Ein wichtiges Interview zu Syrien
„Bewaffnete Gruppen und die herrschenden Kräfte haben den zivilen Widerstand in Syrien vernichtet“

Pierre Barbancey befragte Haytham Manna

08-2012

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 Der Verantwortliche fürs Ausland des Koordinationskomitees für einen demokratischen Wandel – eine der laizistischen und fortschrittlichen Komponenten der Opposition – tritt für einen Neuaufbau des zivilen Widerstands zur Einführung eines demokratischen Übergangs ein.

In Damaskus und Aleppo findet eine bewaffnete Offensive gegen das Regime statt. Wie wird das organisiert? Kann von einer einheitlichen Führung dieser bewaffneten Gruppen die Rede sein?

 Haytham Manna: Vor ungefähr 10 Tagen begann das Regime – wie schon voriges Jahr – den
Ramadan auf ihre Art vorzubereiten: d. h. zu verhindern, dass er der Volksbewegung nutzt. Dazu hat es in mehreren Regionen vorbeugende Maßnahmen getroffen. Gleichzeitig hat es mehrere bewaffnete Gruppen in Gebiete hereingelassen, die es unter Kontrolle hatte. In Damaskus wurden einige Angriffe lanciert, die aber bald eingekreist wurden. Diese Gruppen wurden unerwarteterweise von anderen Gruppen unterstützt, die aus dem Süden kamen, so dass sie etwas länger widerstehen konnten. Damaskus kann aber nicht von 3000 bzw. 5000 Menschen erobert werden. Das ist eine multikonfessionelle Stadt, und bei jedem Angriff einer ideologisch charakterisierten Gruppe wird die Bevölkerung von Panik ergriffen. Da kann die Armee ganz leicht zurückschlagen, wenn die Gesellschaft sich neutral verhält – im weiteren Sinn des Wortes. Unser Problem ist nun, dass die verbissensten Kampfgruppen auch die radikalsten islamischen Kräfte sind. So hat die ganze Gesellschaft Angst. Da pokern mehrere lokalagierende Gruppen, die aber nicht imstande sind, die Aktionen auf nationaler Ebene zu koordinieren. Eine nationale Strategie gibt es nicht.

 Ist das syrische Regime so einheitlich wie es aussieht?

Das glaube ich nicht. Seinem Wesen nach weist das syrische Regime eine Solidarität zwischen militärischen Interessengruppen auf, Überläufer gibt es keine. In Wirklichkeit aber strebt jeder danach, sich im zukünftigen Syrien einen Platz zu sichern, daher ist diese Solidarität nur Schein. Wer hat das Attentat auf die Minister verübt? Das kann noch keiner sagen. Dafür kann man sagen, dass zum ersten Mal seit dem 18. März 2011 ein Bombenattentat verübt wurde, das keiner gehört hat und wo kein Krankenwagen gesehen wurde, über das jedoch im syrischen Fernsehen und von der libanesischen Hisbollah berichtet wurde.

Wird die gewaltfreie und demokratische Volksbewegung, die die Revolte vom vorigen Jahr initiiert hat, nicht verdrängt durch diese bewaffneten Gruppen mit starker islamistischer Prägung?

Die bewaffneten Gruppen bzw. die vom Regime gewählte militärische Lösung haben den zivilen Widerstand vernichtet. Denn so stark und weitverbreitet die friedlichen Demonstrationen auch sind, haben wir nicht mehr mit einem Zehntel dessen zu tun, was vor einem Jahr da war. Friedliche Initiativen sind deutlich im Rückgang begriffen. Und wenn heute von einer kleinen Demo in irgendeinem Dorf die Rede ist, wird dem keine Aufmerksamkeit geschenkt, als nützte sie nichts. Das militärische Vorgehenhat über den politischen Diskurs gesiegt, der die Menschen zusammenbringen und in Syrien kurzfristig eine friedliche Lösung herbeiführenkönnte.

Die Opposition ist gespalten. Ihr arbeitet nicht mit dem seinerseits in die Hände der Islamisten geratenen Syrischen Nationalrat (CNS) zusammen. Ist das kein Faktor der Abschwächung?

Die Vorstellung, dass etwas von außen aufgebaut werden sollte, hat die Entwicklungen im eigenen Land geschwächt. Man ging davon aus, dass das syrische Volk bei den internationalen Institutionen von einer außerhalb seiner geschaffenen Struktur repräsentiert werden konnte. Diese Struktur repräsentiert die syrische Gesellschaft und die einheimischen Kräfte aber nicht wirklich, außerdem hängt sie vom Willen dreier Staaten ab: Frankreich, die Türkei und Katar. Trotz der ihm gewährten finanziellen, diplomatischen und medialen Unterstützung hat der CNS sein Ziel nicht erreicht. Nun wird die Einigung der Opposition auf anderen Wegen versucht. Mittlerweile sind die lokalen, bewaffneten Gruppen vorgedrungen und radikalisiert worden, zuerst mit finanzieller Unterstützung von salafistischen Gruppen. Jene teilweise „Salafisierung“ der Militärgruppen hat uns in einen internen Konflikt gestürzt. Einerseits gibt es die Angst vor allem Extremen in einer gemäßigten Gesellschaft, in der mehr als 26 religiöse, ethnische und konfessionelle Gruppen zusammenleben. Die ausländische Intervention, ganz gleich ob offiziell oder nicht, hat eine islamistisch gefärbte Ideologie gefördert, zum Nachteil der demokratischen und laizistischen Kräfte. Überdies hat sie Racheakte und religiös motivierte politische Morde begünstigt. Wir haben hier mit Entwicklungen zu tun, die von nicht-syrischen dschihadistischen Strömungen manipuliert und beeinflusst werden, die allmählich einen gewissen Platz im Land einnehmen und sich mit bewaffneten einheimischenislamistischen Gruppen koordinieren. Eine solche Gefahr entsteht infolge des politischen Machtvakuums, denn der zivile Widerstand ist schlecht organisiert und manchmal fehlt er sogar ganz, aufgrund der Präsenz von bewaffneten Gruppen. Es gibt keine politische Übergangslösung und das begünstigt die radikalsten islamistischen Gruppen. Die Laizisten wurden gleich in den ersten Monaten von den Machthabern ermordet, was den Islamisten den Weg bahnte. Mit der Marginalisierung einer politischen Lösung werden auch die demokratischen Kräfte marginalisiert.

Zu den Lösungen zählt der Plan von Kofi Annan. Ist er aber immer noch aktuell? Auch ist von einem Übergang die Rede, aber für einige ist der Abtritt von Baschar Al Assad  Voraussetzung dafür. Was sagen Sie dazu?

Annans Vorschläge boten die Chance eines gewaltfreien Übergangs. Leider hat Katar fast von vornherein diesen Plan untergraben und sich für eine weitere Militarisierung der Opposition entschieden. Der Westen hat auch einen „Plan B“ in Betracht gezogen, aber ohne regionale und internationale Unterstützung ist ein solcher Plan zum Scheitern verurteilt. Dann wird das Problem mit Waffengewalt geregelt: von der loyalistischen Armee oder oppositionellen bzw.  islamistischen Gruppen. Das Fehlen einer politischen Lösung wird uns aber teuer zu stehen kommen. Es wird lokale Kriege geben, und sie bereiten den Nährboden für einen Bürgerkrieg, der zum Aufbau von Milizen, aber gewiss nicht einer Armee führen kann, die imstande wäre, die Bevölkerung während der Übergangsperiode zu schützen.

Editorische Hinweise

Übersetzt von  Michèle Mialane Herausgegeben von  Susanne Schuster

Wir spiegelten den Artikel von TLAXCALA, wo er am 6.8.2012 veröffentlicht wurde.