Das Versprechen "einer Art universellen soziologischen Werkzeugkastens"
Ein Soziologie-„Lehrbuch“, das zum Bachelor-Studium passt
 von  Meinhard Creydt

08-2012

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Wenn ein Soziologie-Student beim Besuch seiner Eltern sich den besorgten Fragen ausgesetzt sieht, ob er denn nun nach der Eingewöhnung in die Universität mittlerweile einmal Aufschluss darüber zu geben vermöge, was es denn bitte schön mit „der Soziologie“ auf sich habe, so kann daraus leicht eine für alle Beteiligten überfordernde Situation entstehen. Der vorliegende Band offeriert Abhilfe und dokumentiert 21 „wegweisende Theoriemodelle des soziologischen Denkens“. Die Herausgeber präsentieren handliche Textauszüge bspw. zu Self-fulfilling prophecy (Merton), Zirkulation der Eliten (Pareto), Gefangenendilemma (Axelrod) u. a. Bei der Auswahl fällt auf, dass Autoren, die für gewöhnlich als Klassiker der Soziologie gelten – u. a. Max Weber, Emil Durkheim, Talcott Parsons – fehlen. Von Marx ganz zu schweigen. Insofern erscheint der auf der Rückseite des Bandes formulierte Anspruch etwas ambitioniert: „In diesem Band finden Sie erstmals kompakt und übersichtlich jene theoretischen Modelle des soziologischen Denkens zusammengestellt, die als wegweisend gelten können.“ Es geht Neckel und seinen Mitarbeitern darum, Wissenschaft (hier: Soziologie) dem Alltagsverstand zu empfehlen, indem sie sie in einer Weise aufbereiten, die s e i n e n Plausibilitätskriterien entspricht. Die Überschriften zu den einzelnen Kapiteln lauten dann auch: „Es kommt anders, als man denkt“ (zu Mertons „Entdeckung“ der unvorhergesehenen Folgen zielgerichteter sozialer Handlungen), „Wer hat, dem wird gegeben“ (zu Mertons Matthäus-Effekt in der Wissenschaft) oder „Teile und Herrsche“ (zu Elias’ „Königsmechanismus“).

Ist es unserem Studenten gelungen, die praktisch-quadratischen Modelle („kompakt und übersichtlich“) sich anzueignen, so vermag er Anschauliches mitzuteilen. Einerseits erfreut es die Eltern unseres Studenten, dass das Kind sie so hübsch mit Aha-Effekten zu unterhalten weiß. Die Übersetzung von Soziologie in den Alltagsverstand bildet aber keine Einbahnstraße. Die Eltern unseres Studenten beschleicht die Ahnung, das Mitgeteilte sei ihnen auch schon vor aller Soziologie bekannt. Wie es eben in den Überschriften zu den Lesestückchen heißt: „Eine Hand wäscht die andere“ oder „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Wenn dies nun aber die Quintessenz sein soll, wozu dann der ganze Aufwand? Die Herausgeber, hätten sie dafür ein Sensorium, würden bei dieser von ihnen beförderten Verkehrung sicher gleich wichtig vom „Pyrrhus-Effekt“ sprechen und ihn mit der Überschrift „Noch so ein Erfolg und Du bist verloren“ versehen.

Bei den von den Herausgebern verfassten „Erläuterungen“ zu den Lesestücken wirkt die immer selbe Machart – am Anfang eine kleine Appetizer-Geschichte, die mit launigen Formulierungen und vermeintlicher Evidenz an den „Spiegel“-Stil erinnert, am Ende einige lieblose Literaturhinweise (überproportional viel Neckel) – auf Dauer etwas ermüdend. Gern wird auf Artikel in Überblickswerken verwiesen, die noch kürzer sind als die inhaltlich knappen „Erläuterungen“. Hinweise auf inhaltlich starke Kritiken an den als „wegweisend“ präsentierten „Sternstunden“ fehlen. Dafür irritieren abenteuerliche Vergleiche, etwa wenn Neckel den „Königsmechanismus“ in der Zeit des Hofs von Versailles im 17. und 18. Jahrhundert mit den Taktiken von Angela Merkel gegen ihre Konkurrenten in der CDU zusammenbringt.

Unangekränkelt von Bescheidenheit schlagen die Herausgeber reklametüchtig auf den Gong und bezeichnen ihren Reader, in dem ca. 80% des Umfangs nicht von ihnen und bis auf 2 Ausnahmen (Bosetzky, Granovetter) zudem aus meist keineswegs entlegenen Quellen stammen, als „Lehrbuch“ (12). Inhaltlich favorisieren sie eine recht spezielle Soziologievariante bei der Beantwortung der Frage, „was soziologische Analyse auszeichnet“ (9). In einem Lehrbuch würde man eine Argumentation erwarten: Es gibt folgende inhaltlich verschiedene Herangehensweisen an die gesellschaftliche Realität und wir entscheiden uns aus von uns angegebenen Argumenten für unseren Zugang. Stattdessen findet der Leser eine kategorische Auskunft vor, als sei sie selbstverständlich: „Die Soziologie erforscht Akteure, die eo ipso immer auch anders hätten handeln können, als sie es letztlich getan haben“ (12). Der Band folgt damit jener Filtrierung des Zugangs zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, die auch anderen Veröffentlichungen von Neckel zugrunde liegt: „Wie es vielleicht auch unserer Erfahrung entspricht, kommt Gesellschaft mehr als Episode denn als Struktur in den folgenden Beiträgen vor“ (Neckel: Die Macht der Unterscheidung. Frankf. M. 1993, 24).

Die kurzen Erläuterungstexte des „Lehrbuchs“ enthalten manch desorientierende Auskünfte: „Ihm (dem Königsmechanismus – Verf.) kommt dadurch anhaltende Bedeutung zu, als die funktionale und soziale Differenzierung in der modernen Gesellschaft zunimmt und somit unverändert die Notwendigkeit koordinierender Zentralorgane besteht“ (290). Sehen wir einmal von der Sprache ab („dadurch …, als“). Zwar hat die Theorie funktionaler Differenzierung bei Luhmann ihren Clou gerade darin, Möglichkeit u n d Notwendigkeit solcher „koordinierender Zentralorgane“ zu bestreiten, aber bei Neckel sollen Theoriemodule (hier: funktionale Differenzierung und koordinierendes Zentralorgan) zusammenpassen wie Legosteine. Neckel und seine Assistentin Titton meinen, „die mikropolitische Schule“ von Crozier und Friedberg bis Bosetzky „eint die gemeinsame Überzeugung, dass menschliches Handeln in Organisationen durch formelle Regeln und übergeordnete Strukturen nicht determiniert ist, so dass Spielräume für Aushandlungsprozesse existieren“ (256f.). Dumm nur, dass Bosetzky gerade g e g e n Crozier/Friedberg Stellung bezieht: „So viele Freiräume gibt es m. E. in großen Organisationen bei weitem nicht; die Dominanz bürokratischer Elemente erscheint mir unbestreitbar; zuviel an Abläufen und Handlungen ist a priori festgelegt, ist unverrückbar in Routineprogramme gegossen, kann durch mikropolitisches Handeln im wesentlichen nicht verändert werden, zumal in den unteren Rängen; der Schwanz kann nicht mit dem Hunde wedeln“ (Horst Bosetzky: Machiavellismus, Machtkumulation und Mikropolitik. In: W. Küpper, G. Ortmann (Hg.): Mikropolitik: Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Opladen 1988, 37).

In Zeiten des bachelor-„Studiums“ braucht niemand unbedingt mehr ganze Bücher lesen, sondern bekommt die einschlägigen „Stellen“ präsentiert. Die „Sternstunden der Soziologie“ ähneln einem Reiseangebot à la „Europa in zehn Tagen“. Der Band spricht sich für eine Soziologie ohne Gesellschaftstheorie aus. Sie thematisiert den Gesamtaufbau und das Strukturgefüge der Gesellschaft. Stattdessen geht es im vorliegenden Band um das im Kontrast zum Popanz „allumfassender Gesellschaftstheorien“ profilierte Angebot „einer Art universellen soziologischen Werkzeugkastens“ (10). Suggeriert wird, es ließe sich leicht trennen zwischen den von den herangezogenen Autoren vertretenen ex- oder impliziten Gesellschaftstheorien und den aus ihnen herauspräparierten kleinen „Theoriemodulen“ (12). Um dieses Vorgehen zu motivieren schrecken die Herausgeber nicht vor der Verkehrung von Positionen in ihr Gegenteil zurück: „Auch Adorno sprach bspw. davon, dass die Sozialforschung der gesellschaftlichen Realität in ihren ‚Konstellationen’ gewahr werden und in ‚Modellen’ denken solle“ (13). Das Zitat wirkt wie eine ausgerupfte Feder. Selbst zur eigenen Vorgehensweise gegnerische Positionen werden ihr imperial eingemeindet. So alternativenlos erscheint den Herausgebern i h r Denken.

Bei aller Rede von nichtintendierten Effekten bilden ausgerechnet jene kein Thema, die dann auftreten, wenn Anwender zu „Theoriemodulen“ greifen unter Ignoranz gegenüber den mit den zugrunde liegenden Theorien verbundenen inhaltlichen Zugzwängen, Risiken und „Neben“wirkungen. Was als konkret imponiert, stellt sich dann als ziemlich abstrakt heraus, ist es doch seiner konstitutiven Kontexte beraubt. Hegels kleiner Aufsatz „Wer denkt abstrakt?“ sollte in keinem Grundstudium fehlen. Wissenschaftliche Erkenntnis gilt der Alltagserfahrung häufig als verkehrt. Ihr zufolge dreht sich die Sonne um die Erde. Auf die Zumutung eines Bruchs mit der Perspektive des Alltagsverstandes kann Gesellschaftstheorie nicht verzichten. Die Problematik, etwas sei gerade insofern und in der Weise n i c h t erkannt, in der es als bekannt erscheint, ist allerdings für die Herausgeber der „Sternstunden“ keine.

Neckel zufolge „weist der Königsmechanismus (also das präsentierte „Modell“ von Elias – Verf.) alle Merkmale einer Akteurkonstellation auf, die aus sich heraus immer weitere Folgen gleichartiger Interaktionsketten bewirkt“ (290). Der Begeisterung an zirkulären Modellen entspricht das Desinteresse für die Wirklichkeit. Ignoriert wird die Kritik an Elias, er gehe auf die Rolle der Regierung und die Entwicklung der Bürokratie nicht ein. „Pauschal überträgt Elias den Königsmechanismus des Hofes auf das ganze Königsreich, ohne hier jemals seine These zu belegen. … So finden auch die sporadisch wiederkehrenden, großen, äußerst blutig verlaufenden Volksaufstände (in der Normandie, in der Bretagne, Aquitanien, Provence usw.) nicht die geringste Andeutung, obwohl gerade sie seit zwanzig Jahren besonders beliebter Forschungsgegenstand sind (Porschnew, Mousnier, Tilly…). … Der Ausbruch der Revolution von 1789 kann aus dem Elias’schen Modell heraus nicht einleuchtend erklärt werden. Der König und die beiden Elitegruppen im unentschiedenen ‚Clinch’ – wo soll da die Revolution herkommen? ... Das Modell erweist sich als statisch, verschlossen für diese dynamischen Prozesse“ (Albert Cremer: Höfische Gesellschaft und ‚Königsmechanismus’ – zur Kritik an einem Modell absolutistischer ‚Einherrschaft’. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium. Bd. 12, 1983, S. 230f.).

Der Band verbreitet in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Perspektiven mit Popitz’ Prozessen der Machtbildung, Paretos Elitenzirkulation, Michels „Unvermeidlichkeit der Funktionärsherrschaft“ und Elias’ Königsmechanismus eine Botschaft: Substanzielle Reformen und Gesellschaftstransformation zu denken – das kann im soziologisch abgeklärten Horizont nur ein Fall sein für den Generalverdacht des Illusorischen. Albert O. Hirschman hat das „Denken gegen die Zukunft“ oder „die Rhetorik der Reaktion“ analysiert (München 1992) und drei Grundfiguren herausgearbeitet. Ihnen zufolge verkehrt sich das Handeln in sein Gegenteil (Sinnverkehrungsthese), bleibt vergeblich (Vergeblichkeitsthese) oder gefährdet in seinem Erfolg andere Errungenschaften (Gefährdungsthese). Dem Alltagsverstand sind diese drei Thesen allzu plausibel. Die Herausgeber sehen ihre Aufgabe nicht darin, solche Evidenzen ergebnisoffen infragezustellen. Sie präsentieren zum Alltagsverstand passenden und ihn gelehrig-unterhaltsam bestätigenden Modellplatonismus. Geistige Risikoscheu als heimlicher Lehrplan. Um es in der von ihnen so geschätzten Sprichwort-Form zu sagen: „Pessimism is easy, optimism makes work“ (Erik Olin Wright).

Zum vorliegenden „Lehrbuch“, das Theorien zu Modellen und Modelle zu Modulen transformiert, Gesellschaft zu Episoden verkürzt und Erfahrung und Theorie kurzschließt, passt die Werbung des Verlags. Zitiert wird stolz aus einer FAZ-Rezension (vom 1.10.2010): „ein nützlicher theoretischer Wälzer aus dem Unterhaltungsfach“. Verlag und Herausgeber fassen „Unterhaltungsfach“ als Kompliment auf.
 

Sighard Neckel, Ana Mijic, Christian von Scheve, Monica Titton (Hg.): Sternstunden der Soziologie. Wegweisende Theoriemodelle des soziologischen Denkens.

Frankfurt/New York (Campus) 2010.
501 Seiten, 24,80.-

Die Besprechung erhielten wir vom Autor zur Zweitveröffentlichung. Erstveröffentlicht wurde der Text in: Berliner Debatte Initial, 1/2012; 23. Jg:, S. 147-149