Gemeineigentum und Markt
Die Sozialismus-Konzeption von Marx und Engels

von den Sozialistischen Studiengruppen

08-2013

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Der Staatssozialismus, der sich im Gefolge der Oktoberrevolution 1917 in der Sowjetunion und nach 1945 in der DDR und anderen osteuropäischen Ländern als historische Entwicklungsvariante durchgesetzt hatte, verkörpert keineswegs den Durchschnittstypus einer nachbürgerlichen Gesellschaftsformation. Allein schon an dem kritischen Verhältnis von Staat (politischer Form des Gemeinwesens) zum eigentlichen gesellschaftlichen Reproduktions-und Lebensprozeß läßt sich verdeutlichen, daß in der Arbeiterbewegung eine andere Zielvorstellung vorherrschend war. Es läßt sich daher auch nicht wegdiskutieren, daß zwischen den politisch-theoretischen Konzeptionen einer sozialistischen Gesellschaft - wie sie in programmatischen Dokumenten und theoretischen Begründungen vertreten wurden - und dem historisch realisierten Staatssozialismus mannigfache Spannungsverhältnisse existierten.

M-L: Inmitten der Systemkonkurrenz

Lange Zeit wurden die mehr oder minder krassen Abweichungen von den politischen Zielsetzungen als unvermeidliche oder vorübergehende Unzulänglichkeiten interpretiert, die dem konkret-geschicht-lichen Kräftverhältnis zugeordnet werden müßten. Nach der Ausweitung des sozialistischen Lagers infolge der Niederlage des Faschismus und der Zerstörung der Kolonialreiche der kapitalistischen Metropolen setzte sich die Auffassung durch, daß die Zielorientierungen von einer sozialistischen Gesellschaftsformation entweder nicht hinreichend begründet oder aber dem unzureichenden Entwicklungsstand der historisch-sozialen Wissenschaften geschuldet seien.

Von den führenden Ideologen in den staatssozialistischen Gesellschaften wurde davon ausgegangen, daß die Revolution von 1917 einen weltgeschichtlichen Knotenpunkt markierte, mit dem der bürgerlich-kapitalistischen Welt ein anderes politisch-gesellschaftliches Prinzip und System historisch entgegengetreten war. Letzteres galt es systematisch in diversen Theorien des Sozialismus und Kommunismus, in Lehrbüchern seiner politischen Ökonomie, in voluminösen Staats- und Rechtstheorien sowie in einer Flut von M-L-Philosophien durchzu-buchstabieren. Mit diesem ideologischen Aufwand sollte zugleich der Graben zwischen sozialistischem Ideal und staatssozialistischer Wirklichkeit überbrückt werden. Doch wie auch die Konstruktionen aussahen, sie trugen allesamt nicht; die theoretischen Reflexionen verloren mehr und mehr ihren wissenschaftlichen Charakter. Mit der Zerstörung des Realsozialismus verschwanden schließlich blitzartig auch die verschiedenen lebensfremden Konstruktionen des Marxismus-Leninismus. Der historisch folgenreiche Versuch der Bolschewisierung der theoretisch-politischen Positionen von Marx und Lenin, wie er von einer skrupellosen Parteibürokratie in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre durchgesetzt wurde, hatte zu einer Niederlage mit welthistorischen Ausmaßen geführt.

Aber auch kritische Gegenpositionen - vor allem im westlichen Marxismus -waren nicht immer frei davon, einen solchen Anspruch auf prinzipiellen Systemcharakter ihrer politisch-theoretischen Alternative für sich zu behaupten. Der Sozialismus wurde aus einer sozialen Entwicklungstendenz in der modernen bürgerlichen Gesellschaft in mehr oder weniger abgehobene politisch-theoreti-sche Systementwürfe verwandelt. In diesem Vorgang spiegelt sich die weltgeschichtliche Konstellation der System-auseinandersetzung von Kapitalismus und Sozialismus.

Standpunktlogik

Die Existenz eines sozialistischen Lagers und die dominante dogmatische Strömung in der kommunistischen Weltbewegung bildeten ein Bezugssystem, das Kapitalismuskritik mehr oder weniger mit einer Parteinahme für den »Realsozialismus« verknüpfte. Gerade in den siebziger Jahren, als es unter sozialdemokratischer Hegemonie in den westlichen Metropolen zu einer kurzzeitigen Renaissance des Marxismus und einer gesellschaftlichen Aufwertung von sozialistischen Strömungen - auch jenseits des Parteikommunismus - kam, waren Diskussionen um eine originär marxistische Sozialismuskonzeption unterschwellig immer von der Systemauseinandersetzung und einer entsprechenden »Standpunktlogik« durchzogen. Die durch die wirklichen Kräfteverhältnisse erzwungene Positionsbestimmung zum realen Staatssozialismus prägte auf verschiedene Weise die Kapitalismuskritik und den Antikapitalismus der kommunistischen und sozialistischen Linken: Im einen Extrem wurde die Parteinahme für den Realsozialismus zur Voraussetzung

der Kapitalismuskritik gemacht, im anderen Extrem die Kritik an der Sowjetunion zum Eintrittsbillett einer wirklich antikapitalistischen Haltung erhoben. In beiden Fällen wurde der innere Zusammenhang von immanenter marxistischer Kapitalismusanalyse und Sozialismuskonzeption durch Spielarten »proletarischer Standpunktlogik« ersetzt.

In der Bundesrepublik erlangte die »Standpunktlogik« zeitweilig philosophischen Rang. In der Zeitschrift »Argument« wurde zu Beginn der 70er Jahre eine Diskussion zu »Fragen der marxistischen Theorie« eröffnet; der Philosoph W.F. Haug, der später eine philosophische Fundierung von Gorbatschows Perestroika-Politik und eine Pluralisie-rung des Marxismus versuchte, steckte damals in seinem Habilitationsvortrag die Grenzen für eine Kritik der politischen Ökonomie vollständig neu ab. Mit der »Bedeutung von Standpunkt und sozialistischer Perspektive für die Kritik der politischen Ökonomie« (1972) wurde eine theoretische Fundierung für »proletarische Standpunktlogik« geliefert, die etwa für die Ausarbeitung der kritischen Psychologie und die Begründung studentischer Interessenpolitik im Wissenschaftssektor wichtige Impulse freisetzte. Aus der Marxschen »Kritik der Politischen Ökonomie« wurde ein Verfahren »transsozialer Relativierung« von Gesellschaftsformationen herausgelesen, d.h. »eine Schlüsselfunktion der sozialistischen Perspektive für die Kritik der politischen Ökonomie« proklamiert. Das Begründungsverhältnis war damit auf den Kopf gestellt; eine kritische Analyse und eine entsprechende theoretische Durchdringung der bürgerlichen Gesellschaft war selbst an eine sozialistische Perspektive geknüpft.

Auch die Linke oder die verschiedenen Strömungen des westlichen Marxismus waren sich keineswegs einig über den theoretischen und politischen Status und Charakter der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in Bezug auf den Transformationsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft. Man geriet in der innerlinken Auseinandersetzung allzuschnell an den Punkt, sich um hinreichende und notwendige Bedingungen einer sozialistischen Gesellschaftsformation zu streiten: Existenz oder Abschaffung von Ware-Geld-Beziehungen, Staatseigentum/Räte, Plan/Markt etc. Die marxistische Analyse der Entwicklungstendenzen einer höheren Gesellschaftlichkeit innerhalb des Kapitalismus blieb letztlich unterbelichtet, wie ja insgesamt die Dynamik und Elastizität, aber auch Krisenhaftigkeit des Kapitalismus unzulänglich eingeschätzt wurde.(1)

Man könnte nun erwarten, daß mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und dem Ende der Systemkonkurrenz eine erneuerte und von Parteinahmi unbelastete Lektüre der Klassiker ansteht.(2) Zwei Reaktionsweisen sind jedoch vorherrschend: Zum einen wird nun die gescheiterte staatssozialistische Entwicklungskonzeption den Klassikern in die Schuhe geschoben. Die weltgeschichtliche Mission des Proletariats, die Rolle der Partei und das Staatseigentum seien bei ihnen vorgedacht. Auf der anderen Seite wird behauptet, bei Marx und Engels fände sich überhaupt keine Sozialismuskonzeption. Und nicht nur dies. Das gesamte arbeitswerttheoretische Fundament der Kritik der politischen Ökonomie erweise sich als unhalt bar. Einerseits habe sich der moderne Kapitalismus von der Regulierung und Strukturierung durch die Verteilung gesellschaftlicher Arbeit emanzipiert. Daher sei auch andererseits der historische Versuch, diese Verteilung gesellschaftlicher Arbeit zu planen, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.(3)

In beiden Positionen ist das Selbstver ständnis von Marx verfehlt. In seinen Augen haben Sozialisten »sich nur Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen.« Marx verortet den sozialen Denkprozeß der Dechiffrierung der kapitalistischen Produktionsweise und damit seine eigene intellektuelle Rolle in einem historisch spezifischen Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft: »Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.« (MEW 4/ 143). Dieses Sozialismusverständnis von Marx soll im folgenden skizziert werden.

Zurück zu Marx

Karl Marx war ein Mann der Wissenschaft. Er konnte sich, wie Engels berichtete, gleichermaßen begeistern an irgendeiner theoretischen Einsicht, deren praktische Relevanz noch nirgends in Sicht war, wie an einer Erkenntnis, die »sofort revolutionär eingriff in die Industrie, in die geschichtliche Entwicklung überhaupt.« Sein eigentliches Anliegen war freilich »der Kampf für die Befreiung der Klasse der Lohnarbeiter von den Fesseln des modernen kapitalistischen Systems der Produktion« (MEW 19/ 336). Ein wesentlicher Entwicklungsschritt in dem Prozeß, den Lohnabhängigen zum Bewußtsein ihrer eigenen Lage und der Bedingungen ihrer sozialen Emanzipation zu verhelfen, war die Gründung und das Mitwirken an der Internationalen Arbeiterassoziation.

In dem von Marx verfaßten Gründungsdokument der IAA im Jahre 1864 findet sich eine nüchterne und illusionslose Einschätzung von gesellschaftlichem Bewußtsein und politischem Willen der Lohnabhängigen in den kapitalistischen Metropolen jener Zeit. Denn in den Jahrzehnten vor der Gründung der Arbeiterassoziation war die bürgerliche Hegemonie unangefochten. »Alle Versuche, die Chartistenbewegung aufrechtzuerhalten oder neu zu gestalten, scheiterten vollständig, alle Presseorgane der Arbeiterklasse starben, eines nach dem anderen, an der Apathie der Masse, und in der Tat, nie zuvor schien die englische Arbeiterklasse so ausgesöhnt mit einem Zustand politischer Nichtigkeit.« (MEW 16/10) Diese politische Subalternität wurde von den kritischen Zeitgenossen als besonders drückend empfunden, weil sich der naive Fortschrittsglaube längst als illusionär entlarvt hatte. Die Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lebenslage hielt die große Mehrheit der Lohnabhänigen in Bann. Bei einigermaßen unvoreingenommer Betrachtung stand dennoch fest, »daß keine Entwick-

lung der Maschinerie..., keine Verbesserung der Kommunikationsmittel, keine neuen Kolonien, keine Auswanderung, keine Eröffnung von Märkten, kein Frei handel, noch all diese Dinge zusammengenommen das Elend der Massen beseitigen können, sondern daß vielmehr umgekehrt auf der gegenwärtigen falschen Grundlage, jede frische Entwicklung dei Produktivkräfte der Arbeit dahin streben muß, die sozialen Kontraste zu vertiefen und den sozialen Gegensatz zuzuspitzen.« (MEW 16/9)

Genau besehen hätte diese niederdrük kende Konstellation schon damals genuj Anlaß geboten, der neuerdings populäre] Besserwisserei zu folgen. Was sollte angesichts dieses krassen Auseinanderfal-lens von objektiver sozialer Lage und gesellschaftlichem Bewußtsein noch der hartnäckige Versuch einer werttheoretischen Aufschlüsselung der gesamten kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die sogenannte »Arbeitswertlehre« hatte sich im Grundsatz doch bereits bei der Analyse des vormonopolistischen Kapitalismus blamiert; der grandios gescheiterte Versuch des Realsozialismus, »ge-meinwirtschaftliche Vorstellungen unter Anwendungen eines Theoriestandards, wie er mit der klassischen Arbeitswertlehre und deren durch Marx vorgenommer immanenter Kritik erreicht worden war, zu verwirklichen« (Fülberth),(4) wäre uns erspart geblieben.

Marx hingegen sah die Kritik der politischen Ökonomie durch zwei praktische Eingriffe in die reale geschichtliche Entwicklung längst aus dem Status einet rein theoretischen Erkenntnis herausgehoben: erstens durch die gesellschaftliche Regulierung der Arbeitszeit, und zweitens durch die Entwicklung von Formen assoziierter Arbeit in der Kooperativ- und Genossenschaftsbewegung.

Kampf um Arbeitszeit: das Prinzip

Zum ersten Punkt bemerkt Marx: der erfolgreiche Kampf um die Einführung de Zehnstunden-Arbeitstages war »nicht bloß eine große praktische Errungenschaft, sie war der Sieg eines Prinzips. Zum erstenmal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.« (MEW 16/11)

Warum kann Marx den Kampf um den Normalarbeitstag als empirischen Beweis für die politische Ökonomie der Arbeit nehmen und welche Schlußfolgerungen für die Sozialismuskonzeption ergeben sich daraus? Jede Betrachtung der kapitalistischen Marktwirtschaft muß zu dem Schluß kommen, daß sich aus den Gesetzen des Warenaustauschs keine Begründung für die konkreten Grenzen des gesellschaftlichen Arbeitstages entwik-keln läßt. Gleich ob nun an der weittheoretischen Fundierung der Ökonomie festgehalten wird oder nicht, an der Tatsache, daß die jeweilige Festsetzung eines Normalarbeitstages das Ergebnis einer konfliktreichen sozialen Auseinandersetzung ist, kommt kein Ökonom vorbei. Gerade wenn man auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Konkurrenzvorteile schielt, steht fest, daß das Kapital rücksichtlos gegen Gesundheit und Lebensdauer der Lohnabhängigen ist und allein durch das gesellschaftliche Kräfteverhältnis via Staatsgesetz und Kontrolle zur Einhaltung einer Arbeitszeitregelung gezwungen wird. Auch durch die Tarifautonomie allein ist die Struktur einer gesellschaftlichen Arbeitszeitregelung nicht sicherzustellen. Da Arbeitsproduktivität und Arbeitsintensität sich in der kapitalistischen Entwicklung verändern, bleibt die Auseindersetzung um die Arbeitszeit zudem ein permanenter Konfliktherd. Marx spricht anläßlich der gesetzlichen Fixierung der zehnstündigen Arbeitszeit von einem praktischen Sieg des Prinzips der Kritik der politischen Ökonomie oder der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse. Über die werttheoretische Betrachtung des Austauschs von Kapital und Arbeit kommt man zu dem Schluß, daß hier eine »Antinomie« stattfindet, »Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustauschs besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeittages als Kampf um die Schranken des Arbeitstages dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.« (MEW 23/249)

Auch eine politische Ökonomie, die ganz im Banne der Sicherung der Konkurrenzfähigkeit und des Wirtschaftsstandorts des nationalen Kapitals steht, wird einräumen müssen, daß mit der Arbeitszeitregelung nicht nur eine gesellschaftliche Verteilung der Arbeit vorgenommen wird, sondern daß über die verschiedenen Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes der Lebensrhythmus einer modernen Industriegesellschaft geregelt wird (Sonntagsarbeit, Schichtarbeit, Jahresarbeitszeit und Lebensarbeitszeit). Für die politische Ökonomie der Arbeit sind bei der Arbeitszeit nicht nur die zivilisatorischen Auswirkungen der verbesserten Reichtumsproduktion auf die Lebenslage der Lohnabhängigen wichtig; tendenziell l wird mit einer solchen Politik das Reich ; der Freiheit, das jenseits der Sphäre der materiellen Produktion liegt, auch für die unmittelbaren Produzenten erschlossen. Aus dieser Betrachtung folgt weiter, daß erst unter solchen Bedingungen die bewußte Gestaltung der Bedürfnisse und der materiellen Produktion zu einer realisierbaren gesellschaftlichen Zielvorstellung werden kann. Mit anderen Worten: die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung dafür, daß »der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen zu vollziehen.« (MEW 25/828)

Die politische Ökonomie der Arbeit wird in dem Kampf um die Normierung der Arbeitszeit also praktisch wahr. Über die Verkürzung der Arbeitszeit partizipieren auch die subalternen Klassen an der >disposable time< der Gesellschaft, also jenem Zeitkontingent, das nicht von der Notwendigkeit der materiellen Reproduktion absorbiert wird.5 Die gesellschaftlich frei verfügbare Zeit ist - wie der gesellschaftliche Reichtum überhaupt - in der bürgerlichen Gesellschaft höchst einseitig verteilt. Freie Zeit ist aber für die gesellschaftlichen Subjekte Bedingung und Raum ihrer Entwicklung als Individuen. Ganz im Kontrast dazu »(erscheint) der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, als miserable Grundlage« (Grundrisse, 593) eines gesellschaftlichen Lebensprozesses. Der werttheoretische Kern der Arbeitszeitfrage besteht nach Marx mithin in einer angemessenen Proportionierung von Zeit sowohl auf Seiten der Gesellschaft wie auch auf Seiten der Subjekte (vgl. Grundrisse, 89).

Marktgesetze und assoziierte Arbeit

Es geht aber nicht nur um das Erfassen dieses grundlegenden sozialen Konflikts, um die Verteilung der Arbeitszeit und einer geschichtlichen Alternative dazu: die politische Ökonomie der Arbeit um-faßt auch noch Hinweise darauf, daß in der Regulierung der Arbeitszeit eine gesellschaftliche Entwicklungsdimension angelegt ist, die transitorischen Charakter trägt. Marx verweist darauf, daß in den Arbeitskämpfen um die Normierung der Arbeitzeit auch die Leitlinie für die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst deutlich wird. »Der Kampf über die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit wütete um so heftiger, je mehr er abgesehen von aufgeschreckter Habsucht, in der Tat die große Streitfrage betraf, die Streitfrage zwischen der blinden Herrschaft der Gesetze von Nachfrage und Zufuhr, welche die politische Ökonomie der Mittelklasse bildet, und der Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und Vorsicht, welche die politische Ökonomie der Arbeiterklasse bildet.« (MEW 16/11)

Wir sind hier beim theoretisch-politi-schen Kern der Debatte um die Marx-sche Sozialismuskonzeption. In der vorherrschenden Interpretation(6) wird behauptet, daß allein dann von einer Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise gesprochen werden könne, wenn kein Austausch von Produkten in Form von Waren stattfindet, deren Wert auf einem Markt festgestellt wird. Dagegen behauptet Marx zunächst nur, daß die kapitalistische Gesellschaftsformation durch das blinde Wirken der gesellschaftlichen Aggregatkräfte von Nachfrage und Angebot beherrscht wird, die soziale Produktion jenseits des Kapitalismus aber durch soziale Ein- und Vorsicht. Was sind die näheren Bestimmungen einer solchen Ökonomie der assoziierten Produzenten und wie kann der Übergang aus der kapitalistischen Gesellschaftsformation organisiert werden?

Wir kommen damit zum zweiten Baustein einer Sozialismuskonzeption in der Kritik der politischen Ökonomie. Der entscheidende Begriff lautet: die assoziierte Arbeit. Die Forderung nach be-wußter gesellschaftlicher Kontrolle und Regelungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses hat allerdings weder etwas mit einer Außerkraftsetzung der zivilgesellschaftlichen Freiheits- und Bürgerinnenrechte zu tun, noch mit der Absicht, die gesamte Gesellschaft mit einer autoritär-despotischen Fabrikorganisation zu überziehen, wie sie in der kapitalistischen Gesellschaft anzutreffen ist. Die assoziierte Arbeit ist auch keine utopische Tagträumerei. Im Gegenteil, wer der werttheoretischen Durchdringung der ökonomischen Bewegungsgesetze mißtrauisch gegenübersteht, der müßte wie bei der Arbeitszeitverkürzung durch einen zweiten sozialen Tatbestand zum Nachdenken angehalten werden: die Entwicklung einer Genossenschafts- und Kooperativbewegung schon innerhalb des Kapitalismus.

Für Marx zumindest zeigt dies einen »noch größeren Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die politische Ökonomie des Kapitals« an als die Durchsetzung des 10-stündigen Arbeitstages. Die in den Genossenschaften und Kooperativfabriken arbeitenden Menschen sind der Beleg für die assoziierte Arbeit. »Durch die Tat, statt durch Argumente, bewiesen sie, daß Produktion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit dem Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann, ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (masters), die eine Klasse von >Händen< anwendet; daß, um Früchte zu tragen, die Mittel der Arbeit nicht monopolisiert zu werden brauchen als Mittel der Herrschaft über und Mittel der Ausbeutung gegen die Arbeiter selbst, und daß wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenenarbeit so Lohnarbeit nur eine vorübergehende und untergeordnete gesellschaftliche Form ist, bestimmt zu verschwinden vor der assoziierten Arbeit«. (MEW 16/11)

Diese These von der assoziierten Arbeit und damit von Genossenschaften und Kooperativfabriken als Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise durchzieht die gesamten Ausarbeitungsstufen der Kritik der politischen Ökonomie, der sonstigen theoretischen Betrachtungen sowie der politischen Analysen und Stellungnahmen von Marx und Engels in den 60er Jahren. Auch hier liegt der Hauptakzent der Marxschen Argumentation auf gesellschaftlichen Entwicklungsdimensionen:

1. Die politische Ökonomie der Arbeit basiert auf dem Bruch mit vorangegangenen oder zeitgenössischen Utopien. Die politisch-soziale Bewegung der assoziierten Produzenten strebt nicht danach, fix und fertige Utopien zu verallgemeinern oder per Mehrheitsbeschluß in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Es geht also auch nicht um die Verwirklichung von irgendwelchen Idealen. In Anknüpfung an die vorhandenen Übergangsformen und Elemente der kapitalistischen Gesellschaftsformation soll den verschiedenen Formen der assoziierten Arbeit eine neue Entwicklungsdimension eröffnet und schrittweise eine gesellschaftliche Steuerung des gesamtgesellschaftlichen Stoffwechsels durchgesetzt werden.

2. Es ist absurd, die Übergangsformen und die Transformationsperiode daran zu messen, ob das Wertgesetz und seine einfachen Formen wie Ware und Geld bereits aufhoben sind. In der Tat ist der Austausch von lebendiger Arbeit gegen vergegenständlichte, d.h. die Entwicklung des Gegensatzes von Lohnarbeit und Kapital, die letzte Entwicklung des Wertverhältnisses; aber erst durch diese Bewegung des Wertgesetzes verallgemeinern sich Ware und Geld als gesellschaftliche Grundverhältnisse. Eine grundlegende Umwälzung dieser Gesellschaftsformation setzt nicht mit der dekretierten Abschaffung der Grundformen ein; vielmehr muß ausgehend von den Übergangsformen und Steuerungselementen die blinde Herrschaft der Aggregatkräfte der Konkurrenz aufgehoben werden. Die Veränderung des gesellschaftlichen Stoffwechsels und die Etablierung neuer Formen gesellschaftlicher Arbeit, in denen sich die Ökonomie der Arbeit nicht mehr vermittelst der Herrschaft ihres gegenständlichen Ausdrucks ergibt, ist ein längerer Entwicklungspro-zeß. »Die Ersetzung der ökonomischen Bedingungen der Sklaverei der Arbeit durch die Bedingungen der freien und assoziierten Arbeit (kann) nur das progressive Werk der Zeit sein«; die neue, postkapitalistische Gesellschaftsformation erfordert »nicht nur eine Veränderung der Verteilung.., sondern auch eine neue Organisation der Produktion, oder besser die Befreiung (Freisetzung) der gesellschaftlichen Formen der Produktion in der gegenwärtigen organisierten Arbeit (erzeugt durch die gegenwärtige Industrie) von den Fesseln der Sklaverei, von ihrem gegenwärtigen Klassencharakter und ihre harmonische nationale und internationale Koordinierung.« (MEW 17/546) Auf die Überwindung der internationalen Arbeitsteilung und Weltwirtschaftsordnung kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Hervorgehoben werden soll hier, daß »das gegenwärtige spontante Wirken der Naturgesetze des Kapitals und des Grundeigentums nur im Verlauf eines langen Entwicklungsprozesses neuer Bedingungen durch das spontane Wirken der Gesetze der gesellschaftlichen Ökonomie der freien und assoziierten Arbeit ersetzt werden kann« (ebd.).

3. In der politischen Ökonomie der Arbeit wird nicht behauptet, daß eine Befreiung der Formen gesellschaftlicher Arbeit außerhalb und unabhängig von einer Veränderung der Politik erfolgen könne. Im Gegenteil, wie bei der Auseinandersetzung um die Normierung und Verteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeit ist die politisch-staatliche Ebene entscheidend. »Um die arbeitenden Massen zu befreien, bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter und der Föderung durch nationale Mittel. Aber die Herren von Grund und Boden und die Herren von Kapital werden ihre politischen Privilegien stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole. Statt die Emanzipation der Arbeit zu fördern, werden sie fortfahren, ihr jedes mögliche Hindernis in den Weg zu legen.« (MEW 16/12) Ein kurzer Blick auf das real existierende Genossenschafts- und Unternehmenrecht bestätigt, daß hier wirkliche immense Entwicklungshemmnisse aufgetürmt worden sind. Allerdings belegen die Widersprüche auf dem sogenannten Zweiten Arbeitsmarkt, der infolge des raschen Anwachsens der Massenarbeitslosigkeit seit Ende der siebziger Jahre in allen kapitalistischen Metropolen eine immer größere Bedeutung erhält, daß allein durch Betriebs- und Gesellschaftsformen jenseits von Markt und Staat wirksame Fortschritte zu erzielen sind.

Die verbreitete Vorstellung, man könne durch die Genossenschafts-und Kooperativbewegung die bürgerliche Gesellschaft gleichsam unterwandern, wurde von Marx und Engels stets als falsche Orientierung zurückgewiesen. Wie bei der Fixierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse in der Verfassung, der Arbeitszeitregelung, den sozialen Umverteilungsmaßnahmen im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Rente müsse auf einer entsprechenden gesetzlichen Förderungspolitik für Genossenschaften bestanden werden. Entscheidend bleibt dabei, ob die Eigentumsund Besitztitelansprüche auf vergegenständlichte Arbeit und Grundeigentum aufgehoben werden können. Eine genossenschaftliche, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründete Gesellschaft unterstellt eine gesellschaftliche Hegemonie, die sich auch in einer Reihe von Reformen bei der politischen Willensbildung umsetzt. Oder um es anders auszudrücken: es geht auch um die allmähliche Veränderung der mit dem Namen Staat bezeichneten politischen Organisation. Genausowenig wie die Aufhebung der einfachen Grundformen des Werts (Ware und Geld) Ausgangspunkt der sozialen Emanzipation der Arbeit sein kann, genausowenig kann die Umgestaltung mit einer Abschaffung dieser überlieferten politischen Organisation beginnen. Die einschneidenden Änderungen bei dieser Besitzergreifung der politischen Organisation sind bekannt: die Erweiterung der Wahl- und Mitgestaltungsrechte auf alle auf dem nationalen Territorium lebenden Gesellschaftsmitglieder, die Abschaffung aller Formen der Privilegierung der politischen Klasse, die Erweiterung der kommunalen Entscheidungsbefugnisse und die Ausrichtung der nationalen Politik an der öffentlichen Wahrnehmung der allgemeinen gesellschaftlichen Funktionen dieser Gesellschaftsorgansation.

4. Vor weit mehr als einhundert Jahren wurde in der politischen Ökonomie der Arbeit festgehalten, daß die Genossenschaften und die Kooperativfabriken neben dem Kredit- und Finanzsystem die konkreten Übergansgformen der privatkapitalistischen Produktionsweise seien. Das Finanz- und Banksystem eröffnet zum einen die Möglichkeit, über die vielfältigen Formen von Gesellschaftskapital eine Verfügung über den akkumulierten gesellschaftlichen Reichtum durchzusetzen, ohne der strikten Kontrolle des Privateigentums zu unterliegen. Damit wird aber auch die gesellschaftliche Kontrolle und die Möglichkeit einer sozialen Steuerung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses eröffnet. Mit dem Kreditsystem sind die Voraussetzungen und Mittel gegeben »zur allmählichen Ausdehnung der Kooperativunternehmen auf mehr oder minder nationaler Stufenleiter«. (MEGA 4.2, 504) Eine aktuelle Auseinandersetzung mit dieser, der politischen Ökonomie der Arbeit unterliegenden Sozialismuskonzeption, hätte also zu prüfen, ob trotz der massiven Blockierung von Genossenschaften und Kooperativbewegung heute Ansätze für Übergangsformen gegeben sind. Lassen sich also Betriebsund Unternehmensformen befördern, in denen die Profitsteuerung nicht die ausschlaggebende Rolle spielt und verfügt die Gesellschaft nach wie vor über politische und ökonomische Parameter, um an die Stelle der Aggregatkräfte der Konkurrenz eine soziale Steuerung zu etablieren? Nach Marx stellt der Kredit einen solchen ökonomischen Parameter dar,(7) in denen »die Form einer allgemeinen Compatibilität und Vertheilung der Productionsmittel auf gesellschaftlicher Stufenleiter gegeben ist« (MEGA 4.2, 661). Die Marktkoordination muß nicht mehr ausschließlich der naturwüchsigen Zufälligkeit und Anonymität undurchschaubarer Aggregatkräfte überlassen bleiben, sondern über eine gezielte Steu-erungs- und Förderungspolitik läßt sich eine erhöhte Transparenz des Marktgeschehens herstellen. Ebenso müssen nicht alle ökonomischen und sozialkulturellen Lebensbereiche der Profitsteuerung unterworfen werden, sondern die Differenziertheit ökonomischer Subjekte kann durch Ausweitung einer Pluralität nichtkapitalistischer Unternehmensformen erhöht werden.

Unbestreitbar bleibt auch das Problem, daß nur über eine Politik der >Ent-eignung< die genossenschaftlichen Unternehmensformen in Besitz bereits bestehender Produktionsmittel kämen. Mit der Forderung nach der Aufwertung der genossenschaftlichen Strukturen in der gesellschaftlichen Produktion wird der Eigentumsfrage nicht ausgewichen. Wie Engels bereits feststellt, bietet weder das Staatseigentum noch die Übertragung sämtlichen Privateigentums an die Genossenschaften eine Garantie dafür, daß die Befreiung der gesellschaftlichen Formen der Arbeit konfliktfrei verläuft. »Und daß wir beim Übergang in die volle kommunistische Wirtschaft den genossenschaftlichen Betrieb als Mittelstufe in ausgedehntem Maß werden anwenden müssen, daran haben Marx und ich nie gezweifelt. Nur muß die Sache so eingerichtet werden, daß die Gesellschaft, also zunächst der Staat, das Eigentum an den Produktionsmitteln behält und so die Sonderinteressen der Genossenschaft gegenüber der Gesellschaft im ganzen, sich nicht festsetzen können.« (MEW 36, 426)

Eckpunkt der vom Marx und Engels vertretenen Sozialismuskonzeption war also die Verzahnung einer neuen Betriebsverfassung (Genossenschaften, Kooperativfabriken etc.) mit einer gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftssteuerung. Die Herausbildung eines eigenverantwortlichen Produzentenbewußtseins in der demokratisierten Unternehmung und eine gesamtgesellschaftliche Steuerung durch wirtschaftliche Parameter sind die Grundlage für die Schaffnung neuer Lebensverhältnisse, die sich schließlich auch in der Etablierung neuer Zirkulations- und Verkehrsformen niederschlagen können. Die Überwindung der soge-nannten Basismystifikationen, wie sie in den Elementarformen des gesellschaftlichen Reichtums angelegt sind (Ware und Geld), kann niemals Ausgangspunkt, sondern nur Resultat eines komplizierten gesellschaftlichen Transformationsprozesses sein.(8)

Auch innerbetrieblich läßt sich die Sache so einrichten, daß sich nicht zwangsläufig wieder ein borniertes Privateigentümerverhalten gegenüber dem Kooperativunternehmen ausprägt. Mit der Befreiung der Produktionsmittel von ihrem Kapitalcharakter wird eine Stufe der Gesellschaftlichkeit der Arbeit erreicht, auf der »der Besitz des Einzelnen an den Produktionsbedingungen nicht nur als nicht nötig, sondern als unvereinbar mit dieser Produktion auf großer Stufenleiter erscheint.«(MEGA 3.6, 2144) Mit dieser Eigentümerfunktion der Beschäftigten wird also im Gegenteil ermöglicht, daß der Ertrag der gemeinsamen Arbeit nicht nur ausschließlich unter dem Aspekt der Gewinnausschüttung erscheint. Er kann genausogut in der Verkürzung der Arbeitszeit und in der menschenwürdigeren Gestaltung des Arbeitsprozesses liegen.(9)

Wir können somit resümieren: die Genossenschaften und Kooperativfabriken sind sowohl originäres Entwicklungsprodukt des kapitalistischen Fabriksystems und der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt, als auch Übergangsformen in eine assoziierte Produktionsweise. Dieser Transformationsprozeß wird flankiert durch eine veränderte Rolle des Staates und der Politik und durch den mächtigen Hebel des Kreditsystems. Letzteres schafft in Form von Gesellschaftskapital und Aktienunternehmungen ebenso Übergangsformen, die in einem entsprechenden politisch-kulturellen Milieu genossenschaftliche und kooperative Produktionsformen fördern können. In den »Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats« von 1867 thematisiert Marx explizit den engen Zusammenhang von Kooperativgesellschaften und Aktiengesellschaften im Hinblick darauf, wie der Kapitalcharakter der Unternehmungen zugunsten der Stärkung der arbeitenden Subjekte und damit der assoziierten Arbeit zurückgedrängt werden kann. Keine der angesprochenen Übergangsformen wird aber von Marx isoliert gedacht, sondern immer als Momente »im Zusammenhang mit anderen gros-sen, organischen changes der kapitalistischen Produktionsweise selbst« (MEGA 4.2, 662). Von heute aus gesehen müssen darunter z.B. alle Formen sozialstaatlicher Modifikation von Produktion und Konsumtion, von Tertiarisierung und flexibler Automatisierung thematisiert werden. Auch in ihnen müssen Entwicklungstendenzen und Ansatzpunkte für Übergangsformen in die assoziierte Arbeit auszumachen sein.

Werttheoretisch gesprochen besteht die Marxsche Argumentation im Kern also darin, daß auf betrieblicher Ebene die Dominanz des Kapitalfetisch durch die Entwicklungstendenzen der assoziierten Arbeit relativiert werden kann und daß auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Profitsteuerung Spielräume für alternative Regulationsformen zuläßt. Die blinden Aggregatkräfte im Marktgeschehen können durch soziale Steuerung ersetzt werden.

Die Auseinandersetzung über die Aktualität dieses Sozialismuskonzepts kann hier nicht fortgeführt werden. Es bleibt die Frage, weshalb die Position der assoziierten Arbeit in der politischen Entwicklung innerhalb der Arbeiterbewegung kaum eine Rolle spielte?

Gesellschaftliche Steuerung

In der Geschichte der Arbeiterbewegung wurde die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie in erster Linie als Analyse kapitalistischer Ausbeutungsökonomie rezipiert. Aus der Mehrwerttheorie, als der oft einzigen theoretischen Waffe in der politischen Auseinandersetzung, wurden unmittelbare Schlußfolgerungen für politische Forderungen nach gerechteren Verteilungsstrukturen und veränderten Eigentumsverhältnissen gezogen. Mit einem solchen politisch-theoreti-schen Rüstzeug verharrte die Arbeiterbewegung oft in einer einfachen Frontstellung gegenüber dem Kapital und verblieb angesichts der Modernisierungsdynamik des Kapitalismus in einer subalternen Position. Kapitalistische Produk-tivkraftentwicklung, der Motor jeglicher gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und Auslöser für periodisch verdichtete Umwälzungen in der gesamtgesellschaftlichen Betriebsweise, interessierte nur nach der Seite der Ökonomie der lebendigen Arbeit, den repressiven und entfremdenden Auswirkungen auf die Lage der Lohnabhängigen.

Die Sicht auf die weitaus komplexeren Reproduktions- und Steuerungszusammenhänge, in denen sich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eine veränderte Produktivität gesellschaftlicher Arbeit bei Verschiebung von Verteilungsverhältnissen und Ressourcenallokation durch Profit, Zins und Bodenpreis realisiert, blieb ausgeblendet. Bildlich gesprochen verharrte man bei der Rezeption des »Kapital« auf der Ebene des ersten Bandes, wo Marx aber selbst einen folgenreichen Hinweis macht: »Der Gang der Analyse gebietet diese Zerreißung des Gegenstandes, die zugleich dem Geist der kapitalistischen Produktion entspricht.« (MEW 23/344) Die Mehrwertproduktion erschöpft sich eben keineswegs in einer spezifischen Ökonomisierung der lebendigen Arbeit, sondern stellt sich auf der Ebene der Gesamtbetrachtung als profitgesteuerte Kostenökonomie dar, die aus sich heraus weitergehende Selbstregulierungsformen hervorbringt, von denen das Zentralbanksystem von Marx als das »künstlichste und ausgebildetste Produkt, wozu es die kapitalistische Entwicklung überhaupt gebracht hat« (MEGA 4.2/661), charakterisiert wird. Auch auf dieser Ebene läßt sich die transformatorische Aktualität einer veränderten Rolle der »assoziierten Arbeit« belegen.

Die schon lange sich hinziehende Krise des fordistischen Entwicklungsmodells zeigt, daß die anstehende Durchsetzung einer veränderten Effektivität und Rationalität einfach repressiv gegen die lebendige Arbeit historisch kurzsichtig und perspektivlos ist und nur verschärfte Regulierungsprobleme aufwirft. Eine postfordistische Produktionsweise, oder eine gesellschaftliche Betriebsweise, wie sie derzeit unter dem Etikett »lean pro-duction« verhandelt wird, wird nur mit der lebendigen Arbeit, mit den wirklichen Trägern der Wertschöpfung und bei einschneidender Aufwertung ihrer subjektiven Gestaltungsrechte zu haben sein. Dies zieht zwangsläufig eine Diskussion der Unternehmensverfassung und der Pluralität von Eigentumsformen nach sich, was zunächst einmal nichts mit Verstaatlichung und Planung zu tun hat. Marxistischerseits kann vielmehr diese Diskussion um »lean production« als ein Baustein zu einer modernen Sozialismuskonzeption reformuliert werden: Ökologischer Umbau der Industriegesellschaft, ressourcensparende Produktqualität, Gruppenarbeit und Selbstqualifizierung der Beschäftigten sind letztlich nur durch eine weitergehende Emanzipation der assoziierten Arbeit auf betrieblicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene zu haben, ein Entwicklungs-prozeß, dem schon Marx die Qualität »sozialer Ein- und Vorsicht«, aber auch »rüstigen Geist und fröhliches Herz« bescheinigt.

So stellt sich die Aktualität der »assoziierten Arbeit« vom entwickelten Kapitalismus her gesehen dar. Anders die Konstellationen zu Beginn des Jahrhunderts: In einem der schwächsten Glieder der Peripherie der imperialistischen Metropolen Westeuropas, in Rußland, erwies sich die Reform- und Evolutionsfähigkeit der russischen Autokratie als historisch begrenzt und nicht anpassungsfähig. Zaristischer Staat und Bourgeoisie waren für die anstehende kapitalistische Modernisierung nicht hegemoniefähig. Dies markiert die historischen Ausgangsbedingungen des »Staatssozialismus«.

Die Oktoberrevolution von 1917 war zunächst der Versuch, den Zustand der gesellschaftlichen Unterentwicklung abzuschütteln, d.h. aus der Struktur der internationalen Arbeitsteilung auszubrechen. Die zentralen Ziele waren daher: nationale Unabhängigkeit und ökonomische Eigenständigkeit, Modernisierung der Wirtschaft durch Industrialisierung, Veränderung der Sozialstruktur durch Verstädterung und Bildungsrevolution, Sicherung einer höheren Produktivität und Effizienz der Wirtschaft, Beseitigung der katastrophalen Armut und Existenzsicherung für alle. In dieser Entwicklungsperspektive geht es noch nicht um die allmähliche Transformation von Übergangsformen, sondern hier dominiert zunächst überhaupt erst die Entwicklung gesellschaftlicher Arbeit, die dann unter den Bedingungen von ausländischer Intervention und Bürgerkrieg im Kriegskommunismus repressive Züge annahm.

Der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) Mitte 1921 markiert einen ersten historischen Bezugspunkt für eine Diskussion um alternative und moderne Sozialismuskonzeptionen.(10) Die Suchrichtung, in der sich Lenin mit der NÖP bewegte, läßt sich folgendermaßen charakterisieren: Es geht um eine Neubewertung der Genossenschaften und Kooperativfabriken, die Berücksichtigung einer wirtschaftlichen Rechnungsführung, breiter Demokratisierung aller öffentlichen Funktionen und die Ersetzung des revolutionären Enthusiasmus durch persönliche Interessiertheit und materielle Interessen. In dem Maße, wie die NÖP aus einer Rückzugsposition zu einer langfristigen Transformationskonzeption wird, avancieren auch die Genossenschaften, die bisher als »kleinbürgerliche Organisationen im Rahmen des Staatskapitalismus« galten, zu einem wichtigen Instrument für einen schrittweisen Übergang zu einer entwickelteren und höheren Gesellschaftlichkeit der Produktion. Die Genossenschaftskonzeption des späten Lenin stellt ein Element eines umfassenderen Reformprojekts dar, das von der Hebung des kulturellen Niveaus der Bauernschaft bis zur Umstrukturierung des administrativen und politischen Apparates reicht.

Damit waren im Transformationskonzept der NÖP (neben anderen Elementen) wesentliche Bausteine einer Sozialismuskonzeption angelegt, wie sie Marx bei der Emanzipation der assoziierten Arbeit skizzierte. Genossenschaften und Kooperativen stellen keine gesellschaftlichen Inseln dar, sondern sind über eine Reform der politischen Form des Gemeinwesens und über Bereitstellung finanzieller und materieller Transfers in ein verändertes gesamtgesellschaftliches kulturelles Milieu eingebunden. Es ist kein Zufall, daß der sich mit dem Scheitern der NÖP durchgesetzte staatssozialistische Aufbau diese Elemente negierte: Die Genossenschaften blieben immer als Träger des kleinbürgerlichen Opportunismus verdächtigt und konnten damit die gesellschaftlichen Potenzen der assoziierten Arbeit nicht entfalten. Als potentielle Marktsubjekte wurden sie immer wieder als Rückzug vor der vollständigen Abschaffung kapitalistischer Marktverhältnisse angesehen.

Entgegen der Marxschen Intention, den Staat in einem langwierigen Reformprozeß in die Gesellschaft zurückzunehmen, wird die politische Form des Gemeinwesens in der staatssozialistischen Entwicklungskonzeption zum Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaftsgestaltung. »Die Theorie von der allmählichen Aufhebung des Staates ist eine verhängnisvolle Theorie« soll Stalin 1923 über Lenins Thesen gesagt haben. Die Beziehungen der potentiellen Träger des assoziierten Arbeit untereinander wurden damit gesamtgesellschaftlich mit staatlichen »Tributbeziehungen« überlagert und deformiert.

Alle ökonomischen Reformprojekte in der Geschichte der staatssozialistischen Länder schreckten vor der Etablierung eines zweistufigen Banksystems zurück. Alle Kreditbeziehungen sollten vom Staat ausgehen. Damit wurde das Steuerungspotential für Ressourcenallokation, das Marx dem Kredit ausdrücklich -noch diesseits aller parasitären Strukturen - attestiert, unterschlagen. Eine zentrale Intention der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie - nämlich die der Regulierung und Steuerung ökonomischer Prozesse - wurde für eine werttheoretisch fundierte Sozialismuskonzeption nicht genutzt. Antonio Gramsci brachte sie schon wenige Jahre nach Beginn der hinter uns liegenden Periode der Systemauseinandersetzung auf den Punkt: »Marx leitet intellektuell eine Geschichtsepoche ein, die vermutlich Jahrhunderte dauern wird, nämlich bis zum Verschwinden der politischen Gesellschaft und dem Aufkommen der regulierten Gesellschaft.« (Gramsci).(11)

Anmerkungen

1) Der Versuch der Benennung und schrittweisen Aufarbeitung dieser Defizite wurde von verschiedener Seite unternommen in: F. Deppe, S. Kebir u.a., Eckpunkte moderner Kapitalismuskritik, Hamburg 1991; Siehe auch: Ch. Lieber, Modernisierung, Demokratie, Marxismus, in: Sozialismus 11-1991, S. 27ff.

2) Wir haben uns vor allem auf die Weiterführumi der theoretischen und politischen Positionsbestimmungen auf zwei Feldern bemüht: des Verhältnisse: von Marktwirtschaft und Sozialismus und der Entwicklung der Zivilgesellschaft im entwickelten Kapitalismus und ihre Bedeutung für eine post-staats-sozialistische Sozialismuskonzeption. Siehe hierzu: J. Bischoff/M. Menard, Marktwirtschaft und Sozialismus. Der Dritte Weg, Hamburg 1990; J. Bischof] Zivilgesellschaft und Sozialismus. Zur Fragilität dei Zivilgesellschaft im Kapitalismus, in: Sozialismus 10/1991, S. 25ff.

3) Wir werden uns hiermit in einer im Herbst erscheinenden Interpretation ausführlich auseinandersetzen: J. Bischoff/A. Otto, Der Dritte Band des »Kapital«, Hamburg 1993; Zu den Ursachen des Scheiterns des »Realsozialismus« siehe: Ch. Lieber: Bilanz des Sozialismus, in: Sozialismus 6-1992, S. 58ff.; zum Scheitern der Gorbatschowschen Reform siehe J. Bischoff, Warum ist die »zweite russische Revolution« gescheitert?, in: ebd, S. 49ff.

4) G. Fülberth, Eröffnungsbilanz des gesamtdeutschen Kapitalismus. Vom Spätsozialismus zur nationalen Restauration, Hamburg 1993, S. 76

5) Der Zusammenhang der verschiedenen Stufen der Reichtumsverteilung und die darauf gründende Klassenstruktur der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft ist theoretisch und empirisch ausgeführt in: J. Bischoff u.a., Jenseits der Klassen? Gesellschaft und Staat im Spätkapitalismus, Hamburg 1982

6) Vgl. Fülberth, a.a.O., S. 67

7) Vgl. hierzu näher: J. Bischoff, Die Wirklichkeit ist anders... Über den Zusammenhang von Kapitalismuskritik und Sozialismuskonzeption, in: Sozialismus 7/1990, S. 25ff.

8) J. Bischoff/Ch. Lieber/A. Otto, Fetischismus und Entfremdung in der Kritik der Politischen Ökonomie, in: Sozialismus 11/1988, S. 29ff.

9) Vgl. Bischoff/Menard, Marktwirtschaft und Sozialismus, a.a.O., insbesondere Kapitel 3: Kapitalmystifikation und Eigentumsfrage

10) Dies ist ausgeführt in: ebd., Kapitel 2: Neue Ökonomische Politik und Perestroika

11) A. Gramsci, Gefängnishefte Band 4, Hefte 6 bis 7, Hamburg 1992, S, 888

Editorische Hinweise

Wir entnahmen den Text der Zeitschrift Sozialismus 7-8/93, Hamburg 1993,  Seite 62-68.

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