Die
marxistische Theorie über das Verhältnis von
gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein ist aber
überhaupt nur dann adäquat zu begreifen, wenn der ihr
zugrundeliegende Sachverhalt nicht als ein identisches,
sondern als ein dialektisches Verhältnis begriffen wird.
Die These von der notwendigen Aufhebung des Kapitalismus
durch das bewußte geschichtliche Handeln der
Arbeiterklasse müßte völlig unverständlich bleiben,
würde das Bewußtsein ausschließlich als die
Widerspiegelung der unmittelbaren materiellen
Lebensverhältnisse produziert; denn geschichts- und
gesellschaftsveränderndes Handeln ist — wie der Begriff
der Revolution überhaupt — nicht durch die Identität,
sondern durch die theoretisch-bewußte und praktische
Negation der unmittelbaren Erfahrung möglich.
Klassenbewußtsein als das „bewußte gesellschaftliche
Sein" der Arbeiterklasse (158) kann darum ebenfalls
nicht auf die Artikulation von sozialökonomischen
Interessen eingeschränkt werden, obwohl sich — wie
Engels bemerkte — „die ökonomischen Verhältnisse
einer gegebenen Gesellschaft . . . zunächst als
Interessen" darstellen (159). Bewußtes
gesellschaftliches Handeln und Planen umschließt der
marxistischen Theorie zufolge drei grundlegende
Einsichten, die nicht ausschließlich auf der Basis
spontaner Interessenartikulation, sondern wesentlich
durch historische Lernprozesse entstehen. Es handelt
sich dabei um die Notwendigkeit der Solidarität, der
Organisation und des Kampfes um die politische Macht.
Friedrich Engels hat in seiner frühen Arbeit über
„Die Lage der arbeitenden Klasse in England" die
verschiedenen Phasen dieses Bewußtseinsbildungsprozesses
herausgearbeitet (160). Erste Form des proletarischen
Aufbäumens gegen die unmenschlichen Lebensverhältnisse
des entstehenden Kapitalismus war das Verbrechen, der
Versuch, individuell und ohnmächtig das Elend zu
bewältigen. Diese Formen des spontanen Protestes, die
meist mit selbstzerstörerischer Apathie — so z. B.
Alkoholismus — einhergehen, sind im übrigen keineswegs
auf die Periode der industriellen Revolution des
ausgehenden 18. Jahrhunderts beschränkt(161). Sie
reproduzieren sich heute in den Slums und Ghettos der
Großstädte der westlichen Welt, und sie charakterisieren
zum Teil die ohnmächtige Introvertierung der
sogenann-ten „kulturrevolutionären Protestbewegung der
Jugend". Das historisch nächste Stadium der
Protestation, die Phase der „Maschinenstürmerei", in der
sich die Arbeiter — als Opposition gegen die Bourgeoisie
— gewaltsam der Einführung der Maschinen widersetzten,
war einerseits Ausdruck der Einsicht, daß die
Arbeitsverhältnisse das Elend verursachten, andererseits
vermochte sie aber die Lebensverhältnisse nicht zu
verbessern oder gar zu verändern. Im Gegenteil: „War der
augenblickliche Zweck erreicht, so fiel die volle Wucht
der gesellschaftlichen Macht auf die wieder wehrlosen
Übeltäter und züchtigte sie nach Herzenslust, während
die Maschinerie dennoch eingeführt wurde." (162) Erst
die gewerkschaftlichen Arbeiterassoziationen mit ihrem
spezifischen Kampfmittel, der kollektiven
Arbeitsverweigerung, hoben die Entwicklung der
Arbeiterbewegung und des Arbeiterbewußtseins auf eine
qualitativ neue Ebene. Ihre „eigentliche Wichtigkeit"
für die Entwicklung von Bewußtsein besteht darin, „daß
sie der erste Versuch der Arbeiter sind, die Konkurrenz
aufzuheben. Sie setzen die Einsicht voraus, daß die
Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der
Arbeiter unter sich beruht, d. h. auf der Zersplitterung
des Proletariats, aus der Entgegensetzung der einzelnen
Arbeiter gegeneinander." (163) Das „working-men"
-Bewußtsein objektiviert sich in der ökonomischen
Organisation und in der defensiven Solidarität. Die
Verbindung dieses ökonomischen Bewußtseins mit
politischen Demokratisierungsforderungen, wie sie sich
in der Bewegung des Chartismus darstellte, bezeichnete
für Engels schließlich die vierte Phase. Die
„Arbeiterfrage" entwickelte sich zur sozialen Hauptfrage
des entfalteten Kapitalismus — zu einer Frage, die sich
zunehmend auf die Ebene einer sozialen und
politischen Machtauseinandersetzung verlagerte. Der
Wahlspruch der Chartisten „Politische Macht unser
Mittel, soziale Glückseligkeit unser Zweck" (164)
signalisiert die Entwicklung des Sozialismus als
Bewegung und Bewußtseinsinhalt der Arbeiterklasse.
Klassenbewußtsein und Klassenorganisation stellen sich
mithin dar als Resultate eines konfliktreichen
historischen Prozesses, in dem sich die unmittelbare
Erfahrung und Spontaneität zum Begriff der ganzen
Gesellschaft und ihres Bewegungsprinzips, der
Eigentumsfrage, verallgemeinert. Erst in dieser
Beziehung des Denkens auf die „Gesellschaft als Ganzes"
— so formulierte später Georg Lukacs — „ .. .
erscheint das jeweilige Bewußtsein, das die Menschen
über ihr Dasein haben, in allen seinen wesentlichen
Bestimmungen" (165).
Zum Verständnis der Kategorie Bewußtsein ist die
Darstellung von Engels in zweierlei Hinsicht von
Bedeutung: Zum einen hebt sie sich klar von der
Auffassung ab, daß Formen des kollektiven Bewußtseins —
auf die Psychodynamik und das Verhalten des einzelnen
Arbeiters aufbauend — als die Aufsummierung und
Angleichung des individuellen Bewußtseins vieler
Menschen abzuleiten seien. In diesem Zusammenhang ist
auch der Begriff des Lernprozesses zu präzisieren. Als
Prozeß der individuellen Aneignung von „facts" des
gesellschaftlichen und politischen Lebens wäre er gewiß
falsch verstanden. Er kann dagegen nur beinhalten, daß
Aktion und Bewußtsein der Arbeiterklasse sich — nach
einem Wort Hegels — „auf der Höhe ihrer Zeit"
organisieren. Insofern ist der marxistische Begriff der
Organisation kein formaler oder gar bürokratischer
gewesen, sondern bezog stets die Organisation des
Bewußtseins der Arbeiterklasse — d. h. die Aufklärung
und unermüdliche Schulung der Arbeiterklasse — als
wesentliches Element in den gesamten historischen
Entwicklungsprozeß des Klassenkampfes mit ein. Ebenso
wie später Georg Lukacs die revolutionären
Arbeiterräte als ein Zeichen dafür betrachtete, „daß das
Proletariat bereits an der Schwelle seines eigenen
Bewußtseins . .. steht" (166), versteht Engels
die gewerkschaftliche und politische Organisation als
die Objektivierung jenes dialektischen Verhältnisses von
Klassenlage und Klassenbewußtsein, dessen Inhalt gerade
nicht die Identifizierung beider Momente, sondern die
Einsicht ist, daß „... die Proletarier ... sich die
gesellschaftlichen Produktionskräfte nur erobern
(können), indem sie ihre eigene bisherige
Aneignungsweise und damit die ganze bisherige
Aneignungsweise abschaffen" (167)
Zum anderen arbeitet die Engelssche Darstellungsweise
der „Arbeiterbewegungen" den Prozeßcharakter der
kollektiven Bewußtseinsentwicklung heraus. Die
Durchsetzung der gewerkschaftlichen Massenorganisationen
und der politischen Organisation der Arbeiter ist nicht
der unmittelbare Umschlag des spontanen Protestes,
sondern Resultat langwieriger
Klassenauseinandersetzungen, in denen sich das
Bewußtsein, die strategischen und programmatischen
Konzeptionen sowie die Organisationsformen unter dem
Druck der sozialökonomischen Widersprüche und der
politischen Repression des bürgerlichen Staates ständig
korrigieren und neu formieren. Zumal die Geschichte des
ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zeugt davon,
daß dieser Prozeß keineswegs ein linear aufsteigender
Anpas-sungsprozeß gewesen ist, sondern durch
verlustreiche Niederlagen und blutige
Unterdrückungsmaßnahmen hindurch immer wieder von neuem
die Kraft zur Infragestellung der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung gewann (168).
Anmerkungen
158) K. Marx: Deutsche Ideologie, a. a. O., S. 26.
159) ' F. Engels: Zur Wohnungsfrage, MEW, 18, S. 274.
"
160) Vgl. neuerdings M. Vester: Die Entstehung des
Proletariats als Lernprozeß, Frankfurt/M. 1970; E. P.
Thompson: The making of the English working-class,
Harmondsworth, Middlesex 1968.
161) Vgl. Sittengeschichte des Proletariats,
Wien—Leipzig o. J., bes. S. 181 ff.
162) F. Engels: Die Lage ..., a. a. O., MEW,
Bd. 2, S. 432.
163) Ebd., S. 436.
164) Ebd, S. 451.
165) G. Lukacs:
Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 61/62.
166) Ebd., S. 93.
167) K. Marx / F. Engels: Manifest der
Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 472. Aufheben ist
hier stets im dreifachen Sinne des Oberwindens,
Aufbewahrens und zugleich „Auf-eine-höhere-Stufe-Hebens"
begriffen.
168) Nur so ist z. B. die Entwicklung der
revolutionären Bewegungen in Frankreich zwischen 1830
und 1871 zu verstehen, vgl. dazu F. Deppe: Verschwörung
. .., a. a. O., S. 214/215.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Frank Deppe, Das
Bewußtsein der Arbeiter, Köln 1971, S. 61-64