Der Staatssozialismus,
der sich im Gefolge der Oktoberrevolution 1917 in der
Sowjetunion und nach 1945 in der DDR und anderen
osteuropäischen Ländern als historische
Entwicklungsvariante durchgesetzt hatte, verkörpert
keineswegs den Durchschnittstypus einer nachbürgerlichen
Gesellschaftsformation. Allein schon an dem kritischen
Verhältnis von Staat (politischer Form des Gemeinwesens)
zum eigentlichen gesellschaftlichen Reproduktions-und
Lebensprozeß läßt sich verdeutlichen, daß in der
Arbeiterbewegung eine andere Zielvorstellung
vorherrschend war. Es läßt sich daher auch nicht
wegdiskutieren, daß zwischen den politisch-theoretischen
Konzeptionen einer sozialistischen Gesellschaft - wie
sie in programmatischen Dokumenten und theoretischen
Begründungen vertreten wurden - und dem historisch
realisierten Staatssozialismus mannigfache
Spannungsverhältnisse existierten.M-L: Inmitten
der Systemkonkurrenz
Lange Zeit wurden die mehr oder minder krassen
Abweichungen von den politischen Zielsetzungen als
unvermeidliche oder vorübergehende Unzulänglichkeiten
interpretiert, die dem konkret-geschicht-lichen
Kräftverhältnis zugeordnet werden müßten. Nach der
Ausweitung des sozialistischen Lagers infolge der
Niederlage des Faschismus und der Zerstörung der
Kolonialreiche der kapitalistischen Metropolen setzte
sich die Auffassung durch, daß die Zielorientierungen
von einer sozialistischen Gesellschaftsformation
entweder nicht hinreichend begründet oder aber dem
unzureichenden Entwicklungsstand der historisch-sozialen
Wissenschaften geschuldet seien.
Von den führenden Ideologen in den
staatssozialistischen Gesellschaften wurde davon
ausgegangen, daß die Revolution von 1917 einen
weltgeschichtlichen Knotenpunkt markierte, mit dem der
bürgerlich-kapitalistischen Welt ein anderes
politisch-gesellschaftliches Prinzip und System
historisch entgegengetreten war. Letzteres galt es
systematisch in diversen Theorien des Sozialismus und
Kommunismus, in Lehrbüchern seiner politischen Ökonomie,
in voluminösen Staats- und Rechtstheorien sowie in einer
Flut von M-L-Philosophien durchzu-buchstabieren. Mit
diesem ideologischen Aufwand sollte zugleich der Graben
zwischen sozialistischem Ideal und staatssozialistischer
Wirklichkeit überbrückt werden. Doch wie auch die
Konstruktionen aussahen, sie trugen allesamt nicht; die
theoretischen Reflexionen verloren mehr und mehr ihren
wissenschaftlichen Charakter. Mit der Zerstörung des
Realsozialismus verschwanden schließlich blitzartig auch
die verschiedenen lebensfremden Konstruktionen des
Marxismus-Leninismus. Der historisch folgenreiche
Versuch der Bolschewisierung der theoretisch-politischen
Positionen von Marx und Lenin, wie er von einer
skrupellosen Parteibürokratie in der zweiten Hälfte der
zwanziger Jahre durchgesetzt wurde, hatte zu einer
Niederlage mit welthistorischen Ausmaßen geführt.
Aber auch kritische Gegenpositionen - vor allem im
westlichen Marxismus -waren nicht immer frei davon,
einen solchen Anspruch auf prinzipiellen Systemcharakter
ihrer politisch-theoretischen Alternative für sich zu
behaupten. Der Sozialismus wurde aus einer sozialen
Entwicklungstendenz in der modernen bürgerlichen
Gesellschaft in mehr oder weniger abgehobene
politisch-theoreti-sche Systementwürfe verwandelt. In
diesem Vorgang spiegelt sich die weltgeschichtliche
Konstellation der System-auseinandersetzung von
Kapitalismus und Sozialismus.
Standpunktlogik
Die Existenz eines sozialistischen Lagers und die
dominante dogmatische Strömung in der kommunistischen
Weltbewegung bildeten ein Bezugssystem, das
Kapitalismuskritik mehr oder weniger mit einer
Parteinahme für den »Realsozialismus« verknüpfte. Gerade
in den siebziger Jahren, als es unter
sozialdemokratischer Hegemonie in den westlichen
Metropolen zu einer kurzzeitigen Renaissance des
Marxismus und einer gesellschaftlichen Aufwertung von
sozialistischen Strömungen - auch jenseits des
Parteikommunismus - kam, waren Diskussionen um eine
originär marxistische Sozialismuskonzeption
unterschwellig immer von der Systemauseinandersetzung
und einer entsprechenden »Standpunktlogik« durchzogen.
Die durch die wirklichen Kräfteverhältnisse erzwungene
Positionsbestimmung zum realen Staatssozialismus prägte
auf verschiedene Weise die Kapitalismuskritik und den
Antikapitalismus der kommunistischen und sozialistischen
Linken: Im einen Extrem wurde die Parteinahme für den
Realsozialismus zur Voraussetzung
der Kapitalismuskritik gemacht, im anderen Extrem die
Kritik an der Sowjetunion zum Eintrittsbillett einer
wirklich antikapitalistischen Haltung erhoben. In beiden
Fällen wurde der innere Zusammenhang von immanenter
marxistischer Kapitalismusanalyse und
Sozialismuskonzeption durch Spielarten »proletarischer
Standpunktlogik« ersetzt.
In der Bundesrepublik erlangte die »Standpunktlogik«
zeitweilig philosophischen Rang. In der Zeitschrift
»Argument« wurde zu Beginn der 70er Jahre eine
Diskussion zu »Fragen der marxistischen Theorie«
eröffnet; der Philosoph W.F. Haug, der später eine
philosophische Fundierung von Gorbatschows
Perestroika-Politik und eine Pluralisie-rung des
Marxismus versuchte, steckte damals in seinem
Habilitationsvortrag die Grenzen für eine Kritik der
politischen Ökonomie vollständig neu ab. Mit der
»Bedeutung von Standpunkt und sozialistischer
Perspektive für die Kritik der politischen Ökonomie«
(1972) wurde eine theoretische Fundierung für
»proletarische Standpunktlogik« geliefert, die etwa für
die Ausarbeitung der kritischen Psychologie und die
Begründung studentischer Interessenpolitik im
Wissenschaftssektor wichtige Impulse freisetzte. Aus der
Marxschen »Kritik der Politischen Ökonomie« wurde ein
Verfahren »transsozialer Relativierung« von
Gesellschaftsformationen herausgelesen, d.h. »eine
Schlüsselfunktion der sozialistischen Perspektive für
die Kritik der politischen Ökonomie« proklamiert. Das
Begründungsverhältnis war damit auf den Kopf gestellt;
eine kritische Analyse und eine entsprechende
theoretische Durchdringung der bürgerlichen Gesellschaft
war selbst an eine sozialistische Perspektive geknüpft.
Auch die Linke oder die verschiedenen Strömungen des
westlichen Marxismus waren sich keineswegs einig über
den theoretischen und politischen Status und Charakter
der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in Bezug
auf den Transformationsprozeß der bürgerlichen
Gesellschaft. Man geriet in der innerlinken
Auseinandersetzung allzuschnell an den Punkt, sich um
hinreichende und notwendige Bedingungen einer
sozialistischen Gesellschaftsformation zu streiten:
Existenz oder Abschaffung von Ware-Geld-Beziehungen,
Staatseigentum/Räte, Plan/Markt etc. Die marxistische
Analyse der Entwicklungstendenzen einer höheren
Gesellschaftlichkeit innerhalb des Kapitalismus
blieb letztlich unterbelichtet, wie ja insgesamt die
Dynamik und Elastizität, aber auch Krisenhaftigkeit des
Kapitalismus unzulänglich eingeschätzt wurde.(1)
Man könnte nun erwarten, daß mit dem Zusammenbruch
des Staatssozialismus und dem Ende der Systemkonkurrenz
eine erneuerte und von Parteinahmi unbelastete Lektüre
der Klassiker ansteht.(2) Zwei Reaktionsweisen sind
jedoch vorherrschend: Zum einen wird nun die
gescheiterte staatssozialistische Entwicklungskonzeption
den Klassikern in die Schuhe geschoben. Die
weltgeschichtliche Mission des Proletariats, die Rolle
der Partei und das Staatseigentum seien bei ihnen
vorgedacht. Auf der anderen Seite wird behauptet, bei
Marx und Engels fände sich überhaupt keine
Sozialismuskonzeption. Und nicht nur dies. Das gesamte
arbeitswerttheoretische Fundament der Kritik der
politischen Ökonomie erweise sich als unhalt bar.
Einerseits habe sich der moderne Kapitalismus von der
Regulierung und Strukturierung durch die Verteilung
gesellschaftlicher Arbeit emanzipiert. Daher sei auch
andererseits der historische Versuch, diese Verteilung
gesellschaftlicher Arbeit zu planen, von vornherein zum
Scheitern verurteilt gewesen.(3)
In beiden Positionen ist das Selbstver ständnis von
Marx verfehlt. In seinen Augen haben Sozialisten »sich
nur Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren
Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen.«
Marx verortet den sozialen Denkprozeß der Dechiffrierung
der kapitalistischen Produktionsweise und
damit seine eigene intellektuelle Rolle in einem
historisch spezifischen Entwicklungsstand der
bürgerlichen Gesellschaft: »Von diesem Augenblick an
wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der
historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär
zu sein, sie ist revolutionär geworden.« (MEW 4/ 143).
Dieses Sozialismusverständnis von Marx soll im folgenden
skizziert werden.
Zurück zu Marx
Karl Marx war ein Mann der Wissenschaft. Er konnte
sich, wie Engels berichtete, gleichermaßen begeistern an
irgendeiner theoretischen Einsicht, deren praktische
Relevanz noch nirgends in Sicht war, wie an einer
Erkenntnis, die »sofort revolutionär eingriff in die
Industrie, in die geschichtliche Entwicklung überhaupt.«
Sein eigentliches Anliegen war freilich »der Kampf für
die Befreiung der Klasse der Lohnarbeiter von den
Fesseln des modernen kapitalistischen Systems der
Produktion« (MEW 19/ 336). Ein wesentlicher
Entwicklungsschritt in dem Prozeß, den Lohnabhängigen
zum Bewußtsein ihrer eigenen Lage und der Bedingungen
ihrer sozialen Emanzipation zu verhelfen, war die
Gründung und das Mitwirken an der Internationalen
Arbeiterassoziation.
In dem von Marx verfaßten Gründungsdokument der IAA
im Jahre 1864 findet sich eine nüchterne und
illusionslose Einschätzung von gesellschaftlichem
Bewußtsein und politischem Willen der Lohnabhängigen in
den kapitalistischen Metropolen jener Zeit. Denn in den
Jahrzehnten vor der Gründung der Arbeiterassoziation war
die bürgerliche Hegemonie unangefochten. »Alle Versuche,
die Chartistenbewegung aufrechtzuerhalten oder neu zu
gestalten, scheiterten vollständig, alle Presseorgane
der Arbeiterklasse starben, eines nach dem anderen, an
der Apathie der Masse, und in der Tat, nie zuvor schien
die englische Arbeiterklasse so ausgesöhnt mit einem
Zustand politischer Nichtigkeit.« (MEW 16/10) Diese
politische Subalternität wurde von den kritischen
Zeitgenossen als besonders drückend empfunden, weil sich
der naive Fortschrittsglaube längst als illusionär
entlarvt hatte. Die Hoffnungen auf eine Verbesserung der
Lebenslage hielt die große Mehrheit der Lohnabhänigen in
Bann. Bei einigermaßen unvoreingenommer Betrachtung
stand dennoch fest, »daß keine Entwick-
lung der Maschinerie..., keine Verbesserung der
Kommunikationsmittel, keine neuen Kolonien, keine
Auswanderung, keine Eröffnung von Märkten, kein Frei
handel, noch all diese Dinge zusammengenommen das Elend
der Massen beseitigen können, sondern daß vielmehr
umgekehrt auf der gegenwärtigen falschen Grundlage, jede
frische Entwicklung dei Produktivkräfte der Arbeit dahin
streben muß, die sozialen Kontraste zu vertiefen und den
sozialen Gegensatz zuzuspitzen.« (MEW 16/9)
Genau besehen hätte diese niederdrük kende
Konstellation schon damals genuj Anlaß geboten, der
neuerdings populäre] Besserwisserei zu folgen. Was
sollte angesichts dieses krassen Auseinanderfal-lens von
objektiver sozialer Lage und gesellschaftlichem
Bewußtsein noch der hartnäckige Versuch einer
werttheoretischen Aufschlüsselung der gesamten
kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die sogenannte
»Arbeitswertlehre« hatte sich im Grundsatz doch bereits
bei der Analyse des vormonopolistischen Kapitalismus
blamiert; der grandios gescheiterte Versuch des
Realsozialismus, »ge-meinwirtschaftliche Vorstellungen
unter Anwendungen eines Theoriestandards, wie er mit der
klassischen Arbeitswertlehre und deren durch Marx
vorgenommer immanenter Kritik erreicht worden war, zu
verwirklichen« (Fülberth),(4) wäre uns erspart
geblieben.
Marx hingegen sah die Kritik der politischen Ökonomie
durch zwei praktische Eingriffe in die reale
geschichtliche Entwicklung längst aus dem Status einet
rein theoretischen Erkenntnis herausgehoben: erstens
durch die gesellschaftliche Regulierung der Arbeitszeit,
und zweitens durch die Entwicklung von Formen
assoziierter Arbeit in der Kooperativ- und
Genossenschaftsbewegung.
Kampf um Arbeitszeit: das Prinzip
Zum ersten Punkt bemerkt Marx: der erfolgreiche Kampf
um die Einführung de Zehnstunden-Arbeitstages war »nicht
bloß eine große praktische Errungenschaft, sie war der
Sieg eines Prinzips. Zum erstenmal erlag die politische
Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der
politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.« (MEW 16/11)
Warum kann Marx den Kampf um den Normalarbeitstag als
empirischen Beweis für die politische Ökonomie der
Arbeit nehmen und welche Schlußfolgerungen für die
Sozialismuskonzeption ergeben sich daraus? Jede
Betrachtung der kapitalistischen Marktwirtschaft muß zu
dem Schluß kommen, daß sich aus den Gesetzen des
Warenaustauschs keine Begründung für die konkreten
Grenzen des gesellschaftlichen Arbeitstages entwik-keln
läßt. Gleich ob nun an der weittheoretischen Fundierung
der Ökonomie festgehalten wird oder nicht, an der
Tatsache, daß die jeweilige Festsetzung eines
Normalarbeitstages das Ergebnis einer konfliktreichen
sozialen Auseinandersetzung ist, kommt kein Ökonom
vorbei. Gerade wenn man auf die Wettbewerbsfähigkeit und
die Konkurrenzvorteile schielt, steht fest, daß das
Kapital rücksichtlos gegen Gesundheit und Lebensdauer
der Lohnabhängigen ist und allein durch das
gesellschaftliche Kräfteverhältnis via Staatsgesetz und
Kontrolle zur Einhaltung einer Arbeitszeitregelung
gezwungen wird. Auch durch die Tarifautonomie allein ist
die Struktur einer gesellschaftlichen
Arbeitszeitregelung nicht sicherzustellen. Da
Arbeitsproduktivität und Arbeitsintensität sich in der
kapitalistischen Entwicklung verändern, bleibt die
Auseindersetzung um die Arbeitszeit zudem ein
permanenter Konfliktherd. Marx spricht anläßlich der
gesetzlichen Fixierung der zehnstündigen Arbeitszeit von
einem praktischen Sieg des Prinzips der Kritik der
politischen Ökonomie oder der politischen Ökonomie der
Arbeiterklasse. Über die werttheoretische Betrachtung
des Austauschs von Kapital und Arbeit kommt man zu dem
Schluß, daß hier eine »Antinomie« stattfindet, »Recht
wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des
Warenaustauschs besiegelt. Zwischen gleichen Rechten
entscheidet Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte
der kapitalistischen Produktion die Normierung des
Arbeittages als Kampf um die Schranken des Arbeitstages
dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h.
der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter,
oder der Arbeiterklasse.« (MEW 23/249)
Auch eine politische Ökonomie, die ganz im Banne der
Sicherung der Konkurrenzfähigkeit und des
Wirtschaftsstandorts des nationalen Kapitals steht, wird
einräumen müssen, daß mit der Arbeitszeitregelung nicht
nur eine gesellschaftliche Verteilung der Arbeit
vorgenommen wird, sondern daß über die verschiedenen
Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes der Lebensrhythmus
einer modernen Industriegesellschaft geregelt wird
(Sonntagsarbeit, Schichtarbeit, Jahresarbeitszeit und
Lebensarbeitszeit). Für die politische Ökonomie der
Arbeit sind bei der Arbeitszeit nicht nur die
zivilisatorischen Auswirkungen der verbesserten
Reichtumsproduktion auf die Lebenslage der
Lohnabhängigen wichtig; tendenziell l wird mit
einer solchen Politik das Reich ; der Freiheit, das
jenseits der Sphäre der materiellen Produktion liegt,
auch für die unmittelbaren Produzenten erschlossen. Aus
dieser Betrachtung folgt weiter, daß erst unter solchen
Bedingungen die bewußte Gestaltung der Bedürfnisse und
der materiellen Produktion zu einer realisierbaren
gesellschaftlichen Zielvorstellung werden kann. Mit
anderen Worten: die Verkürzung des Arbeitstages ist die
Grundbedingung dafür, daß »der vergesellschaftete
Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren
Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre
gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als
einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem
geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer
menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten
Bedingungen zu vollziehen.« (MEW 25/828)
Die politische Ökonomie der Arbeit wird in dem Kampf
um die Normierung der Arbeitszeit also praktisch wahr.
Über die Verkürzung der Arbeitszeit partizipieren auch
die subalternen Klassen an der >disposable time< der
Gesellschaft, also jenem Zeitkontingent, das nicht von
der Notwendigkeit der materiellen Reproduktion
absorbiert wird.5 Die gesellschaftlich frei verfügbare
Zeit ist - wie der gesellschaftliche Reichtum überhaupt
- in der bürgerlichen Gesellschaft höchst einseitig
verteilt. Freie Zeit ist aber für die gesellschaftlichen
Subjekte Bedingung und Raum ihrer Entwicklung als
Individuen. Ganz im Kontrast dazu »(erscheint) der
Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige
Reichtum beruht, als miserable Grundlage« (Grundrisse,
593) eines gesellschaftlichen Lebensprozesses. Der
werttheoretische Kern der Arbeitszeitfrage besteht nach
Marx mithin in einer angemessenen Proportionierung von
Zeit sowohl auf Seiten der Gesellschaft wie auch auf
Seiten der Subjekte (vgl. Grundrisse, 89).
Marktgesetze und assoziierte Arbeit
Es geht aber nicht nur um das Erfassen dieses
grundlegenden sozialen Konflikts, um die Verteilung der
Arbeitszeit und einer geschichtlichen Alternative dazu:
die politische Ökonomie der Arbeit um-faßt auch noch
Hinweise darauf, daß in der Regulierung der Arbeitszeit
eine gesellschaftliche Entwicklungsdimension angelegt
ist, die transitorischen Charakter trägt. Marx verweist
darauf, daß in den Arbeitskämpfen um die Normierung der
Arbeitzeit auch die Leitlinie für die Umgestaltung der
gesellschaftlichen Verhältnisse selbst deutlich wird.
»Der Kampf über die gesetzliche Beschränkung der
Arbeitszeit wütete um so heftiger, je mehr er abgesehen
von aufgeschreckter Habsucht, in der Tat die große
Streitfrage betraf, die Streitfrage zwischen der blinden
Herrschaft der Gesetze von Nachfrage und Zufuhr, welche
die politische Ökonomie der Mittelklasse bildet, und der
Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und
Vorsicht, welche die politische Ökonomie der
Arbeiterklasse bildet.« (MEW 16/11)
Wir sind hier beim theoretisch-politi-schen Kern der
Debatte um die Marx-sche Sozialismuskonzeption. In der
vorherrschenden Interpretation(6) wird behauptet, daß
allein dann von einer Überwindung der kapitalistischen
Produktionsweise gesprochen werden könne, wenn kein
Austausch von Produkten in Form von Waren stattfindet,
deren Wert auf einem Markt festgestellt wird. Dagegen
behauptet Marx zunächst nur, daß die kapitalistische
Gesellschaftsformation durch das blinde Wirken der
gesellschaftlichen Aggregatkräfte von Nachfrage und
Angebot beherrscht wird, die soziale Produktion jenseits
des Kapitalismus aber durch soziale Ein- und Vorsicht.
Was sind die näheren Bestimmungen einer solchen Ökonomie
der assoziierten Produzenten und wie kann der Übergang
aus der kapitalistischen Gesellschaftsformation
organisiert werden?
Wir kommen damit zum zweiten Baustein einer
Sozialismuskonzeption in der Kritik der politischen
Ökonomie. Der entscheidende Begriff lautet: die
assoziierte Arbeit. Die Forderung nach be-wußter
gesellschaftlicher Kontrolle und Regelungen des
gesellschaftlichen Produktionsprozesses hat allerdings
weder etwas mit einer Außerkraftsetzung der
zivilgesellschaftlichen Freiheits- und Bürgerinnenrechte
zu tun, noch mit der Absicht, die gesamte Gesellschaft
mit einer autoritär-despotischen Fabrikorganisation zu
überziehen, wie sie in der kapitalistischen Gesellschaft
anzutreffen ist. Die assoziierte Arbeit ist auch keine
utopische Tagträumerei. Im Gegenteil, wer der
werttheoretischen Durchdringung der ökonomischen
Bewegungsgesetze mißtrauisch gegenübersteht, der müßte
wie bei der Arbeitszeitverkürzung durch einen zweiten
sozialen Tatbestand zum Nachdenken angehalten werden:
die Entwicklung einer Genossenschafts- und
Kooperativbewegung schon innerhalb des Kapitalismus.
Für Marx zumindest zeigt dies einen »noch größeren
Sieg der politischen Ökonomie der Arbeit über die
politische Ökonomie des Kapitals« an als die
Durchsetzung des 10-stündigen Arbeitstages. Die in den
Genossenschaften und Kooperativfabriken arbeitenden
Menschen sind der Beleg für die assoziierte Arbeit.
»Durch die Tat, statt durch Argumente, bewiesen sie, daß
Produktion auf großer Stufenleiter und im Einklang mit
dem Fortschritt moderner Wissenschaft vorgehen kann,
ohne die Existenz einer Klasse von Meistern (masters),
die eine Klasse von >Händen< anwendet; daß, um Früchte
zu tragen, die Mittel der Arbeit nicht monopolisiert zu
werden brauchen als Mittel der Herrschaft über und
Mittel der Ausbeutung gegen die Arbeiter selbst, und daß
wie Sklavenarbeit, wie Leibeigenenarbeit so Lohnarbeit
nur eine vorübergehende und untergeordnete
gesellschaftliche Form ist, bestimmt zu verschwinden vor
der assoziierten Arbeit«. (MEW 16/11)
Diese These von der assoziierten Arbeit und damit von
Genossenschaften und Kooperativfabriken als
Übergangsformen aus der kapitalistischen
Produktionsweise durchzieht die gesamten
Ausarbeitungsstufen der Kritik der politischen Ökonomie,
der sonstigen theoretischen Betrachtungen sowie der
politischen Analysen und Stellungnahmen von Marx und
Engels in den 60er Jahren. Auch hier liegt der
Hauptakzent der Marxschen Argumentation auf
gesellschaftlichen Entwicklungsdimensionen:
1. Die politische Ökonomie der Arbeit basiert auf dem
Bruch mit vorangegangenen oder zeitgenössischen Utopien.
Die politisch-soziale Bewegung der assoziierten
Produzenten strebt nicht danach, fix und fertige Utopien
zu verallgemeinern oder per Mehrheitsbeschluß in die
gesellschaftliche Praxis umzusetzen. Es geht also auch
nicht um die Verwirklichung von irgendwelchen Idealen.
In Anknüpfung an die vorhandenen Übergangsformen und
Elemente der kapitalistischen Gesellschaftsformation
soll den verschiedenen Formen der assoziierten Arbeit
eine neue Entwicklungsdimension eröffnet und
schrittweise eine gesellschaftliche Steuerung des
gesamtgesellschaftlichen Stoffwechsels durchgesetzt
werden.
2. Es ist absurd, die Übergangsformen und die
Transformationsperiode daran zu messen, ob das
Wertgesetz und seine einfachen Formen wie Ware und Geld
bereits aufhoben sind. In der Tat ist der Austausch von
lebendiger Arbeit gegen vergegenständlichte, d.h. die
Entwicklung des Gegensatzes von Lohnarbeit und Kapital,
die letzte Entwicklung des Wertverhältnisses; aber erst
durch diese Bewegung des Wertgesetzes verallgemeinern
sich Ware und Geld als gesellschaftliche
Grundverhältnisse. Eine grundlegende Umwälzung dieser
Gesellschaftsformation setzt nicht mit der dekretierten
Abschaffung der Grundformen ein; vielmehr muß ausgehend
von den Übergangsformen und Steuerungselementen die
blinde Herrschaft der Aggregatkräfte der Konkurrenz
aufgehoben werden. Die Veränderung des
gesellschaftlichen Stoffwechsels und die Etablierung
neuer Formen gesellschaftlicher Arbeit, in denen sich
die Ökonomie der Arbeit nicht mehr vermittelst der
Herrschaft ihres gegenständlichen Ausdrucks ergibt, ist
ein längerer Entwicklungspro-zeß. »Die Ersetzung der
ökonomischen Bedingungen der Sklaverei der Arbeit durch
die Bedingungen der freien und assoziierten Arbeit
(kann) nur das progressive Werk der Zeit sein«; die
neue, postkapitalistische Gesellschaftsformation
erfordert »nicht nur eine Veränderung der Verteilung..,
sondern auch eine neue Organisation der Produktion, oder
besser die Befreiung (Freisetzung) der
gesellschaftlichen Formen der Produktion in der
gegenwärtigen organisierten Arbeit (erzeugt durch die
gegenwärtige Industrie) von den Fesseln der Sklaverei,
von ihrem gegenwärtigen Klassencharakter und ihre
harmonische nationale und internationale Koordinierung.«
(MEW 17/546) Auf die Überwindung der internationalen
Arbeitsteilung und Weltwirtschaftsordnung kann in diesem
Zusammenhang nicht eingegangen werden. Hervorgehoben
werden soll hier, daß »das gegenwärtige spontante Wirken
der Naturgesetze des Kapitals und des Grundeigentums nur
im Verlauf eines langen Entwicklungsprozesses neuer
Bedingungen durch das spontane Wirken der Gesetze der
gesellschaftlichen Ökonomie der freien und assoziierten
Arbeit ersetzt werden kann« (ebd.).
3. In der politischen Ökonomie der Arbeit wird nicht
behauptet, daß eine Befreiung der Formen
gesellschaftlicher Arbeit außerhalb und unabhängig von
einer Veränderung der Politik erfolgen könne. Im
Gegenteil, wie bei der Auseinandersetzung um die
Normierung und Verteilung der gesellschaftlichen
Arbeitszeit ist die politisch-staatliche Ebene
entscheidend. »Um die arbeitenden Massen zu befreien,
bedarf das Kooperativsystem der Entwicklung auf
nationaler Stufenleiter und der Föderung durch nationale
Mittel. Aber die Herren von Grund und Boden und die
Herren von Kapital werden ihre politischen Privilegien
stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung
ihrer ökonomischen Monopole. Statt die Emanzipation der
Arbeit zu fördern, werden sie fortfahren, ihr jedes
mögliche Hindernis in den Weg zu legen.« (MEW 16/12) Ein
kurzer Blick auf das real existierende Genossenschafts-
und Unternehmenrecht bestätigt, daß hier wirkliche
immense Entwicklungshemmnisse aufgetürmt worden sind.
Allerdings belegen die Widersprüche auf dem sogenannten
Zweiten Arbeitsmarkt, der infolge des raschen Anwachsens
der Massenarbeitslosigkeit seit Ende der siebziger Jahre
in allen kapitalistischen Metropolen eine immer größere
Bedeutung erhält, daß allein durch Betriebs- und
Gesellschaftsformen jenseits von Markt und Staat
wirksame Fortschritte zu erzielen sind.
Die verbreitete Vorstellung, man könne durch die
Genossenschafts-und Kooperativbewegung die bürgerliche
Gesellschaft gleichsam unterwandern, wurde von Marx und
Engels stets als falsche Orientierung zurückgewiesen.
Wie bei der Fixierung gesellschaftlicher
Kräfteverhältnisse in der Verfassung, der
Arbeitszeitregelung, den sozialen Umverteilungsmaßnahmen
im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Rente
müsse auf einer entsprechenden gesetzlichen
Förderungspolitik für Genossenschaften bestanden werden.
Entscheidend bleibt dabei, ob die Eigentumsund
Besitztitelansprüche auf vergegenständlichte Arbeit und
Grundeigentum aufgehoben werden können. Eine
genossenschaftliche, auf Gemeingut an den
Produktionsmitteln gegründete Gesellschaft unterstellt
eine gesellschaftliche Hegemonie, die sich auch in einer
Reihe von Reformen bei der politischen Willensbildung
umsetzt. Oder um es anders auszudrücken: es geht auch um
die allmähliche Veränderung der mit dem Namen Staat
bezeichneten politischen Organisation. Genausowenig wie
die Aufhebung der einfachen Grundformen des Werts (Ware
und Geld) Ausgangspunkt der sozialen Emanzipation der
Arbeit sein kann, genausowenig kann die Umgestaltung mit
einer Abschaffung dieser überlieferten politischen
Organisation beginnen. Die einschneidenden Änderungen
bei dieser Besitzergreifung der politischen Organisation
sind bekannt: die Erweiterung der Wahl- und
Mitgestaltungsrechte auf alle auf dem nationalen
Territorium lebenden Gesellschaftsmitglieder, die
Abschaffung aller Formen der Privilegierung der
politischen Klasse, die Erweiterung der kommunalen
Entscheidungsbefugnisse und die Ausrichtung der
nationalen Politik an der öffentlichen Wahrnehmung der
allgemeinen gesellschaftlichen Funktionen dieser
Gesellschaftsorgansation.
4. Vor weit mehr als einhundert Jahren wurde in der
politischen Ökonomie der Arbeit festgehalten, daß die
Genossenschaften und die Kooperativfabriken neben dem
Kredit- und Finanzsystem die konkreten Übergansgformen
der privatkapitalistischen Produktionsweise seien. Das
Finanz- und Banksystem eröffnet zum einen die
Möglichkeit, über die vielfältigen Formen von
Gesellschaftskapital eine Verfügung über den
akkumulierten gesellschaftlichen Reichtum durchzusetzen,
ohne der strikten Kontrolle des Privateigentums zu
unterliegen. Damit wird aber auch die gesellschaftliche
Kontrolle und die Möglichkeit einer sozialen Steuerung
des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses eröffnet.
Mit dem Kreditsystem sind die Voraussetzungen und Mittel
gegeben »zur allmählichen Ausdehnung der
Kooperativunternehmen auf mehr oder minder nationaler
Stufenleiter«. (MEGA 4.2, 504) Eine aktuelle
Auseinandersetzung mit dieser, der politischen Ökonomie
der Arbeit unterliegenden Sozialismuskonzeption, hätte
also zu prüfen, ob trotz der massiven Blockierung von
Genossenschaften und Kooperativbewegung heute Ansätze
für Übergangsformen gegeben sind. Lassen sich also
Betriebsund Unternehmensformen befördern, in denen die
Profitsteuerung nicht die ausschlaggebende Rolle spielt
und verfügt die Gesellschaft nach wie vor über
politische und ökonomische Parameter, um an die Stelle
der Aggregatkräfte der Konkurrenz eine soziale Steuerung
zu etablieren? Nach Marx stellt der Kredit einen solchen
ökonomischen Parameter dar,(7) in denen »die Form einer
allgemeinen Compatibilität und Vertheilung der
Productionsmittel auf gesellschaftlicher Stufenleiter
gegeben ist« (MEGA 4.2, 661). Die Marktkoordination muß
nicht mehr ausschließlich der naturwüchsigen
Zufälligkeit und Anonymität undurchschaubarer
Aggregatkräfte überlassen bleiben, sondern über eine
gezielte Steu-erungs- und Förderungspolitik läßt sich
eine erhöhte Transparenz des Marktgeschehens herstellen.
Ebenso müssen nicht alle ökonomischen und
sozialkulturellen Lebensbereiche der Profitsteuerung
unterworfen werden, sondern die Differenziertheit
ökonomischer Subjekte kann durch Ausweitung einer
Pluralität nichtkapitalistischer Unternehmensformen
erhöht werden.
Unbestreitbar bleibt auch das Problem, daß nur über
eine Politik der >Ent-eignung< die genossenschaftlichen
Unternehmensformen in Besitz bereits bestehender
Produktionsmittel kämen. Mit der Forderung nach der
Aufwertung der genossenschaftlichen Strukturen in der
gesellschaftlichen Produktion wird der Eigentumsfrage
nicht ausgewichen. Wie Engels bereits feststellt, bietet
weder das Staatseigentum noch die Übertragung sämtlichen
Privateigentums an die Genossenschaften eine Garantie
dafür, daß die Befreiung der gesellschaftlichen Formen
der Arbeit konfliktfrei verläuft. »Und daß wir beim
Übergang in die volle kommunistische Wirtschaft den
genossenschaftlichen Betrieb als Mittelstufe in
ausgedehntem Maß werden anwenden müssen, daran haben
Marx und ich nie gezweifelt. Nur muß die Sache so
eingerichtet werden, daß die Gesellschaft, also zunächst
der Staat, das Eigentum an den Produktionsmitteln behält
und so die Sonderinteressen der Genossenschaft gegenüber
der Gesellschaft im ganzen, sich nicht festsetzen
können.« (MEW 36, 426)
Eckpunkt der vom Marx und Engels vertretenen
Sozialismuskonzeption war also die Verzahnung einer
neuen Betriebsverfassung (Genossenschaften,
Kooperativfabriken etc.) mit einer
gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftssteuerung. Die
Herausbildung eines eigenverantwortlichen
Produzentenbewußtseins in der demokratisierten
Unternehmung und eine gesamtgesellschaftliche Steuerung
durch wirtschaftliche Parameter sind die Grundlage für
die Schaffnung neuer Lebensverhältnisse, die sich
schließlich auch in der Etablierung neuer Zirkulations-
und Verkehrsformen niederschlagen können. Die
Überwindung der soge-nannten Basismystifikationen, wie
sie in den Elementarformen des gesellschaftlichen
Reichtums angelegt sind (Ware und Geld), kann niemals
Ausgangspunkt, sondern nur Resultat eines komplizierten
gesellschaftlichen Transformationsprozesses sein.(8)
Auch innerbetrieblich läßt sich die Sache so
einrichten, daß sich nicht zwangsläufig wieder ein
borniertes Privateigentümerverhalten gegenüber dem
Kooperativunternehmen ausprägt. Mit der Befreiung der
Produktionsmittel von ihrem Kapitalcharakter wird eine
Stufe der Gesellschaftlichkeit der Arbeit erreicht, auf
der »der Besitz des Einzelnen an den
Produktionsbedingungen nicht nur als nicht nötig,
sondern als unvereinbar mit dieser Produktion auf großer
Stufenleiter erscheint.«(MEGA 3.6, 2144) Mit dieser
Eigentümerfunktion der Beschäftigten wird also im
Gegenteil ermöglicht, daß der Ertrag der gemeinsamen
Arbeit nicht nur ausschließlich unter dem Aspekt der
Gewinnausschüttung erscheint. Er kann genausogut in der
Verkürzung der Arbeitszeit und in der menschenwürdigeren
Gestaltung des Arbeitsprozesses liegen.(9)
Wir können somit resümieren: die Genossenschaften und
Kooperativfabriken sind sowohl originäres
Entwicklungsprodukt des kapitalistischen Fabriksystems
und der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt, als
auch Übergangsformen in eine assoziierte
Produktionsweise. Dieser Transformationsprozeß wird
flankiert durch eine veränderte Rolle des Staates und
der Politik und durch den mächtigen Hebel des
Kreditsystems. Letzteres schafft in Form von
Gesellschaftskapital und Aktienunternehmungen ebenso
Übergangsformen, die in einem entsprechenden
politisch-kulturellen Milieu genossenschaftliche und
kooperative Produktionsformen fördern können. In den
»Instruktionen für die Delegierten des Zentralrats« von
1867 thematisiert Marx explizit den engen Zusammenhang
von Kooperativgesellschaften und Aktiengesellschaften im
Hinblick darauf, wie der Kapitalcharakter der
Unternehmungen zugunsten der Stärkung der arbeitenden
Subjekte und damit der assoziierten Arbeit
zurückgedrängt werden kann. Keine der angesprochenen
Übergangsformen wird aber von Marx isoliert gedacht,
sondern immer als Momente »im Zusammenhang mit anderen
gros-sen, organischen changes der kapitalistischen
Produktionsweise selbst« (MEGA 4.2, 662). Von heute aus
gesehen müssen darunter z.B. alle Formen
sozialstaatlicher Modifikation von Produktion und
Konsumtion, von Tertiarisierung und flexibler
Automatisierung thematisiert werden. Auch in ihnen
müssen Entwicklungstendenzen und Ansatzpunkte für
Übergangsformen in die assoziierte Arbeit auszumachen
sein.
Werttheoretisch gesprochen besteht die Marxsche
Argumentation im Kern also darin, daß auf betrieblicher
Ebene die Dominanz des Kapitalfetisch durch die
Entwicklungstendenzen der assoziierten Arbeit
relativiert werden kann und daß auch auf
gesamtgesellschaftlicher Ebene die Profitsteuerung
Spielräume für alternative Regulationsformen zuläßt. Die
blinden Aggregatkräfte im Marktgeschehen können durch
soziale Steuerung ersetzt werden.
Die Auseinandersetzung über die Aktualität dieses
Sozialismuskonzepts kann hier nicht fortgeführt werden.
Es bleibt die Frage, weshalb die Position der
assoziierten Arbeit in der politischen Entwicklung
innerhalb der Arbeiterbewegung kaum eine Rolle spielte?
Gesellschaftliche Steuerung
In der Geschichte der Arbeiterbewegung wurde die
Marxsche Kritik der politischen Ökonomie in erster Linie
als Analyse kapitalistischer Ausbeutungsökonomie
rezipiert. Aus der Mehrwerttheorie, als der oft einzigen
theoretischen Waffe in der politischen
Auseinandersetzung, wurden unmittelbare
Schlußfolgerungen für politische Forderungen nach
gerechteren Verteilungsstrukturen und veränderten
Eigentumsverhältnissen gezogen. Mit einem solchen
politisch-theoreti-schen Rüstzeug verharrte die
Arbeiterbewegung oft in einer einfachen Frontstellung
gegenüber dem Kapital und verblieb angesichts der
Modernisierungsdynamik des Kapitalismus in einer
subalternen Position. Kapitalistische
Produk-tivkraftentwicklung, der Motor jeglicher
gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse und Auslöser
für periodisch verdichtete Umwälzungen in der
gesamtgesellschaftlichen Betriebsweise, interessierte
nur nach der Seite der Ökonomie der lebendigen Arbeit,
den repressiven und entfremdenden Auswirkungen auf die
Lage der Lohnabhängigen.
Die Sicht auf die weitaus komplexeren Reproduktions-
und Steuerungszusammenhänge, in denen sich auf
gesamtgesellschaftlicher Ebene eine veränderte
Produktivität gesellschaftlicher Arbeit bei Verschiebung
von Verteilungsverhältnissen und Ressourcenallokation
durch Profit, Zins und Bodenpreis realisiert, blieb
ausgeblendet. Bildlich gesprochen verharrte man bei der
Rezeption des »Kapital« auf der Ebene des ersten Bandes,
wo Marx aber selbst einen folgenreichen Hinweis macht:
»Der Gang der Analyse gebietet diese Zerreißung des
Gegenstandes, die zugleich dem Geist der
kapitalistischen Produktion entspricht.« (MEW 23/344)
Die Mehrwertproduktion erschöpft sich eben keineswegs in
einer spezifischen Ökonomisierung der lebendigen Arbeit,
sondern stellt sich auf der Ebene der Gesamtbetrachtung
als profitgesteuerte Kostenökonomie dar, die aus sich
heraus weitergehende Selbstregulierungsformen
hervorbringt, von denen das Zentralbanksystem von Marx
als das »künstlichste und ausgebildetste Produkt, wozu
es die kapitalistische Entwicklung überhaupt gebracht
hat« (MEGA 4.2/661), charakterisiert wird. Auch auf
dieser Ebene läßt sich die transformatorische Aktualität
einer veränderten Rolle der »assoziierten Arbeit«
belegen.
Die schon lange sich hinziehende Krise des
fordistischen Entwicklungsmodells zeigt, daß die
anstehende Durchsetzung einer veränderten Effektivität
und Rationalität einfach repressiv gegen die lebendige
Arbeit historisch kurzsichtig und perspektivlos ist und
nur verschärfte Regulierungsprobleme aufwirft. Eine
postfordistische Produktionsweise, oder eine
gesellschaftliche Betriebsweise, wie sie derzeit unter
dem Etikett »lean pro-duction« verhandelt wird, wird nur
mit der lebendigen Arbeit, mit den wirklichen Trägern
der Wertschöpfung und bei einschneidender Aufwertung
ihrer subjektiven Gestaltungsrechte zu haben sein. Dies
zieht zwangsläufig eine Diskussion der
Unternehmensverfassung und der Pluralität von
Eigentumsformen nach sich, was zunächst einmal nichts
mit Verstaatlichung und Planung zu tun hat.
Marxistischerseits kann vielmehr diese Diskussion um
»lean production« als ein Baustein zu einer modernen
Sozialismuskonzeption reformuliert werden: Ökologischer
Umbau der Industriegesellschaft, ressourcensparende
Produktqualität, Gruppenarbeit und Selbstqualifizierung
der Beschäftigten sind letztlich nur durch eine
weitergehende Emanzipation der assoziierten Arbeit auf
betrieblicher und gesamtgesellschaftlicher Ebene zu
haben, ein Entwicklungs-prozeß, dem schon Marx die
Qualität »sozialer Ein- und Vorsicht«, aber auch
»rüstigen Geist und fröhliches Herz« bescheinigt.
So stellt sich die Aktualität der »assoziierten
Arbeit« vom entwickelten Kapitalismus her gesehen dar.
Anders die Konstellationen zu Beginn des Jahrhunderts:
In einem der schwächsten Glieder der Peripherie der
imperialistischen Metropolen Westeuropas, in Rußland,
erwies sich die Reform- und Evolutionsfähigkeit der
russischen Autokratie als historisch begrenzt und nicht
anpassungsfähig. Zaristischer Staat und Bourgeoisie
waren für die anstehende kapitalistische Modernisierung
nicht hegemoniefähig. Dies markiert die historischen
Ausgangsbedingungen des »Staatssozialismus«.
Die Oktoberrevolution von 1917 war zunächst der
Versuch, den Zustand der gesellschaftlichen
Unterentwicklung abzuschütteln, d.h. aus der Struktur
der internationalen Arbeitsteilung auszubrechen. Die
zentralen Ziele waren daher: nationale Unabhängigkeit
und ökonomische Eigenständigkeit, Modernisierung der
Wirtschaft durch Industrialisierung, Veränderung der
Sozialstruktur durch Verstädterung und
Bildungsrevolution, Sicherung einer höheren
Produktivität und Effizienz der Wirtschaft, Beseitigung
der katastrophalen Armut und Existenzsicherung für alle.
In dieser Entwicklungsperspektive geht es noch nicht um
die allmähliche Transformation von Übergangsformen,
sondern hier dominiert zunächst überhaupt erst die
Entwicklung gesellschaftlicher Arbeit, die dann unter
den Bedingungen von ausländischer Intervention und
Bürgerkrieg im Kriegskommunismus repressive Züge annahm.
Der Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP)
Mitte 1921 markiert einen ersten historischen
Bezugspunkt für eine Diskussion um alternative und
moderne Sozialismuskonzeptionen.(10) Die Suchrichtung,
in der sich Lenin mit der NÖP bewegte, läßt sich
folgendermaßen charakterisieren: Es geht um eine
Neubewertung der Genossenschaften und
Kooperativfabriken, die Berücksichtigung einer
wirtschaftlichen Rechnungsführung, breiter
Demokratisierung aller öffentlichen Funktionen und die
Ersetzung des revolutionären Enthusiasmus durch
persönliche Interessiertheit und materielle Interessen.
In dem Maße, wie die NÖP aus einer Rückzugsposition zu
einer langfristigen Transformationskonzeption wird,
avancieren auch die Genossenschaften, die bisher als
»kleinbürgerliche Organisationen im Rahmen des
Staatskapitalismus« galten, zu einem wichtigen
Instrument für einen schrittweisen Übergang zu einer
entwickelteren und höheren Gesellschaftlichkeit der
Produktion. Die Genossenschaftskonzeption des späten
Lenin stellt ein Element eines umfassenderen
Reformprojekts dar, das von der Hebung des kulturellen
Niveaus der Bauernschaft bis zur Umstrukturierung des
administrativen und politischen Apparates reicht.
Damit waren im Transformationskonzept der NÖP (neben
anderen Elementen) wesentliche Bausteine einer
Sozialismuskonzeption angelegt, wie sie Marx bei der
Emanzipation der assoziierten Arbeit skizzierte.
Genossenschaften und Kooperativen stellen keine
gesellschaftlichen Inseln dar, sondern sind über eine
Reform der politischen Form des Gemeinwesens und über
Bereitstellung finanzieller und materieller Transfers in
ein verändertes gesamtgesellschaftliches kulturelles
Milieu eingebunden. Es ist kein Zufall, daß der sich mit
dem Scheitern der NÖP durchgesetzte staatssozialistische
Aufbau diese Elemente negierte: Die Genossenschaften
blieben immer als Träger des kleinbürgerlichen
Opportunismus verdächtigt und konnten damit die
gesellschaftlichen Potenzen der assoziierten Arbeit
nicht entfalten. Als potentielle Marktsubjekte wurden
sie immer wieder als Rückzug vor der vollständigen
Abschaffung kapitalistischer Marktverhältnisse
angesehen.
Entgegen der Marxschen Intention, den Staat in einem
langwierigen Reformprozeß in die Gesellschaft
zurückzunehmen, wird die politische Form des
Gemeinwesens in der staatssozialistischen
Entwicklungskonzeption zum Dreh- und Angelpunkt der
Gesellschaftsgestaltung. »Die Theorie von der
allmählichen Aufhebung des Staates ist eine
verhängnisvolle Theorie« soll Stalin 1923 über Lenins
Thesen gesagt haben. Die Beziehungen der potentiellen
Träger des assoziierten Arbeit untereinander wurden
damit gesamtgesellschaftlich mit staatlichen
»Tributbeziehungen« überlagert und deformiert.
Alle ökonomischen Reformprojekte in der Geschichte
der staatssozialistischen Länder schreckten vor der
Etablierung eines zweistufigen Banksystems zurück. Alle
Kreditbeziehungen sollten vom Staat ausgehen. Damit
wurde das Steuerungspotential für Ressourcenallokation,
das Marx dem Kredit ausdrücklich -noch diesseits
aller parasitären Strukturen - attestiert,
unterschlagen. Eine zentrale Intention der Marxschen
Kritik der politischen Ökonomie - nämlich die der
Regulierung und Steuerung ökonomischer Prozesse - wurde
für eine werttheoretisch fundierte Sozialismuskonzeption
nicht genutzt. Antonio Gramsci brachte sie schon wenige
Jahre nach Beginn der hinter uns liegenden Periode der
Systemauseinandersetzung auf den Punkt: »Marx leitet
intellektuell eine Geschichtsepoche ein, die vermutlich
Jahrhunderte dauern wird, nämlich bis zum Verschwinden
der politischen Gesellschaft und dem Aufkommen der
regulierten Gesellschaft.« (Gramsci).(11)
Anmerkungen
1) Der Versuch der Benennung und schrittweisen
Aufarbeitung dieser Defizite wurde von verschiedener
Seite unternommen in: F. Deppe, S. Kebir u.a., Eckpunkte
moderner Kapitalismuskritik, Hamburg 1991; Siehe auch:
Ch. Lieber, Modernisierung, Demokratie, Marxismus, in:
Sozialismus 11-1991, S. 27ff.
2) Wir haben uns vor allem auf die Weiterführumi der
theoretischen und politischen Positionsbestimmungen auf
zwei Feldern bemüht: des Verhältnisse: von
Marktwirtschaft und Sozialismus und der Entwicklung der
Zivilgesellschaft im entwickelten Kapitalismus und ihre
Bedeutung für eine post-staats-sozialistische
Sozialismuskonzeption. Siehe hierzu: J. Bischoff/M.
Menard, Marktwirtschaft und Sozialismus. Der Dritte Weg,
Hamburg 1990; J. Bischof] Zivilgesellschaft und
Sozialismus. Zur Fragilität dei Zivilgesellschaft im
Kapitalismus, in: Sozialismus 10/1991, S. 25ff.
3) Wir werden uns hiermit in einer im Herbst
erscheinenden Interpretation ausführlich
auseinandersetzen: J. Bischoff/A. Otto, Der Dritte Band
des »Kapital«, Hamburg 1993; Zu den Ursachen des
Scheiterns des »Realsozialismus« siehe: Ch. Lieber:
Bilanz des Sozialismus, in: Sozialismus 6-1992, S.
58ff.; zum Scheitern der Gorbatschowschen Reform siehe
J. Bischoff, Warum ist die »zweite russische Revolution«
gescheitert?, in: ebd, S. 49ff.
4) G. Fülberth, Eröffnungsbilanz des gesamtdeutschen
Kapitalismus. Vom Spätsozialismus zur nationalen
Restauration, Hamburg 1993, S. 76
5) Der Zusammenhang der verschiedenen Stufen der
Reichtumsverteilung und die darauf gründende
Klassenstruktur der entwickelten bürgerlichen
Gesellschaft ist theoretisch und empirisch ausgeführt
in: J. Bischoff u.a., Jenseits der Klassen? Gesellschaft
und Staat im Spätkapitalismus, Hamburg 1982
6) Vgl. Fülberth, a.a.O., S. 67
7) Vgl. hierzu näher: J. Bischoff, Die Wirklichkeit
ist anders... Über den Zusammenhang von
Kapitalismuskritik und Sozialismuskonzeption, in:
Sozialismus 7/1990, S. 25ff.
8) J. Bischoff/Ch. Lieber/A. Otto, Fetischismus und
Entfremdung in der Kritik der Politischen Ökonomie, in:
Sozialismus 11/1988, S. 29ff.
9) Vgl. Bischoff/Menard, Marktwirtschaft und
Sozialismus, a.a.O., insbesondere Kapitel 3:
Kapitalmystifikation und Eigentumsfrage
10) Dies ist ausgeführt in: ebd., Kapitel 2: Neue
Ökonomische Politik und Perestroika
11) A. Gramsci, Gefängnishefte Band 4, Hefte 6 bis 7,
Hamburg 1992, S, 888
Editorische Hinweise
Wir entnahmen den Text der Zeitschrift Sozialismus
7-8/93, Hamburg 1993, Seite 62-68.
OCR-Scan red trend.