur in Erwerbslosenbewegung.

Es gibt kein Erfahrungswissen von Direkten Aktionen in der Erwerbslosenszene, keine Erfahrungen mit dem Aufbau solidarischer Ökonomie und anderen Alternativen in der organisierten Erwerbslosenszene.

David Graeber schreibt: Die direkte Aktion bedeutet, „angesichts von ungerechten Autoritätsstrukturen so zu handeln, als sei man bereits frei. Man erbettelt nichts vom Staat.(...)Soweit man dazu in der Lage ist, geht man so vor, als existiere der Staat gar nicht.“

Es gebe einen Unterschied zwischen Zivilem Ungehorsam und Direkter Aktion:

Ziviler Ungehorsam sei: man verbrennt einen Einberufungsbescheid, verweigert sich der behördlichen Struktur, die man für illegitim hält, ist bereit, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen

Direkte Aktion: verweigert sich der Entrichtung von Steuern für militarisiertes Schulsystem; es tun sich mehrere Personen zusammen, um ein neues Schulsystem aufzubauen, sie geht so vor, als existiere der Staat nicht

Soweit zu den Büchern von Joachim Raschke aus den 80er Jahren und dem aktuellen Buch von David Graeber. Empfehlen möchte ich desweiteren folgende Bücher:

Spassguerilla von AG Spaß muß sein!, Unrast 1997, Erstveröffentlichung 1984

Das Buch schildert Spaßguerilla-Aktionen während des Häuserkampfes in Westberlin. Zwischen Oktober 1980 und August 1982 wurden 92 Spaßguerilla-Aktionen bekannt, etwa eine pro Woche.

Davon waren:

40% Theater
25% Schreiben mit gefälschtem Briefkopf, gefälschte Zeitungen
10% Grafik-Aktionen
25% Tieraktionen u.a. (z.B. die Mäusearmeefraktion bei Karstadt)

Handbuch der Kommunikationsguerilla von autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe, Assoziation A 2012

Dort werden ausführlich verschiedene Methoden und Beispiele der Kommunikationsguerilla geschildert. So das Verfremdungsprinzip: es bedeutet bestehende Formen, Ereignisse, Bilder und Vorstellungen aufzugreifen und ihren normalen Verlauf oder ihr gewöhnliches Erscheinungsbild zu verändern. Das Prinzip Überidentifizierung bedeutet: die herrschende Ordnung am wundesten Punkt anzugreifen, identifiziert sich mit der herrschenden Logik. Zudem werden falsche Tatsachen zur Schaffung wahrer Ereignisse erfunden. Es werden Fakes hergestellt. Es gibt unsichtbares Theater. Besonders beliebt ist der Tortenwurf.

Kommt herunter, reiht euch ein..., Klaus Schönberger, Ove Sutter, Assoziation A, 2009

Hier ist zum Beispiel der Abschnitt: „Torte statt Worte“ (K)eine Theorie des Tortenwerfens zu finden.

go.stop.act! Die Kunst des kreativen Straßenprotests, Marc Amann, Trotzdem Verlag 2011

Mit einer breiten Palette von Geschichten, Aktionen, Ideen: Spaßumzüge (Heraus zum 1. April), reclaim the streets (Straßenparty), critical mass (Fahrraddemo), Straßentheater (auch 2002 bei Erwerbslosenprotesten), Bahnhofsballett, Puppentheater, politische Straßenmusik, Sambakapelle, Pink & Silver, radical Cheerleading, street art, guerilla gardening, guerilla vision, radioballet und radiodemo, flash mobs etc.

In diesem Zusammenhang lohnt sich auch ein Blick in das Buch „Autonome in Bewegung“...

Nun zum Erwerbslosenprotest. Meine Erfahrungen beginnen im Jahr 1998. Damals waren für uns die französischen Erwerbslosen Vorbild:

Einige Aktionen der französischen Erwerbslosen 1997/98:

• Besetzung von Arbeitsämtern und der Arbeitslosenversicherung
• Besetzung der staatlichen Stromgesellschaft
• Zerstörung der Eingangstüren eines Arbeitsamtes und Einschmeißen der Scheiben einer
Präfektur
• Ein Rathaus wurde gestürmt und zwei stellvertretende Bürgermeister festgesetzt
• Besetzung einer Eliteschule
• Besetzung der Börse, brennende Akten wurden aus dem Fenster geworfen
• in einem Pariser Nobelhotel erzwangen sich 30 Arbeitslose ein Gratisessen mit Austern und Champagner

Warum protestieren Erwerbslose hier in der Regel nicht?

Ihnen fehlt oft die Motivation zum Protest (oft wird so argumentiert, Resignation, Passivität, Rückzug ins Private, Abkehr vom politischen Leben, gesundheitliche Folgen, Isolation). Es mangelt ihnen an Ressourcen (Geld, Kontakte, Protesterfahrungen, Informationen etc.) Erwerbslose sind eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Interessen und Zielen, das führt oft zu Streitereien. Sie hätten eine geringe Organisations- und Konfliktfähigkeit aufgrund psycho-sozialer Belastungsfaktoren. Sie werden als politische Akteure nicht wahrgenommen, als Beweis gilt oft die Marienthaler Studie aus den 30er Jahren; aber es gibt tatsächlich viele Konflikte und Streitereien in der Erwerbslosenszene. Sie können wenig Drohpotential in die Waagschale werfen (staatliche Abhängigkeit, können z.B. nicht in der Produktion streiken). Sie wollen oft ihre Arbeitslosigkeit nicht öffentlich machen (Scham, Selbstverschuldungsthese), Marginalisierung und Stigmatisierung (siehe Unterschichtendebatte). Für viele ist Erwerbslosigkeit nur eine vorübergehende Lebenslage.

Weitere Probleme, die sich m.E. aus der Protestgeschichte ergeben:

Professionalisierung in den 80er/90er Jahren, Arbeitsloseninitiativen waren keine politischen Initiativen mehr, in den 80er Jahren hielt die professionelle Sozialarbeit Einzug in die Arbeitslosenarbeit; berufliche Abhängigkeiten und eine betreuerische Praxis gerieten in Konflikt mit dem Selbstorganisationsansatz

Instrumentalisierung (Kohl muß weg) durch DGB bei Erwerbslosenprotesten 1998

Spaltung durch sektierische Gruppen (ML-Gruppen in Bündnissen, MLPD bei Montagsdemos, Spaltung Oktober 2004 Ende der Protestwelle )

Parlamentarisierung (WASG) bei Hartz IV- Protesten 2004, von Linkspartei geschluckt, keine Erfolge, in Berlin hat die Linke Hartz IV umgesetzt

Erwerbslose zeichnen sich eher durch alltägliche Widerstandsformen aus, die List der Ohnmächtigen, Harald Rein spricht in dem Buch „Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest“ von „listigen Handlungen“. Oftmals haben sie auch Unterstützungsnetzwerke, wie die türkische community. Es gibt kleine Kämpfe in und vor Jobcentern.

Die Massenarbeitslosigkeit beginnt in der BRD Ende der siebziger Jahre. Bei meiner Chronologie der Erwerbslosenproteste setze ich im Jahr 1982 ein, im Jahr des ersten Arbeitslosenkongresses.

Chronologie der Erwerbslosenproteste:

1982-1989: Die Massenarbeitslosigkeit steigt 1982 auf über zwei Millionen. Ende 1982 findet in Frankfurt der erste Bundeskongress der Arbeitslosen statt. Die „Zukunft der Arbeit“, der „Arbeitsbegriff“, Arbeitszeitverkürzung und Existenzsicherung stehen auf der Tagesordnungen gesellschaftlicher Debatten. In einem Flugblatt der Hamburger Erwerbslosen- und Jobberbewegung heißt es: „Wir wollen 1500 Mark für alle statt Arbeit für alle (…) Vollständiges Ausnutzen der sozialen Hängematte (…) Den Reichtum dort holen, wo er angesammelt ist, statt sich ausbeuten zu lassen: Selbstbedienung in großen Läden, Banken, Nulltarif bei Verkehrsbetrieben (…) Wir haben ein anteiliges Recht auf den gesellschaftlichen Reichtum.“ Der zweite Arbeitslosenkongreß findet 1988 statt. Dort wird eine Kampagne gegen die Bedürftigkeitsprüfung beschlossen.

1989-1998: Diese Phase ist geprägt durch den Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime. Es ist vom „Ende der Geschichte“ die Rede. Der neoliberale Sozialabbau wird schärfer vorangetrieben. Die Massenerwerbslosigkeit steigt auf über fünf Millionen. In Ostdeutschland gründet sich im März 1990 der Arbeitslosenverband. 1991 wird die Bag-Shi gegründet. 1993 gründet sich in Hamburg die Gruppe Blauer Montag. 1996 geben die Glücklichen Arbeitslosen ein Manifest heraus. 1997 gründen sich die „Hängematten“. Die Parole „Arbeitslosigkeit“ als Chance wird brüchig. Viele Erwerbslosenprojekte spalten sich an materiellen und personellen Problemen. Viele Initiativen nehmen Staatsknete und werden in Beschäftigungsprojekte umgewandelt. 1998 vor den Bundestagswahlen finden Erwerbslosenproteste statt. In Berlin von Februar bis September 1998 Aktionstage an den Jagoda-Tagen (Verkündung der Arbeitslosenzahlen). Die Parole lautet: Kohl muß weg.

1998-2004: Nach 16 Jahren Kohl regieren jetzt SPD und Grüne. 1998 erscheint das Schröder- Blair- Papier. 1999 findet der Kongreß „Anders arbeiten oder gar nicht“ und ein Existenzgeld- Kongreß von FelS statt. Es wird die Agenda 2010 verkündet. Die Hartz- Gesetze werden vorbereitet, die Hartz- Kommission tagt 2002. In dieser Zeit beginnen in Berlin die Proteste gegen die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Es gründet sich 2002 wieder ein Runder Tisch der Erwerbslosen, dann ein Antihartz-Bündnis und schließlich ein Bündnis gegen Sozialkahlschlag, dass eine Großdemo am 1.11.2003 mit 100 000 TeilnehmerInnen in Berlin organisiert. In Berlin finden zudem Armutsproteste statt, so eine Betteldemo im Grunewald am 5.12.2003. Es gründet sich das Berliner Sozialdforum, dass z.B. ein Go-In bei der BVG und eine Straßenbahnblockade macht. Am 3.4.2004 demonstriert der DGB mit 500 000 TeilnehmerInnen, 2004 sind die Montagsdemos. Ende Juli beginnen sie in Magdeburg, am 2.8. sind es bereits 10 000 TeilnehmerInnen, am 9.8. in Leipzig 9000 TeilnehmerInnen. Am 30.8. sind es 200 000 TeilnehmerInnen in ca. 200 Städten. Die Überflüssigen machen eine Aktion im Nobelrestaurant Borchardt.

2005-2008: Am 1.1. 2005 wird Hartz IV eingeführt. Am 3.1.2005 findet die Aktion Agenturschluß statt. Danach veröffentlicht Clement seinen Report „Vorrang für die Anständigen“. Es setzt die Unterschichtendebatte ein. Am 17.1.2007 begleiten Überflüssige Peter Hartz zum Landgericht in Braunschweig. Am 1-2.10.2007 ist der erste Zahltag in Köln.

2009-2013: Im Jahre 2009 beginnt die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa wächst rasant. Es finden Krisenproteste statt. Im August 2009 gibt es einen Aufruf für ein Sanktionsmoratorium. Am 10.10.2010 findet in Oldenburg eine Krach-Schlagen-Demo statt. 3000 TeilnehmerInnen werden als voller Erfolg gefeiert. Zur Demo von „Wir zahlen nicht für eure Krise“ kommen ebenfalls 3000 TeilnehmerInnen in Berlin. 2012 und 2013 findet Blockupy in Frankfurt statt.

Zum Schluß möchte ich den Protestforscher Dieter Rucht zu Wort kommen lassen und einige Beispiele aus der Erwerbslosenbewegung benennen. Eranalysiert in dem Buch „Und jetzt?", wie Protestgruppen Aufmerksamkeit erzielen wollen. In dieser Gesellschaft sei Aufmerksamkeit ein knappes Gut. Protestgruppen wollen Aufmerksamkeit erzielen, das versuchen sie über Masse, Radikalität, Kreativität und Prominenz zu erreichen.

Wie haben wir bei den Hartz IV- Protesten versucht, Aufmerksamkeit zu erzielen?

1. Kreativität

Dabei zeichnet sich die Aussage durch die Originalität, einen Neuigkeitswert und einen Verblüffungseffekt aus. Man kann sie nicht wiederholen, dann verschleißt sie.

Mit Bekanntwerden der Hartzkommission bildete sich in Berlin 2002 eine kleine Gruppe von Erwerbslosen, die sich vor allem durch kreative Aktionen auszeichnete.

Wir führten witzige Theaterstücke auf, verliehen dem Sozialamt Neukölln den „Goldenen Tretstiefel" und führten vor dem Hotel Estrel, wo der Sonderparteitag der SPD zur Agenda 2010 tagte, einen Gladiatorenkampf zwischen einer Ich-AG, einem Leiharbeiter und einem Mini-Jobber auf. Die FAU organisierte noch eine Spaßdemo „Heraus zum 1. April". All das hat riesigen Spaß gemacht, aber dann war die Luft raus.

Meine Lieblingsaktionsform ist die Spaßguerilla. Nur ein Beispiel einer Aktion bei den Häuserkämpfen 1980. Am 12.12.1980 wurden bei Karstadt am Hermannplatz 600 weiße Mäuse in die Lebensmittelabteilung eingeschmuggelt, in Cornflakespackungen versteckt. Die Tiere fraßen sich durch und gingen an die umherstehenden Lebensmittel. Dazu gab es eine Kommandoerklärung der MAF (Mäusearmeefraktion):

Uns Mäusen stinkt die Konsumscheiße schon lange und wir
lassen uns von diesen amerikanischen kolonialistischen
Mickeymäusen nicht länger verarschen.
Wir wollen kein Disneyland! Karstadt muß in Mäusehand!
Knastmauern sind für uns nur größere Käsebrocken.
Wir fressen alles auf, was uns kaputt macht !

2. Masse

Die Masse zeigt, dass das Protestanliegen einen breiten Rückhalt hat, was die Legitimität des Protestes aufzeigt.

Die Anzahl der Protestierenden spielt gerade für die Öffentlichkeit und die Medien eine große Rolle. Damit wird für jene der Protest überzeugender, und um etwas zu bewirken, braucht es mediale Verbreitung.

Auch die Erwerbslosenbewegung hat es schon geschafft, Massen auf die Straße zu bringen. Erinnert sei an die Demonstration gegen Sozialkahlschlag am 1.11.2003, an der 100 000 Menschen teilnahmen. Auch der Beginn der Montagsdemonstrationen hatte massenhaften Charakter. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen den Montagsdemos 1989 und den Montagsdemos 2004, wenn man sich die Rolle der Medien anschaut. Während die Westmedien die Stimmung damals noch aufheizten, versuchten sie die Montagsdemos 2004 einzudämmen, indem sie vor Rattenfängern und Radikalisierung warnten. Seit 2005 fehlt es der Erwerbslosenbewegung an Masse, das hat vor allem mit der Resignation der Erwerbslosen zu tun, denn die Hartz IV-Proteste haben kaum etwas bewirkt.

3. Radikalität

Radikalität hat selten etwas mit Massencharakter zu tun. Die Protestierenden setzen sich damit z.B. dem Risiko strafrechtlicher Verfolgung aus. Die Medien berichten über Radikalität wie am 1. Mai in Kreuzberg, Zustimmung in der Bevölkerung ist damit aber selten zu erreichen. Die Anti-AKW-Bewegung im Wendland ist dabei allerdings eine Ausnahme, wo selbst die Bauern mit ihren Traktoren auffahren.

In der Erwerbslosenbewegung gibt es kaum Radikalität. Das hat m.E. vor allem zwei Gründe. Zunächst die Altersstruktur, an den Montagsdemos waren hauptsächlich ältere Erwerbslose beteiligt, die kaum noch für radikale Aktionen zu gewinnen sind. Zudem haben viele Erwerbslose vor Kriminalisierung und den damit verbundenen Geldstrafen Angst. Ihre finanzielle Situation ist schon so prekär, dass sie jedes Risiko vermeiden. Während Peter Grottian eine Radikalisierung des Protestes fordert, ist bei den Erwerbslosen davon weit und breit nichts zu sehen.

Eine radikalere Protestform waren die „Überflüssigen“, die z.B. die AWO besetzten, im Borchardt „essen“ gingen, eine Veranstaltung der Initiative soziale Marktwirtschaft störten etc.

Es gab wegen der Fahrpreiserhöhungen ein Go-In beim BVG-Chef und eine Straßenbahnblockade, allerdings getragen vom Sozialforum und nicht von der Erwerbslosenbewegung.

Es hat Versuche gegeben, die Arbeitsämter zu besetzen. (Champagner 99)

4. Prominenz

Wenn sich Prominente an einem Protest beteiligen, sollte die Aufmerksamkeit gewiss sein, sollte man meinen. Bei der Erwerbslosenbewegung ist das wohl anders. Es wurde ein Sanktionsmoratorium initiiert, d.h. die Aussetzung der Sanktionen bei Hartz IV. Dafür wurden Prominente wie Günter Grass, Heiner Geißler, Politiker, Wissenschaftler, Künstler gewonnen und trotzdem war die Medienresonanz gering. Und wenn dann wurde sich in den Medien nur auf Politiker der SPD, Grünen und Linkspartei bezogen, also Wahlkampfspektakel gemacht.

Es gibt aber noch weitere Techniken, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Es werden Protestakteure und besondere Aktionen angedeutet. So ist es wohl bei Aktionen von Überflüssigen geschehen. Sie waren ein Synonym für ungewöhnliche Aktionen, wie bei dem Besuch im Nobelrestaurant Borchard, wo die Gäste mit den Hartz IV- Sätzen, im Gegensatz zu den Preisen im Restaurant, konfrontiert wurden.
Eine weitere Technik besteht darin, an ein historisches Datum anzuknüpfen. So zum Beispiel gründete sich zum Gedenken an die Opfer der Aktion Arbeitsscheu Reich 1938 der AK Marginalisierte, der zum 70. Jahrestag Veranstaltungen, Aktionen und Gedenkfahrten organisierte.

Eine dritte Technik ist, stark beachtete Ereignisse für den Protest zu nutzen. Bekannt sind hier vor allem die G8-Proteste. Aber auch Erwerbslose protestierten zum Beispiel beim SPD-Sonderparteitag zur Agenda 2010.
Die vierte Technik ist, „starke" Bilder des Protestes zu erzeugen, so die Bilder vom Protest in Heiligendamm. Starke Bilder hat die Erwerbslosenbewegung bisher kaum gezeigt, zur Zeit zeigt sie eher ihre Schwäche.

Die letzte Technik besteht darin, die Risiko- und Opferbereitschaft der Protestierenden zu zeigen. So zeigte der Hungerstreikende Bernd Pfeifer in Gütersloh seine Opferbereitschaft, was die Medien und Politik kaum wahrnahmen, nach der Devise- ein Kostenfaktor weniger.

Dieter Rucht spricht vom „Elend der Latschdemos“, wechselnden politischen Inhalten hinterherzutrotten. Gefragt sind dagegen Provokationen; aber auch das kann zur krampfhaften Attitüde werden, am Ende dominiert die Form den Inhalt.

Es besteht die Gefahr der Hyperaktivität wie in einem Hamsterrad, begrenzte Kapazitäten, führt zu individuellem und kollektiven burn out.

Protest müsse sich immer wieder neu vergewissern (Voraussetzungen, Inhalte, Formen), dafür gibt es keine Rezepte. Meines Erachtens bedarf es in der Erwerbslosenbewegung neuer Strategien, die diskutiert werden müßten. In dem Buch „Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest“ befinden sich zwei „neue“ Strategien: das dreißig Jahre alte Existenzgeld („das gute Leben“) und die Zusammenarbeit der ALSO mit der Ökologiebewegung. Das ist sehr dürftig. Trotzdem könnte das Buch eine Diskussionsgrundlage sein.

Hier meine Rezension zu dem Buch „Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest“ (Hg. Harald Rein), AG Spak 2013: http://www.trend.infopartisan.net/trd0613/t580613.html

Eine aktuelle erfolgreiche Form von Sozialprotesten ist zur Zeit der Kampf gegen Zwangsräumungen in Berlin. http://zwangsraeumungverhindern.blogsport.de/

Beim Treffen der Verdi- Erwerbslosen am 25.7.2013 wurden einige Filmausschnitte zu Widerstandsformen gezeigt: „Couching statt Coaching“ am Jobcenter Neukölln: http://www.youtube.com/watch?v=M546ND9Uwfo

Flashmob im Arbeitsamt: http://www.youtube.com/watch?v=Ov8w6MkAjmo

Kundgebung gegen Zwangsräumungs-Firma Cavere: http://www.youtube.com/watch?v=yp2C4KCGG58

Ablehnung einer Bewerbung von Ralph Boes: http://www.youtube.com/watch?v=4OdyHKX_0zw

Können Erwerbslose streiken?

Flüchtlinge streiken gegen die Residenzpflicht. Können auch Erwerbslose gegen ihre Residenzpflicht streiken. Bedeutet das Sanktionen, Verlust der Wohnung?

Passagiere verhindern Abschiebung: http://www.youtube.com/watch?v=rF985eKzFW4

In den 20er Jahren gab es Mietstreiks, es wurden Zwangsräumungen verhindert.

Polizeiliche Zwangsräumung in Spandau heute: http://www.youtube.com/watch?v=hDrtyoVMTus

In den USA gibt es bei Studenten die Aktionsform des Schuldenstreiks. Schulden werden nicht bezahlt, weil sie keine Legitimation haben. http://www.youtube.com/watch?v=sCxLQMDBy-0

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.