Wieder geistig Verwirrter von einem Polizisten erschossen
Konsequenz: Innendienst

von Anne Seeck

08-2013

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Schon als im Jahre 2011 die zierliche Andrea H. in Reinickendorf von einem Polizisten erschossen wurde, berichtete ich über jenen Fall und stellte per Internetrecherche fest, dass es eine Reihe von ähnlichen Fällen gab. Jetzt wurde schon wieder ein „geistig Verwirrter“ in Berlin von einem Polizisten erschossen. Zwei Wochen später wurde auf der Pride Parade verrückt und behindert gefeiert.

Andrea H.: http://www.trend.infopartisan.net/trd7811/t957811.html
Andere Fälle: http://www.trend.infopartisan.net/trd0911/t350911.html und
http://www.jungewelt.de/2013/07-30/046.php
Hintergrund: Chronik eines vermeidbaren Todes: http://www.trend.infopartisan.net/trd1111/t331111.html

Die Tat am 28.6.2013 am Neptunbrunnen vor dem Roten Rathaus in Berlin

Ein Mann steht nackt im Neptunbrunnen und verletzt sich selbst mit einem 20 Zentimeter langen Messer. Er habe regelmäßig exzessiv Cannabis geraucht und sei hochaggressiv gewesen, heißt es Zudem habe er unter schizophrenen Störungen gelitten. Ein Polizist steigt in den Brunnen, will den Mann beruhigen und aus dem Brunnen holen. Der Mann hätte den Polizisten attackiert, letzterer schiesst auf den Oberkörper. Der 31-Jährige stirbt an einem Lungenschuss.

Polizeipräsident Kandt: «Geht es um Ihr Leben oder sind Sie in einer Notwehrsituation, muss man auch in den Oberkörper schießen können.»

Warum steigt ein Polizist ins Wasser? Notwehr?
http://www.youtube.com/watch?v=n4RrhVsUayc

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow, hatte sich in die Debatte eingeschaltet und deutlich gemacht, dass der Beamte aus seiner Sicht nichts falsch gemacht habe.

"Nur der betroffene Beamte selbst kann entscheiden, ob er sich in einer Notwehrsituation befindet oder nicht", sagte Malchow in einem Interview. Polizisten in Deutschland würden die Schusswaffe sehr selten anwenden und besonnen reagieren. "In einem Extremfall – wenn jemand mit dem Messer auf mich zukommt – ist der Einsatz jedoch absolut gerechtfertigt. Für mich war die Situation am Neptunbrunnen ein absoluter Extremfall."

Auch der Umstand, dass der Polizist nicht in die Arme oder Beine des Mannes geschossen hat, wodurch der Tod des 31-jährigen Manuel F. vermutlich hätte verhindern werden können, lässt Gewerkschaftschef Malchow nicht zweifeln:

"Handelt es sich um eine Notwehrsituation, kann nicht gezielt auf Arme oder Beine geschossen werden", sagte er in dem Interview weiter. Das Ziel sei es, den Angreifer angriffsunfähig zu machen. Die Bewertung dessen müsse aber allein der Betroffene vornehmen. Auch hätte der Beamte nach Ansicht von Malchow nicht auf Verstärkung beispielsweise durch das SEK warten müssen. "Worauf hätte der Polizist warten sollen? Der 31-Jährige war nicht mehr ansprechbar, verletzte sich selbst und brachte auch Unbeteiligte in Gefahr. Der Polizist musste eingreifen, musste unterbinden, dass sich der Mann weiter selbst verletzt."

Der Beamte sei damit seinem Auftrag nachgekommen. Er habe sich selbst in Gefahr gebracht und müsse sich auch wehren dürfen.“ (Berliner Morgenpost 1.7.2013)

Am Freitag Mensch erschossen- am Mittwoch Polizist wieder im Dienst

Der Polizist, der den geistig verwirrten 31-jährigen Mann im Neptunbrunnen in Mitte erschossen hatte, arbeitete seit Mittwoch wieder, er ist jetzt im Innendienst tätig. „Wir haben keinen Grund, ihn nicht weiter arbeiten zu lassen“, sagte Polizeisprecher Stefan Redlich. Jeder Fall müsse einzeln bewertet werden.
Die Staatsanwaltschaft ermittelt infolge des Lungendurchschusses gegen den Polizisten wegen Totschlags, es wird dabei geprüft, ob es Notwehr war. Inwieweit der Beamte vom sozial-psychologischen Betreuungsangebot der Polizei Gebrauch gemacht hat, wird aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht mitgeteilt.

Der Innenexperte der Grünen...

Wolfgang Wieland sagte der „Bild am Sonntag“: "Dem Polizisten ist wohl kein Vorwurf zu machen, er ist durch den Ausgang der Geschichte sehr gestraft"...Ja und der Erschossene ist tot...

Staatsanwaltschaft ermittelt

Am 17. Juli 2013 wurde mitgeteilt, dass die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen seien und der Staatsanwaltschaft übergeben worden, so deren Sprecher Thomas Fels. Nach früheren Angaben der Behörde deute vieles auf Notwehr des Beamten. Ermittelt wird wegen Totschlags. Wie lange die Prüfung bei der Staatsanwaltschaft dauert, war unklar. Auch ein toxikologischen Gutachten steht laut Sprecher noch aus.

Hier ein Flugblatt und Diskussion bei Indymedia linksunten: https://linksunten.indymedia.org/node/89829

Und der Tip zu Polizisten in Extremsituationen:
http://www.tip-berlin.de/kultur-und-freizeit-stadtleben-und-leute/polizisten-extremsituationen

Und die Antipsychiatriebewegung? Fast nichts...

Auf der Pride Parade gab es einen Redebeitrag vom Bündnis Neptunbrunnen:

Redebeitrag Bündnis Neptunbrunnen

Wir sind heute hier um gemeinsam zu feiern und Spaß zu haben.

Und doch möchten wir an einen sehr erschreckenden Vorfall erinnern: Was ist passiert?

Ein Mann steht am Freitag, den 29.6. im Neptunbrunnen in Berlin Mitte mit einem Messer in der Hand und verletzt sich. Umstehende Passant_innen rufen Polizei und Rettungswagen. Polizist_innen bewegen sich auf den Mann zu, ein Polizist steigt in den Brunnen. Es fällt ein Schuss, der den 31jährige Manuel F. tödlich trifft. Er stirbt noch im Rettungswagen an einem Lungendurchschuss. Ein Video, dass die Tat aufzeigt, ist bei Facebook und Youtube zu finden. Dem folgen Auseinandersetzungen und Diskussionen im Internet und den Medien.

Schon am Tag nach der Tat erklärt die Staatsanwaltschaft, es spreche Einiges dafür, dass der Beamte in Notwehr gehandelt habe. Auch die Polizei – allen voran die Polizeigewerkschaft – rechtfertigen das Handeln des Polizisten mit Notwehr. Politiker von Innensenator Henkel bis zum Grünen-Bundestagsabgeordneten Wieland schließen sich an. Psychiater geben Interviews, in denen als Ursache vermutet wird, dass Manuel F. seine Psychopharmaka nicht eingenommen habe. Nur selten wird gefragt: Warum ist der Polizist in den Brunnen gestiegen? Warum ist er nicht zurück gewichen, als Manuel F. mit dem Messer auf ihn zukam? So hat der Polizist doch eigentlich erst die 'Notwehrsituation' hergestellt und ein bedrohliches Szenario geschaffen.

In der Presse taucht immer wieder die Diagnose Schizophrenie auf. Zum Beispiel stand in der Berliner Morgenpost:
„So hat der 31-Jährige offenbar an Schizophrenie gelitten. Möglicherweise ist diese psychische Erkrankung eine Erklärung dafür, warum der studierte Betriebswirt, der einen festen Job hatte, sich am Freitag öffentlich auszog und begann, sich selbst mit einem Messer zu verletzen.“ Die Berliner Zeitung schrieb sogar von „aggressiver Schizophrenie“.

Erklärt wird das 'verrückte' Verhalten von Manuel F. also mit seiner Diagnose. Es wird ein Bild von 'psychisch Kranken' als angsteinflößenden, gefährlichen, verwirrten und unzurechnungsfähigen Menschen gezeichnet. Nach der Persönlichkeit des Polizisten, der Manuel F. erschossen hat, nach seinen „aggressiven Persönlichkeitsanteilen“ oder „destruktiven Impulsen“, wird nicht gefragt. Die Gewalt der Einen gilt als „krank“, die Gewalt der Polizei aber als „normal“.

Schon 2011 hat die Berliner Polizei eine Frau in ihrer Wohnung erschossen. Andrea H. sollte zu einer psychiatrischen Begutachtung gebracht werden. Sie, die große Angst vor Einbrechern hatte, wurde in ihrer Wohnung von der Polizei massiv bedrängt und ging dann mit einem Messer auf die Beamten los. Obwohl selbst Polizeiforscher sagen, dass die Polizei komplett falsch gehandelt hat, wurden die juristischen Ermittlung nach vier Wochen eingestellt. Der Beamte von damals, der geschossen hat, ist wieder regulär im Dienst.

Offenbar können Polizist_innen also ungestraft Menschen erschießen, wenn diese als „geistig verwirrt“ bezeichnet werden und müssen keinerlei berufliche oder juristische Konsequenzen fürchten.

Wir als Pride Parade-Bündnis solidarisieren uns mit den Angehörigen, Freund_innen und fordern:
− eine unabhängige Untersuchung des Tathergangs.
− Die sofortige Entlassung aus dem Polizeidienst
− ein Ende der öffentlichen Hetze gegen „Schizophrene“ und so genannte „geistig Verwirrte“
− Schluss mit der Polizeigewalt gegen Psychiatrie-Betroffene!

Hier weitere Berichte zur Pride Parade: http://www.pride-parade.de

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text von der Autorin für diese Ausgabe.