Global gesehen, kann man zwischen zwei
historischen Typen lokaler Reformstrategie gegen die
kapitalistische Stadt unterscheiden:
a) Radikale Reformprojekte, bei denen man glaubte,
die politische Kraft der Arbeiterklasse für den Ausbau
einer alternativen Gesellschaft und Stadt dadurch besser
einsetzen zu können, daß man sie von der bürgerlichen
Gesellschaft und der Stadt isolierte. Diese „Oasen"
sozialistischen Friedens (frühsozialistische Antistädte
einer neuen sozialen und staatlichen Ordnung oder
sozialdemokratische Siedlungen eines proletarischen
Kollektivs(9) haben meist an den Grenzen des
»Munizipalismus" und unter dem Druck des „nationalen"
Kontextes scheitern müssen: sie wurden aufgegeben oder
ihre ursprüngliche Intention wurde schließlich
pervertiert.
b) Eine andere, bis heute verfolgte lokale
Reformstrategie beruft sich auf die Rolle des Staates
als Vertreter des „allgemeinen Interesses"; ungeachtet
der ideologischen Funktion dieser Rolle greift sie u. a.
auf die Planung zurück als Instrument zur Durchsetzung
der Fiktion dieses „allgemeinen Interesses" gegenüber
den privaten Einzelinteressen. Da die darauf gegründeten
Teilpolitiken eine systemstabilisierende Funktion haben
können, indem sie zwischen den sozialen Konflikten
vermitteln, kann eine solche Strategie in bestimmten
konjunkturellen Phasen mit objektiven Erfolgen rechnen,
die auf eine „Rationalisierung" und Verbesserung des
Alltagslebens hinauslaufen (so z. B. ermöglicht die
Regulierung der „Wirkungsweise" der Grundrente oder die
Senkung der Reproduktionskosten der Arbeitskraft durch
öffentliche Leistungen eine konfliktfreiere Abwicklung
des Reproduktionsprozesses).
Es ist jedoch gleichermaßen illusorisch, auf dem
klassischen sozialistischen „Munizipalismus" zu
beharren, wie der systemkonformen lokalen Reformpolitik
unbeschränkte Wirkungskraft zu testieren. Während man im
ersteren Fall den notwendigen kompromißlerischen
Charakter lokaler Reformen innerhalb eines „feindlichen"
nationalen Kontextes vergessen möchte, so daß aus dem
möglichen revolutionären Potential des Kompromisses
schließlich ein Anpassungsmechanismus wird, unterschätzt
man im zweiten Fall die widersprüchliche Lage der
politischen lokalen Institutionen innerhalb des
politischen und ökonomischen Systems.
Wir werden im folgenden versuchen, an drei Aspekten
der gegenwärtigen historischen Lage Bedingungen zur
Überwindung dieses Dilemmas festzuhalten: (a) der
immanenten Widersprüchlichkeit der politischen lokalen
Institutionen; (b) dem historischen Auftrag der
städtischen Protestbewegungen; (c) den Perspektiven
einer sozialistischen Strategie im Kampf um die Stadt.
Dabei beziehen wir uns lediglich auf historische
Erfahrungen in Italien seit Mitte der sechziger Jahre,
speziell auf die lokale Strategie der traditionellen
Linken, die (zunächst mit beträchtlichem Erfolg) in
einem rationalen und sozialorientierten Management der
kapitalistischen Entwicklung bestand, bis sie an
strukturellen Handlungsrestriktionen der lokalen
Institutionen sowie an der Politisierung der städtischen
Probleme als Klassenprobleme scheitern und zumindestens
teilweise diese Ansätze einer Revision unterziehen
mußte.
2.1 Die immanente Widersprüchlichkeit der lokalen
Institutionen. Der Sinn lokaler Autonomie
Bei der Entwicklung der Industriegesellschaft auf der
Basis massiver Verstädterungsprozesse fällt vornehmlich
den lokalen Institutionen die Aufgabe der Organisierung
des „Alltagslebens" des Kapitals wie der Arbeiterklasse
zu: durch Bereitstellung von Einrichtungen für den
Massenkonsum (Wohnung, Gesundheit, Bildung, Kultur,
Sport usw.) und für die verschiedenen Phasen des
Produktionszyklus (von den sog. technischen
Infrastrukturen bis zu der für diesen Zyklus zu
errichtenden funktionalen Raumhierarchie). Diese Aufgabe
gerät aber zwangsläufig an einem bestimmten Punkt in
Konflikt mit der materiellen Entwicklung, aus der heraus
sie sich aufdrängte. Die Bedingungen, die zu diesem
Konflikt zwischen lokaler Politik und kapitalistischer
Entwicklung führen, wurden in Italien später als in
anderen europäischen Landern durch eine einseitige und
rasche Industrialisierung des Nordens(10) seit den
fünfziger Jahren materiell geschaffen und durch die
darauf reagierenden Arbeiterkämpfe zu sozialen und
politischen Problemen gemacht: einerseits vollzog sich
die Überfüllung der „maßvollen" historischen
Stadtstrukturen mit einem neuen, zum großen Teil aus dem
Süden eingewanderten Industrieproletariat, andererseits
setzten sich umfassende städtische Umgestaltungen für
die Schaffung von neuem Raum für die direkt-produktiven
und die tertiären Funktionen auf städtischem Territorium
durch. Die Krise der Kommunen war seit diesem Zeitpunkt
nicht nur eine finanzielle (auf Grund der entstandenen
Mehrkosten für die Schaffung von
Reproduktionsbedingungen für die Arbeitskraft und von
technischen Infrastrukturen für die produktive
Entwicklung), sondern ebenso eine politische. Die
Unregierbarkeit der Städte kann zumindest an zwei
Aspekten festgehalten werden: (a) die finanzielle wie
politische Abhängigkeitssituation der lokalen
Entscheidungseinheiten innerhalb der staatlichen
politisch-administrativen Struktur, die sich darin
zeigt, daß die dezentralen Planungsinstanzen immer mehr
zu bloßen Ausführungsorganen der zentralen Politik
dequalifiziert wurden; (b) die Abhängigkeitssituation
der lokalen politischen Planung von der „objektiven"
kapitalistischen Entwicklung, auf die sie mit ihren
institutionellen Planungsinstrumenten weder „subjektiv"
reagieren noch ihr entgegensteuern konnte.
(a) Schon die ersten Mobilisierungen der städtischen
Bevölkerung seit Mitte der sechziger Jahre ließen
deutlich werden, daß die Lösung der städtischen
Konflikte weder nach oben weiter delegiert noch auf die
Zukunft einer sozialistischen Gesellschaft verschoben
werden konnte. Es zeigte sich, daß im Bewußtsein der
Bevölkerung der Auftrag der lokalen Institutionen
begriffen wurde und dies auch trotz ihrer offenbar
gewordenen Handlungskrise. Die Strategie der
italienischen Kommunen zur Erweiterung ihres
Handlungsspielraums bestand lange Zeit ausschließlich
darin, die in der politisch-administrativen Struktur
verankerten Handlungsrestriktionen zu bekämpfen.(11) Die
konservativen Kommunen verfolgten dabei lediglich eine
Entflechtung des bürokratischen und urbanistischen
lokalen Systems: angefangen bei den Quartieren sollten
selbständige Lebensräume nach dem Muster eines
präkapitalistischen Munizipalismus geschaffen werden.
Die von der KPI angeführten Kommunen dagegen
organisierten sich gegen den Zentralstaat und suchten
nach einer politischen Lösung, der „Dezentralisierung"
des Staates. Dieses Ziel einer weitgehenden kommunalen
Autonomie und einer demokratischen Kontrolle der
staatlichen Politik von unten wurde stufenweise
erkämpft: Einrichtung der Regionen, Übertragung von
Teilen ihrer legislativen und Planungsbefugnisse auf die
Kommunen, schließlich Ausbau der Quartiersinstitutionen
als neue Basis für die demokratische Kontrolle der
lokalen Politik und Planung durch die Gesellschaft. Ein
Ziel scheint jedoch nach wie vor in weiter Ferne zu
liegen: die finanzielle Autonomie der lokalen
Regierungen, so daß die bisher erkämpfte Autonomie im
politischen und Planungsbereich weitgehend unwirksam
geblieben ist.(12)
(b) Gravierender ist jedoch der zweite, weniger
berücksichtigte Aspekt der politischen Krise der lokalen
Regierung, der Widerspruch zwischen kommunaler Planung
und der autonomen „Planung" des Kapitals. In immer
geringerem Maße ist die kommunale Planung Instrument der
Vermittlung von Konflikten in der Stadtentwicklung, und
immer mehr ist es das Kapital selbst, das mittels
außerurbanistischer Instrumente und Maßnahmen die
räumliche und soziale Struktur der Stadt direkt
bestimmt (man denke z. B. an die industrielle
Dezentralisierung, die Beschäftigungs- und
Energiepolitik usw.). Die erkämpfte lokale Autonomie
einer sozialistischen Stadtverwaltung jagt schließlich
einer Illusion nach, wenn sie nur auf die Rückgewinnung
der „Planung" als einem politischen Instrument für
Reformpolitik gerichtet ist. So brachte die Ausschöpfung
eines erkämpften politisch-admini-strativen und
planerischen Autonomieraums den links regierten Kommunen
in Italien bis Anfang der siebziger Jahre den Ruf ein,
„gute" Verwalter zu sein; eine solche Strategie
verschärfte jedoch langfristig die lokale Finanzkrise,
löste nicht das Problem der Steuerung objektiver
städtischer Prozesse und ging nicht über das hinaus, was
jede andere progressiv-bürgerliche praktische Politik
auch leisten kann: schlechten Realitäten gute (aber
unwirksame) Pläne entgegenzusetzen, lokale Organe zum
Sprachrohr sozialistischer Propaganda zu machen (die,
wie im Falle der „unkorrupten" Stadtverwaltung, dem
Sozialismus eine moralische Legitimation verleiht), und
sektorale Reformen in Prosperitätsphasen durchzusetzen,
die aber in den Rezessionsphasen wieder zurückgenommen
werden müssen. Erst Anfang der siebziger Jahre war eine
strategische Wende zu erkennen, die - programmatisch
klar formuliert - bisher nur an wenigen Projekten
realisiert werden konnte. Sie zielte darauf, den
zugewiesenen oder gegenüber den zentralen staatlichen
Instanzen erkämpften Handlungsspielraum
antikapitalistisch zu orientieren, ihn also zu
sprengen und die Legitimation für das dann notwendige
„illegale" Handeln im Rahmen einer Veränderung der
sozialen Kräfteverhältnisse zu suchen.
2.2 Historische Rolle der städtischen Bewegungen
Heute bieten sich die sozialen städtischen Bewegungen
als eine neue Basis an, um den historischen Auftrag
einer sozialistischen lokalen Regierung anders als zuvor
zu definieren. Ihr objektiver Standpunkt qualifiziert
die Rolle der städtischen Bewegungen politisch anders,
als es der Fall bei den reformistischen Projekten zur
Verbesserung der Lage der „arbeitenden" Bevölkerung bzw.
zur Rationalisierung des staatlichen Handelns ist; sie
begreifen nämlich die Organisation der Stadt und der in
ihr sich vollziehenden Reproduktion des Lebens als
eigene Aufgabe der betroffenen Massen und nicht mehr
länger in Funktion der Produktion (als sog.
„Reproduktion der Arbeitskraft"). Das subjektive
Bewußtsein dieses „Klassen"-Standpunktes hat sich wohl
nur in wenigen Fällen entfalten können; ungeachtet davon
greift jedoch die gesellschaftliche Praxis, die einen
solchen Standpunkt manifestiert, eine historische Lücke
der traditionellen Politik der organisierten
Arbeiterbewegung auf und verlangt von dieser Politik
eine spezifische Antwort innerhalb des lokalen
Rahmens. So sind auch in Italien die sozialen
städtischen Bewegungen zunächst durch jene
„Kinderkrankheiten" geprägt, die ihr beschränkter
Entstehungszusammenhang (das „ökologische" Milieu, das
Quartier usw.) typischerweise überall verursacht: durch
einen Sektoralismus, der in der Reduktion der
Forderungen auf isolierte Fragen (Wohn-, Verkehrs-,
Umweltfragen usw.) hervortritt, und durch
spontaneistische Organisationsformen, die paradoxerweise
trotz ihres praktischen Radikalismus autoritätsfixiert
bleiben und sich bald wieder auflösen, wenn die
sektoralen Ziele erreicht bzw. verfehlt sind. Diese
Situation scheint aber in der Praxis von großen Teilen
der Bewegung bereits überwunden zu sein:
a) Auf ideologischer Ebene, wenn die
zersplitterten, mannigfaltigen Forderungen (vom
Kindergarten über die kulturellen und sportlichen
Einrichtungen bis zur Wohnung als öffentlicher
Dienstleistung) auf ein einheitliches Programm
zurückgeführt werden, das die politische wie die
urbanistische Struktur der bestehenden Stadt in Frage
stellt; seine wesentlichen Elemente sind: die
Selbstverwaltung des Alltagslebens und die Forderungen
nach einem Stadttypus, in dem - bei Aufhebung des
Warencharakters des städtischen kollektiven Konsums —
eine „egalitäre" Befriedigung der kollektiven
Bedürfnisse möglich wird;
b) Auf praktisch-politischer und organisatorischer
Ebene, wenn Aktions- und Organisationsformen
entwickelt werden, die nicht mehr allein die
staatlich-lokalen Institutionen als Verhandlungspartner
bzw. Gegner ansehen, sondern direkt jene
kapitalistischen Kräfte (in Italien den sog.
„Baublock"(13), die mittelbar, aber auch unmittelbar die
Entwicklung der Stadt prägen und bestimmen. Es ist
notwendig, diese zwei Ebenen in ihrer Wechselbeziehung
zu sehen. So waren es die Organisationsformen
(selbstverwaltete Stadtteilkomitees, Delegiertenräte für
ganze Zonen, verschiedene Problembereiche und
geographische Zonen übergreifende Organe, z. B. die
Unione Inquilini) und Formen eigener radikaler
Selbsttätigkeit (Häuserbesetzungen, eigenmächtige
Reduzierung der Mieten usw.), die primär zu einer
übergreifenden Sicht der Probleme und einer kohärenten
Zielformulierung innerhalb der Bewegung selbst führten.
Solche sozialen städtischen Bewegungen setzen damit
sozialistischer lokaler Politik nicht nur konkrete Ziele
(die Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse, den
„indirekten" Lohn); sie zeigen darüber hinaus auch den
politischen Weg, auf dem die lokale Politik zwischen den
Klippen ihrer immanenten Widersprüchlichkeit hindurch
sich weiter entwickeln kann. Indem sie
Selbstverwaltungsformen des Alltags praktizieren,
initiieren und fordern sie zugleich eine neue,
demokratische Art des Regierens, in dessen Mittelpunkt
die politische Beteiligung der Massen stehen soll; indem
sie die gesamtgesellschaftliche Funktion der lokalen
Institutionen und der Stadt (Instrumente bzw. Ort des
Reproduktionszyklus des „Kapitals" und der
„Arbeitskraft" zu sein) praktisch negieren, geben sie
dem lokalen Kampf eine antikapitalistische Qualität und
antizipieren damit ein neues Entwicklungsmodell für die
Stadt, das eine reale Alternative für die „soziale
Rentabilität" der lokal-öffentlichen Investitionen
enthält. Die politische Praxis dieser sozialen
städtischen Bewegungen hat in den letzten Jahren einen
nachhaltigen Einfluß auf die Theoriebildungsprozesse und
auf die interne Reorganisation der linken Parteien und
der Gewerkschaften ausgeübt. Dies hat sich u. a. in
kommunalen Reformprogrammen sowie in der Vermehrung der
parteilichen und gewerkschaftlichen Basisorganisationen,
die an lokalen Problemen orientiert sind, geäußert.(14)
Historisch relevant war vor allem ihr Einfluß auf die
Veränderung der politischen Klassenverhältnisse -
besonders auf kommunaler und regionaler Ebene.(15)
Dies schließt jedoch nicht aus, daß die praktischen
Beziehungen der politischen Linken zu diesen Bewegungen
fast immer gespalten und widersprüchlich waren und sie
ihren historischen Auftrag nicht immer richtig
wahrzunehmen wußten. Bei der traditionellen Linken, in
den lokalen Institutionen bereits verankert, hat die
Tendenz bestanden, die sozialen städtischen Bewegungen
als Druckmittel für eine Politik der sozialen Reformen
von oben zu instrumentalisieren, die Problemformulierung
an der Basis von ihrer politisch-parlamentarischen
Formulierung zu scheiden und erstere durch letztere zu
ersetzen - eine Strategie, die politische Reformen
blockiert und soziale Reformen u. a. von der besonderen
Ressourcenverteilung in Prosperitätsphasen abhängig
macht; im Namen des Anspruchs, die städtischen
Bewegungen unter eine abstrakte „Führungsrolle" der
Arbeiterbewegung zu stellen, haben beide Parteien und
die Gewerkschaften meistens die Rolle eines integrativen
Ordnungs- und Bremsfaktors des städtischen Protestes
gespielt. Aber auch die Neue Linke ist in ihren
Beziehungen zu diesen Bewegungen in dem Maße
gescheitert, in dem sie auf dem ursprünglich
spontaneistischen Charakter des städtischen Protestes
beharren und ihn unmittelbar an globalen Veränderungen
in Staat und Gesellschaft orientieren wollte. Sind im
ersten Fall Radikalität und Spontaneität als politische
Haltungen bekämpft und in ihrer organisatorischen
Entfaltung weitgehend blockiert worden, so sind im
zweiten Fall den städtischen Bewegungen die realen
Instrumente für ihre politische Wirksamkeit verweigert
worden.
2.3 Kampf gegen die „kapitalistische Nutzung der
Stadt". Ziele und Perspektiven
Gegenüber einer allzu mechanischen Betrachtungsweise
der Beziehungen von Kapitalismus und Stadt läßt sich
schon geschichtlich leicht feststellen, daß die
„kapitalistische Nutzung" des städtischen Territoriums
nicht allein die Schaffung der bestmöglichen Bedingungen
der Reproduktion des Kapitals zum Ziel hat, aus
denen sich dann nur negative Folgen für die
Arbeitskraft ergeben. Im Gegenteil: zu einer solchen
„Nutzung" gehört ebenfalls (wenigstens in bestimmten
konjunkturellen Phasen der kapitalistischen Entwicklung,
vor allem aber in den entwickeltesten Zonen) die
Schaffung von Bedingungen für eine erweiterte und
kostengünstige Reproduktion der Arbeiterklasse.(16)
Diese Tatsache schuf den Raum für den klassischen
apolitischen Kommunalreformismus und erklärt die heutige
Funktion reformistischer „Teilpolitiken" (in den
Bereichen der Bodenreform, der Partizipation, des
sozialen Wohnungsbaus usw.) für die Entschärfung und
Kanalisierung von Konflikten auf städtischem
Territorium. In diesem Sinne kann auch die Durchsetzung
eines privatkapitalistischen und eines sog.
„allgemeinen" Interessen als ein einheitlicher Prozeß
der „Nutzung der Stadt" im kapitalistischen System
angesehen werden.(17)
Es wäre jedoch falsch, daraus den Schluß zu ziehen,
daß dieser Organisationsprozeß des städtischen
Territoriums nur dem „Projekt" der herrschenden
Klasse folgt und daß die unteren sozialen Schichten im
städtischen Bereich nur in einen
innerkapitalistischen Konflikt eingespannt (und
höchstens zum Träger der progressivsten Ideologien des
Kapitals gemacht) werden. Gerade einige Praxisformen der
heutigen sozialen städtischen Bewegungen erzwingen
wieder eine dialektische Betrachtungsweise der Stadt,
nämlich: die Stadt nicht als mechanisches Resultat einer
Gesamtstrategie des Kapitals, sondern als historisches
Resultat des Klassenkampfes zu sehen. In dieser
Betrachtungsweise ist dann die „kapitalistische (d. h.
die vorherrschende) Nutzung" der Stadt ebenso Ausdruck
des Reproduktionsniveaus, das sich die organisierte
Arbeiterklasse politisch „leisten" kann. Das gilt nicht
allein für eine Arbeiterklasse, die als hegemoniale
Kraft die räumliche und ökonomisch-soziale Struktur der
Stadt subjektiv prägt, sondern auch für eine Klasse, die
sich nur als bloße „Arbeitskraft" (als „Teil des
Kapitals", in einseitiger Anhängigkeit vom Lohn)
reproduzieren kann.
Aus dieser Sachlage heraus kann sich für eine lokale
sozialistische Strategie im Grunde noch nicht die
Perspektive einer „sozialistischen" Alternative zur
„kapitalistischen Nutzung" der Stadt ergeben, sondern
lediglich die eines politischen Kampfes um die
Stadt, um ihre Kontrolle. Dabei können traditionell
reformistische Kampfstrategien (gegen die Bodenrente,
die Spekulation, den privaten Wohnungsbau usw.) eine
neue politische Qualität erhalten: sie können nicht mehr
nur als bloße Instrumente der Verbesserung der
Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft und der
kapitalistischen Rationalisierung der Stadt, sondern
auch als Mittel begriffen werden, um den Warencharakter
der Stadt prozessual aufzuheben und sie dem
individuellen Konsum und dem Marktmechanismus zu
entziehen.(18)
Versuchen wir abschließend eine kurze Zusammenfassung
unserer bisherigen Überlegungen, die den Sinn des
folgenden, knapp dargestellten historischen Beispiels
verständlicher machen sollten. Für eine lokale
sozialistische Regierung genügt es nicht, die kommunale
Politik, ihr planerisches und finanzielles Handeln an
der Befriedigung jener kollektiven Bedürfnisse zu
orientieren, die das System vernachlässigt bzw.
vernachlässigen muß. Der Kampf gegen eine systembedingte
Ressourcenknappheit und für die Erweiterung des lokalen
Handlungsspielraums muß auf mehreren Ebenen gleichzeitig
ausgetragen werden: a) Auf der Ebene der
Institutionen gegen einen staatlichen Zentralismus,
der eine juristische wie politisch-administrative
Repression ausübt; hier fragt sich, inwiefern die
erkämpfte lokale Handlungsautonomie den „Munizipalismus"
überwindet und eine politische Machtbeteiligung der
städtischen Bevölkerung realisiert, die in eine
Kontrolle der allgemeinen Staatspolitik und ihrer
Instrumente durch die dezentralen Instanzen einzumünden
vermag und somit die Frage lokaler Demokratisierung mit
der weitergehenden nationalen Macht- und Demokratiefrage
verbindet.
b) Gesellschaftlich gegen die „Planung" des
Kapitals, dessen Repression sich nicht nur durch die
Investitionsverweigerung der Privatinvestoren
manifestieren kann, sondern vor allem durch spezifische
ökonomische Mechanismen für die Produktion der Stadt
(Bodenrente, private Bauproduktion, industrielle
Entwicklungspolitik usw.), die für reformerische Politik
als Multiplikator der Reformkosten und als strukturelle
Restriktionen wirken.
c) Städtebaulich gegen die räumliche Hierarchie
der heutigen Stadt, die eine ständige Vernichtung von
„kulturellen" wie auch ökonomischen Ressourcen in sich
einschließt und jede Reformpolitik „überteuert".
So verstanden, bedeutet die Lösung der „ökonomischen
Krise" (auch als Krise der Staatsfinanzen) für eine
reformerische Politik, die diesen Namen verdient, nicht
„Rationalisierung" der öffentlichen Investitionen oder
„sozialere" Allokation der knappen Ressourcen. Sie kann
sich nur als schrittweise Politik zur Veränderung der
staatlichen Macht, der Klassenverhältnisse und der
sozialen, ökonomischen und räumlichen Struktur der Stadt
begreifen.
Anmerkungen
9) Der sozialdemokratisch beeinflußte Städtebau in
der Weimarer Republik (insbes. die experimentellen
Siedlungen in Frankfurt) werden heute immer mehr zu
einem ideengeschichtlichen Bezugspunkt im
reformerischen Denken der Stadtplanung. Zur
historischen Interpretation dieser Projekte aus den
zwanziger Jahren und ihrer heutigen theoretischen
Wiederaufnahme vgl.: M. Tafuri, „Sozialdemokratie und
Stadt in der Weimarer Republik", in: Werk /Oeuvre,
3/1974; J. R. Lores und G. Uhlig, „Zur Problematik
der Zeitschrift ,Das Neue Frankfurt'", in:
Werkberichte des Lehrstuhls für Planungstheorie der R
WTH Aachen: Reprint aus „Das Neue Frankfurt/Die Neue
Stadt" (1926 - 1934), Aachen 1977.
10) Diese ungleichgewichtige Form der
Industrialisierung führte jedoch nicht allein direkt zu
einer forcierten Verstädterung im Norden des Landes;
indirekt verursachte sie gleichzeitig eine ähnliche
Situation in Mittel- und Süditalien: dadurch, daß der
traditionellen Erwerbsstruktur auf dem Lande die Basis
entzogen wurde (Auswanderung von Arbeitskräften in den
Norden, Unfähigkeit der präkapitalistischen Industrie im
Süden, gegenüber den Industrieprodukten aus dem Norden
konkurrenzfähig zu bleiben), setzte aus dem Land auch
ein Wanderungsprozeß in die großen städtischen Zentren
des Südens ein.
11) Zur Geschichte der kommunalen Dezentralisierung
in Italien vgl. außer der italienischen Literatur: J.
Rodriguez-Lores, „Kommunale Dezentralisierung und
politische Planungsbeteiligung in Italien", in:
Stadtbauwelt, 49/1976; B. Dente, „Arbeiterbewegung
und Kommunen. Zur Kritik der Quartiersräte in Italien",
in: arch+, 36/1977.
12) In der Finanzpolitik sind die italienischen
Kommunen in den siebziger Jahren in engere Abhängigkeit
von der Zentralregierung geraten. So liegt seit der
Steuerreform vom 1. 1. 1973 die Finanzhoheit bei der
Zentralregierung. Die Entschädigung, die den Kommunen
für diesen Steuerverlust gewährt wird, bemißt sich auf
der Basis der kommunalen Einnahmen im Jahre 1972.
Aufgrund der starken Geldentwertung aber hatte sie sich
real bis 1975 um mehr als die Hälfte verringert. Vgl.
dazu: G. Pazzeschi, „Kommunale und interkommunale
Planung in Bologna. Vorschläge für die Wiederherstellung
des strukturellen Gleichgewichtes in den öffentlichen
Finanzen", in: Kooperierende Lehrstühle für Planung der
RWTH Aachen (Hrsg.), Sozialorientierte Stadterhaltung
als politischer Prozeß. Praxisberichte und Analysen zu
Re-formprojekten in Bologna und ausgewählten deutschen
Städten, Köln 1976 (Kohlhammer), S. 56-71.
13) Der Begriff „Baublock" („blocco edilizio") ist in
der italienischen Diskussion in erster Linie ein
historischer Begriff, der die städtebauliche Praxis
unter den Mitte-Links- und christdemokratischen
Regierungen seit den sechziger Jahren bezeichnet, und
gleichzeitig ein politischer Begriff, der bei der
Bildung von Strategien von Klassenallianzen im Kampf um
die Stadt bestimmend ist. Der Begriff als solcher
bezeichnet eine einheitliche Front von historischen
Interessen, auf die die kapitalistische Bauproduktion in
Italien konkret gegründet ist: Interessen der
Grundeigentümer, der Spekulanten, der Bauunternehmer,
der Kreditanstalten, der Hauseigentümer und derjenigen
Bevölkerungsgruppen, die als potentielle Haus- oder
Wohnungseigentümer fungieren, sowie der Teile des
politisch-administrativen Systems, die diese Interessen
unterstützen.
14) Als politischer Faktor der Stadt- und
Territorialplanung haben sich die gewerkschaftlichen
„Zonenräte" besonders bewährt - territorial organisierte
Basisorganisationen der Gewerkschaften, die die
Reproduktionsfragen der Arbeiter zum Gegenstand ihrer
Arbeit haben.
15) Hier sind u. a. die letzten Wahlerfolge der
linken Parteien zu nennen, die in den Kommunal- und
Regionalwahlen ab 1975 die Mehrheit der Stadtregierungen
in den großen Industriezentren sowie die wichtigsten
Regionalregierungen stellen konnten.
16) Ein interessantes historisches Beispiel ist der
Reformismus im Städtebau der zwanziger Jahre. 1918
schrieb W. Rathenau: „Die Grundlage des neuen
städtischen Wohllebens muß der städtische Boden bilden,
der weder für den Millionenbauer noch für den
Grundstücksschieber, Bauspekulanten und Mietstyrannen
gewachsen ist ... Dagegen muß der städtische Grund, neu
gebaut ... nach einigen Menschenaltern freies Eigentum
der Gemeinde geworden sein. Die architektonische
Verwahrlosung unserer Straßen wird, solange sie besteht,
ein sichtbar mahnendes Zeugnis geben von der
Verwahrlosung unserer Wiitschaftsbegriffe, die einem
Stande unbewußter Monopolisten eine beliebig gesteigerte
Besteuerung der Gemeinwesen in ihren besten Jahrzehnten
zugewendet und unzählige Milliarden an bürgerliche
Rentenempfänger verschenkt haben." (Die Neue
Wirtschaft, 1918, 42).
17) Dies schließt nicht aus, daß dieser
kapitalistische Gesamtprozeß durchaus konfliktuellen
Charakter haben kann, und das schon allein aufgrund der
Tatsache, daß auch der kapitalistische Block aus oft
konträren Interessen besteht. Man denke z. B. an die
zweideutige Funktion des Grundeigentums bei der
kapitalistischen Entwicklung der Stadt: dient es (vor
allem in den historischen Wachstumsphasen) als Kanal und
Instrument für die Durchsetzung einer bestimmten Form
der Entwicklung, so kann es auch (vor allem durch
Überteuerung der Reproduktionskosten in Rezessionsphasen
usw.) als Störfaktor der Entwicklung fungieren. Ähnlich
zweideutig hat die urbanisti-sche Planung ihre
Beziehungen zum Grundeigentum gestaltet: stand bei der
Entstehung des modernen urbanistischen Plans im 19.
Jahrhundert primär die Absicherung der Grund- und
Hauseigentümerinteressen im Vordergrund, so sollte der
„Plan" in anderen historischen Phasen die Funktion
haben, die Wirkungsweise der Grundrente zu regulieren,
ja sie einzudämmen und zu bekämpfen.
18) Es geht also um eine Lösung der Stadtfrage vom
Standpunkt des Gebrauchswerts der Stadt für die
Reproduktion des Lebens und um eine Lösung der damit
verbundenen „Finanzfrage" als ökonomisch-rationellerer
und kostensparender Allokation der vorhandenen
Ressourcen. Beide hängen aber von der Realisierung jener
politischen Hypothese ab, die schon zuerst Engels in
bezug auf eine „sozialistische" Lösung der Wohnfrage
formulierte: „Ich bin zufrieden, wenn ich nachweisen
kann, ... daß (in unserer Gesellschaft) Häuser genug
vorhanden sind, um den arbeitenden Massen vorläufig ein
geräumiges und gesundes Unterkommen zu bieten. ... Und
da haben wir schon gesehen, daß der Wohnungsnot sofort
(nach einer sozialen Revolution) abgeholfen werden kann
durch Expropriation eines Teils der den besitzenden
Klassen gehörenden Luxuswohnungen und durch
Bequartierung des übrigen Teils." (F. Engels, Zur
Wohnungsfrage, Frankfurt a. M. 1974,8. 107 und 56). Was
die heutigen Stadtkämpfe und ihre organische Verbindung
mit der lokalen Politik und Planung zeigen können, ist,
daß diese politische Hypothese Engels' dynamisch
interpretiert werden muß, als ein Prozeß, der schon
heute in der kapitalistischen Gesellschaft einsetzt.
Editorische Hinweise
Leseauszug aus: Stadtkrise und soziale Bewegungen, hrg. v. Margit
Mayer u.a.Köln/Ffm 1978, S, 149-157