Ein fünftägiges Treffen von rund 3000 Anarchisten aus aller Welt
Zwei kommentierende Berichte vom internationalen anarchistischen Treffen,  8. bis 12. August 2012 in St.Imier (Schweiz)

von w.m. und zottel

08-2012

trend
onlinezeitung

Ein kraftvoller Schritt in die richtige Richtung

von w.m.

Das Internationale Anarchistische Treffen und damit gleichzeitig der Kongress der Internationale der anarchistischen Föderationen (IFA) liegen hinter uns. Mehr noch als die großen Podiumsdiskussionen, Infostände und Vorträge schwingen in vielen von uns sicher noch die individuellen Eindrücke nach: Das gemeinsame Singen mit mehreren hundert Genoss_innen aus aller Welt, die vielen Einzel- und Kleingruppendiskussionen, der Sternschnuppenregen bei der gemeinsamen, nächtlichen Ankunft in den Camps, die Herzlichkeit und politische Offenheit vieler Einwohner_innen St. Imiers…

Das Treffen war so facettenreich und Komplex, dass eine detaillierte Betrachtung und Auswertung wohl erst in einigen Wochen und dann wohl in Form einer Broschüre erbracht werden kann. Bis dahin sind in einigen Städten schon jetzt Auswertungstreffen und Präsentationen geplant. Schon jetzt lässt sich jedoch absehen, dass das Treffen auch für viele kleinere Städte im deutschsprachigen Raum eine elektrisierende Wirkung hatte und zum Teil mehrere Dutzend Menschen aus einer Stadt den beinahe tausend Kilometer langen Weg antraten.

Diese Anziehungskraft gilt es für uns als Anarchist_innen nun zu nutzen und wieder in unsere Städte zu tragen. Das Gefühl einer globalen Verbundenheit, der Solidarität und einer kämpferischen Aufbruchstimmung soll auch Einzug in die Gruppen der verschlafensten deutschsprachigen Städte halten.

St. Imier hat dabei gezeigt, wie wichtig die internationalen und überregionalen Organisationen sind, ohne die Treffen in der Größe aber auch die meisten Publikationen und sonstige Infrastruktur nicht möglich wären. Auch ein Genosse aus Griechenland unterstrich in seinem Bericht, dass Griechenland vielleicht die größte anarchistische Bewegung Europas habe, diese jedoch durch ihren dominierenden organisations- und planungsfeindlichen Insurrektionalismus außerhalb von Kleinprojekten und Straßenkampf der desolaten Situation Griechenlands konzeptlos gegenüber steht. Ein weiteres Beispiel waren die Debatten um den nächsten europaweiten M31-Aktionstag, der wieder mit einem spanischen Generalstreik verbunden werden soll. Diese Form des Massenprotestes wäre ohne die Informations- und Entscheidungsfindungsstrukturen der beiden anarchistischen Internationalen IAA (1) und IFA wohl kaum möglich.

Während der Zeit in den Schweizer Bergen war es immer wieder ein wunderbares Erlebnis wie Mitglieder von FdA, FAU (2), ASJ (3) und dem A-Netz Südwest (4) miteinander diskutierten, sich Mut zu sprachen und gemeinsame Ideen aussponnen. Diese inhaltliche und praktische Offenheit zwischen den Mitgliedern der einzelnen Organisationen gilt es auch in der täglichen Arbeit weiter umzusetzen – daraus einen Diskurs und eine Aufgabenteilung zwischen den Organisationen zu entwickeln.

Noch ist aber weiterhin ein großer Teil der Anarchist_innen in Deutschland in keiner dieser Organisationen und hat damit auch keinen oder weniger Zugang zu den strategischen Debatten, der internationalen Kommunikation, der kollektiven Entscheidungsfindung und den gemeinsamen Ressourcen. Des wegen bleibt es vor allem weiter nötig die Vorteile von Kräftebündelung und gemeinsamer Arbeit für die gesamte Utopie aufzuzeigen und Leute zu ermuntern sich zu engagieren. Das derzeitige öffentliche Interesse an anarchistischen Veranstaltungen und Protesten zeigt, dass es nicht unmöglich ist den Anarchismus wieder als treibende gesellschaftliche Kraft und Alternative ins Gespräch zu bringen. Dabei kann es uns gelingen endlich aus dem Schatten reformistisch-linker Parteien und populistischer K-Organisationen zu treten.

Nehmen wir dies als Ansporn und begreifen wir St. Imier und den nächsten M31-Aktionstag dabei als willkommene Schritte in die richtige Richtung.

Anmerkungen

(1) Internationale Arbeiter_innen Assoziation. Anarchosyndikalistische Gewerkschaftsinternationale. Mitgliedsföderationen in: Spanien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Serbien, Portugal, Russland, Italien, Polen, Brasilien, Argentinien, Norwegen, Slowakei

(2) Freie ArbeiterInnen Union. Sektion der IAA in Deutschland

(3) Anarchosyndikalistische Jugend. Freie Jugendorganisation

(4) Lokale, ungebundene, anarchistische Föderation, z.T. auch im FdA organisiert

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Gedanken zum Anarchistischen Welttreffen in St. Imier

von zottel

Als noch jüngerer Antifaaktivist beschloss ich nach zunehmenden Zweifeln an der Politik antifaschistischer Gruppen fürs erste etwas Abstand zu nehmen und mich neu zu orientieren. Daraus wurde nichts, denn die Gipfelproteste gegen den G8 in Heiligendamm standen an. Was ich mir mehr als einen temporären Abschluss des Aktivismus vorgestellt hatte, wurde für mich so eindrücklich und motivierend, dass es nur noch ein weiter in organisiert politischen Gruppen geben konnte. Abgesehen von Attac natürlich herrschte auf den Camps und bei den Aktionen trotz der Vielfalt ein Klima der Solidarität untereinander. Im Nachhinein kann man sich fragen, ob es wirklich angebracht war dort Seite an Seite mit Trotzkisten, Leninisten, etc. und diversen reformistischen Organisationen zu stehen. Sicher hat es die gefühlte, damalige Stärke der Bewegung ausgemacht und bleibt so für viele ein prägendes Erlebnis.

Seitdem sind einige Jahre ins Land gegangen. Dresden erlebte ein Hoch anarchistischen Aktivismuses, die Gründung einer lokalen Föderation sowie vieler Projekte in ganz verschiedenen Bereichen. Im Jahre 2010 wurde die Phase anarchistischer Hochkonjunktur überschritten. Danach ist die Entwicklung in einen inkonsequenten Selbstzerlegungsprozess übergegangen (Siehe hier: Auswertung nach drei Jahren Libertären Netzwerk Dresden). Jetzt stellt sich für die neu-illusioniert Aktiven und die alt-desillusioniert Aktiven die Frage: Wie können wir uns neu organisieren? Wie können wir den Trend umkehren? Da liegt es nahe große Hoffnungen in ein Ereignis wie das Anarchistische Welttreffen in St. Imier zu legen. Kann es am Ende eine so große Wirkung auf die Bewegung entfalten wie einst der G8 Gipfel in Heiligendamm oder die Pogrome in Rostock und Hoyerswerda auf die antifaschistische Bewegung der neunziger Jahre?

Die heilende Wirkung des Events für die/ den AnarchistIn liegt weniger in der klaren, eidgenössischen Gebirgsluft als vielmehr darin aus der Vereinzelung gerissen zu werden und einige Tage in einer temporären Gesellschaft leben zu dürfen, die gewisse anarchistische Basics anerkennt – in einer Gesellschaft, die uns nicht als extremistische, verwirrte Freaks an den Rand stellt, sondern uns respektiert egal ob wir wenig materielle Mittel haben, People of Color oder biologisch weiblich sind, etc. . Natürlich bringen wir den Ballast unserer jeweiligen kulturellen Sozialisation mit zu diesem Treffen, aber im Kontext der vielen geografischen Herkünfte verliert sie ihr Gewicht. In St. Imier konnten sich Menschen endlich als Menschen begegnen, sich austauschen und vernetzen. Hier waren wir nicht instrumentalisiert durch strukturelle Eindosungen wie nationale Konstrukte oder gesellschaftliche Stellungen.

Gerne geben wir uns diesem wunderbaren Moment hin, träumen von der sozialen Revolution und vergessen die vielen ungelösten Widersprüche. Das böseste Erwachen dürfte den AktivistInnen von der Anarchist Federation (GB) beschert gewesen sein, als sie zurück auf den britischen Inseln von der Antiterroreinheit begrüßt wurden. Bei Vorträgen vieler Organisationen war von den revolutionären Massen die Rede. Tatsächlich erleben wir eine Entwicklung hin zu massivster Überwachung des Einzelnen, extremen Normativitäts- /Leistungsdruck und einer Umverteilung von unten nach oben. Nationen und Kulturgemeinschaften werden neu entdeckt und gegeneinander in Stellung gebracht. Der Widerstand dagegen ist schwach und zerfasert – jedoch zumindest vorhanden. Ein sehr kleiner Teil dieses Widerstandes ist explizit anarchistisch, ein noch kleinerer Teil organisiert anarchistisch und dieser marginale Teil wiederum zergliedert in die vielen historisch gewachsenen Strömungen des Anarchismus ganz zu schweigen von den verschiedenen Lifestyles. In dieser Ausführung soll keine Kritik der anarchistischen Bewegungen mitschwingen, aber eine Warnung vor Größenwahn, Revolutionsrhetorik mit Bezug auf die globale Arbeiterklasse und somit einer Ablösung von den Realitäten. Natürlich freut es trotzdem, wenn Einzelne von dem Treffen mit neuer Kraft, Überzeugung und Projektideen in ihre sozialen Zusammenhänge zurückkehren und etwas davon an die Umwelt weitergeben.

Im Gegensatz zu den häufiger organisierten Anarchocamps hatte das Treffen in St. Imier nicht nur einen Aspekt des Kennenlernens und des Lebens in einer temporären selbstorganisierten Gesellschaft. Im Vordergrund stand das unglaublich gefüllte Veranstaltungsprogramm, die Buchmesse und der IFA-Kongress. Die Veranstaltungen drehten sich zum Einen viel um anarchistische Theorie und Historie. Zum Anderen stellten Organisationen rund um den Globus ihr lokales Engagement vor. Auch die eine oder andere Diskussionsveranstaltung war angekündigt. Diese verliefen allerdings meist nicht ideal, was auf die Menge der Teilnehmenden und die Vielzahl der Sprachen zurückgeführt werden kann. Die fruchtbareren Diskussionen ergaben sich dann eher spontan vor den Veranstaltungsorten oder an der Seilbahn und fanden häufig sogar über Gruppen einer Sprachzugehörigkeit hinaus statt. Hauptdiskussionspunkte waren unter anderen Möglichkeiten handlungsfähige, hierarchiearme Organisationen aufzubauen, der Klassenbegriff und die Inhalte der anarchafeministischen Diskussionsrunden. Insgesamt wäre das Treffen in seiner Form ohne die vielen, sich zum Teil spontan freiwillig meldenden ÜbersetzerInnen nicht zu Stande gekommen. Auch die organisierenden Gruppen haben sich zuvor mit dem Thema Übersetzung befasst und konnten an einem Veranstaltungsort, dem „Salle de spectacle“, eine professionelle Synchronübersetzungsanlage zum Einsatz bringen. Und weil es ausgesprochen werden muss: Die öffentlichen Küchen mit ihrem bio-veganen Essen waren großartig, zumal man bedenken muss, dass sich die KöchInnen die Veranstaltungen zum großen Teil für ihr Engagement entgehen lassen mussten. Gleiches gilt für die erst spontan zusammengestellte Averness-Struktur.

Das Veranstaltungskonzept konnte es nicht allen Recht machen. Insbesondere aus der insurrektionalistischen Ecke wurde Kritik an dem legalistischen Konzept des Kongresses laut. Aus Protest wurde ein wildes Camp eröffnet. Außerdem gab es Kritik an einer an der Organisation beteiligten Gruppe, der Organisation Socialist Libertaire (OSL). Insbesondere ein Mitglied geriet in den Fokus der Anfeindungen. Die Auseinandersetzung wurde mittels einer Torte ins Gesicht und einer öffentlichen Stellungnahme praktiziert.

Andere wollten sich mehr auf das anarchistische Zusammenleben als auf Vorträge konzentrieren. Sie waren von den kaum sichtbaren oder erreichbaren Organisationsstrukturen wenig erfreut. Kritik bestand weiterhin an der für körperlich Beeinträchtigte schlechten Zugänglichkeit von Veranstaltungsorten und der mitunter schlechten Frauenquote auf den Podien.

Persönlich fehlten mir praxisbezogenere Vorträge, die fähig gewesen wären einen anarchistischen Weg basierend auf einer aktuellen politischen Analyse aufzuzeigen. Zu häufig wickelten sich Akteure in schön klingende, ideologische Worthülsen. Ich hätte gerne im Nachhinein eine genauere Vorstellung gehabt, was denn nun konkret der „dritte Weg“ sein soll, den wir Staat und Kapital entgegenstellen. Mir scheint, dass manche AnarchistInnen Angst haben ihre reine Lehre mit größeren praktischen Experimenten zu beschmutzen.

Gleichzeitig mit dem Anarchistischen Welttreffen fand der Kongress der Internationalen der anarchistischen Föderationen (IFA) statt. Sie stellt ein Organisationsmodell für eine globale Vernetzung anarchistischer Organisationen bereit und hätte hier die (einmalige ?) Möglichkeit gehabt sich der anarchistischen Öffentlichkeit als eine Option der effektiven Vernetzung dazustellen. Leider hat die IFA diese Chance in meinen Augen vertan, was sicherlich auch daran lag, dass keine Erfahrungen mit einem öffentlichen Kongress dieser Größe vorlagen. Aufgrund fehlender Veröffentlichungen vor Ort wurde die IFA als Organisator des gesamten Treffens wahrgenommen, der sich in einem eigenen Gebäude von den anderen AktivistInnen abschottet. Zusätzlich feindselig wirkten die Türkontrollen bei nichtöffentlichen Teilen des Kongresses. Es ist klar, dass es diese geben muss, aber ohne eine Erklärung hinterlassen sie bloß einen schlechten, intransparenten Eindruck. Die öffentlichen Veranstaltungen wiederum waren übersetzungstechnisch im Gegensatz zu den Restveranstaltungen so schlecht organisiert, dass die IFA öffentlich zwangsweise als ignorant oder unprofessionell wahrgenommen werden musste. Ich kritisiere hier auch die heftigen Bildungshierarchien, die durch das undurchdachte Verhalten der IFA zum Tragen gekommen sind. All dies sind Fehler, die ich mir als Mitstreiter des Netzwerks und damit IFA-Mitglied genauso anstreiche.

Wir haben viele Veranstaltungen mitgeschrieben, die auf eine Auswertung warten; Bilder und Gespräche gehen mir durch den Kopf. Ich denke, dass wir viel mehr als anarchistische Literatur von der Buchmesse mit zurückgenommen haben. In uns schlummern neue Ideen, Kräfte und einen neue Lust Realitäten zu hinterfragen und endlich eine anarchistische Praxis denkbar zu machen. Vielleicht ist aber auch das alles bloß ein schöner Traum.
Abschließend möchte ich all denen meinen Dank aussprechen, die in Organisation und Ablauf des Treffens involviert waren, denen die einen weiten Weg und finanziellen Aufwand auf sich genommen haben um dem Treffen beizuwohnen und der Bevölkerung von St. Imier, die sich nicht von einer Hetze großer Boulevardzeitungen beeindrucken lassen hat, sondern den anreisenden AnarchistInnen unvoreingenommen und freundlich gegenüberstand.

 

Editorische Hinweise

Wir spiegelten die  Artikel  von Libertäres Netzwerk Dresden, wo sie am 18.8.2012 veröffentlicht wurden.