Nichts als Kriminalität? - Die letzten Riots in England
Moritz Altenried: Aufstände, Rassismus
und die Krise des Kapitalismus

besprochen von  Steffen Liebig

 

08-2012

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Der Autor wirft einen kritischen Blick auf die 2011er Riots in England und stellt populären und depolitisierenden Lesarten eine andere Sicht entgegen.

Die Riots, die nach einer friedlichen Demonstration in Tottenham im August letzten Jahres für mehrere Tage erst London und schließlich weitere Städte Englands erschütterten, waren für viele Beobachter_innen überraschend und in ihrer Heftigkeit schockierend. Das Gewaltmonopol des Staates schien – freilich zeitlich und lokal eng begrenzt – für einige Zeit ins Wanken zu geraten. Das dominante Bild in den Medien waren plündernde und Feuer legende Jugendliche, die teils vermummt ihre eigenen Viertel anzugreifen schienen. Schnell waren entsprechende Lesarten zu vernehmen, die den Riots jegliche politische Dimension absprachen und sie auf Opportunismus oder fehlende Moral reduzierten. So war von „reiner Kriminalität“ (Cameron, Premierminister) oder einer „verwilderten [feral] Unterklasse“ (Clarke, Justizminister) die Rede.

Eine politisierende Lesart

Moritz Altenried, Politik- und Kulturwissenschaftler aus London und Berlin, wählt quasi den umgekehrten Weg. Statt sich den hegemonialen und depolitisierenden Lesarten anzuschließen, fragt er gleich zu Beginn, wie „sich die Aufstände in England im August als politisches Ereignis verstehen [lassen]?“ (S. 5). Statt in dem eigentümlichen Ausbleiben politischer Forderungen und Organisierung einen Beleg für den apolitischen Charakter der Riots zu erkennen, plädiert er dafür, dies als „Verweigerung ‚klassischer’ politischer Kommunikation“ (S. 6) zu verstehen und auf eine Krise symbolischer und materieller Repräsentation in „post-politischen Zeiten“ (S. 7) zurückzuführen. In seiner Lesart setzen sich die Rioter – durchaus bewusst und zielgerichtet – gegen einen krisenhaften Kapitalismus und gegen den staatlich verordneten „Ausnahmezustand“ (ebd.) in ihren Vierteln zur Wehr.

Die Frage nach dem politischen Gehalt der Riots, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, behandelt der Autor in einem 70 Textseiten langen Essay mit insgesamt vier Kapiteln, einem Prolog und Epilog sowie vier eingeschobenen kurzen Beschreibungen von konkreten Ereignissen während der Riots.

Von Rassismus über Konsumgesellschaft zu Biopolitik

Im ersten Kapitel beschreibt Altenried institutionellen Rassismus als Hintergrund älterer und jüngerer Riots in England. So hätte sich die soziale Konstruktion „schwarzer Kriminalität“ zu einem „wirkmächtigen Topos im Alltagsverstand der weißen Mehrheitsgesellschaft“ (S. 16) entwickelt und unter anderem zu einem „racial profiling“ und zu rassialisierenden gebietsorientierten Strategien der Polizei geführt. Zutreffend und schlagend wird festgestellt, dass in den letzten Jahrzehnten am Anfang fast aller größeren Riots in England die Tötung eines Schwarzen Menschen durch die Polizei stand. So auch 2011, als die Polizei nach der Erschießung Mark Duggans zunächst falsche Angaben machte, seine Eltern durch die Medien von dem Tod ihres Sohnes erfahren mussten und schließlich die Riots nach einer friedlichen aber vergeblichen Demonstration, mit dem Ziel die Polizei zur Rede zu stellen, ausbrachen. Aufgrund der gerade von der Schwarzen Bevölkerung vielfach als massiv empfundenen Diskriminierung durch die Polizei, seien die Angriffe auf dieselbe (auch) „als Kämpfe um Würde zu verstehen“ (S. 20).

Anschließend kommt Altenried im zweiten Kapitel auf den Zusammenhang von Konsum und Riots zu sprechen. Da ab der zweiten Nacht oftmals Plünderungen und weniger Angriffe im Vordergrund standen, wurden die Rioter oft als „ausgeschlossene [disqualified] Konsument_innen“ (Baumann 2011) charakterisiert. Altenried betont, dass besonders – wenn auch nicht ausschließlich – große Ketten Ziel der Plünderungen gewesen seien und neben vielen Luxusartikeln auch erhebliche Mengen an einfachen Gebrauchswaren gestohlen wurden. In manchen Städten, wie z. B. in Manchester, wurde auch nur aus Geschäften im Stadtzentrum und nicht aus Läden in Wohngebieten gestohlen. So oder so seien die Plünderungen aber nur die Durchsetzung verwehrter Teilhabe an der Konsumgesellschaft mit anderen Mitteln:

„[D]ie Plünderungen [sind] als kollektive Aneignung von Gütern nicht nur eine zwangsläufige Reaktion auf Armut, sondern als kollektive Aneignung auch ein Eingriff in die symbolische Ordnung. Damit sind als sie [sic!] direkt politisch zu verstehen.“ (S. 41)

Hier ist lediglich kritisch anzumerken, dass der Zusammenhang von Riotbeteiligung und Armut zwar plausibel und zudem empirisch sehr gut zu stützen ist, doch ist die oben beschriebene Reaktion keineswegs „zwangsläufig“, wie die Masse an Nicht-Aufständischen in ähnlichen sozio-ökonomischen Lagen zeigt (und der Autor selbst an anderer Stelle betont).

Gleichzeitig plädiert Altenried dafür, die komplexen strukturellen Antagonismen im Hintergrund der Riots im Auge zu behalten: „In der neoliberalen Stadt haben sich die Klassenformationen und -widersprüche stark ausdifferenziert“ (S. 34). Entsprechend dieser fragmentierten Klassenstruktur seien selbst die Plünderungen kleinerer Geschäfte und eigener Viertel zwar „vermutlich nicht förderlich für die politische Vermittlung der Kämpfe und teilweise auch mit tragischen Schicksalen, Gewalterfahrungen und Traumata verbunden“ (ebd.), aber deshalb noch nicht wahllos erfolgt. Vielmehr spielten auch hier tatsächliche Interessengegensätze eine Rolle.

Im dritten Kapitel kommt Altenried unter anderem auf ein paar Eigenheiten Londons zu sprechen. Dort gebe es zwar keine Ghettos wie in US-amerikanischen Metropolen und sei die Armut (noch) nicht aus den zentrumsnahen Gebieten verdrängt worden, doch gleichzeitig sei London die Großstadt mit der höchsten ökonomischen Ungleichheit in Europa. Die Segregation vollziehe sich dort kleinteiliger mittels einer Vielzahl symbolischer und materieller Barrieren und auf engstem Raum. Sie werde begleitet von einer intensiven Sicherheitsüberwachung und fortgeschrittener Privatisierung des Sozialen.

Zuletzt werden einige Punkte aus dem Themenfeld Biopolitik behandelt. Verkürzt ausgedrückt versteht Altenried darunter – im Anschluss an Michel Foucault – eine Sicht auf die Bevölkerung als Organismus oder Körper und entsprechende Regierungspraxen, um sie möglichst zu steuern. Derartige Sichtweisen, die nahelegen, dass entsprechend drastische Maßnahmen ergriffen werden müssten, wurden tatsächlich durch stark biologisierende Wortmeldungen von Politiker_innen im Anschluss an die Riots in Stellung gebracht. So etwa in einem Statement von Cameron: „Unsere Gesellschaft hat Beulen, die nicht einfach nur kaputt, sondern offen gesagt krank sind” (Cameron 2011; eigene Übersetzung). Nach Altenried „wird ‚der Rioter’ damit am Rande des Menschlichen platziert” (S. 59). Anstelle der Erforschung und der Lösung der sozialen Gründe für die Riots „radikalisiert sich damit eine Logik der Exklusion und Repression gegenüber den vermeintlich ‚kranken Teilen‘ der Bevölkerung, sodass zunehmend von einer autoritären Wende des Neoliberalismus gesprochen werden kann.“ (S. 64)

Ein notwendiges Korrektiv… und notwendig begrenzt

Es sind vor allem die politisierenden und über weite Teile überzeugenden Lesarten, die Altenrieds Buch interessant und zu einem notwendigen Korrektiv zum Mainstream der Reaktionen in Medien und Politik machen. Fast unnötig zu erwähnen, dass bei dem geringen Umfang des Büchleins vieles nur angedeutet werden kann und teilweise undeutlich bleiben muss. Dies gilt insbesondere für einige theoretische Bezüge, wie den auf Biopolitik, aber auch für sozialpolitische Hintergründe, wie zum Beispiel die Rolle der communities in der englischen Gesellschaft.

Zur Frage des politischen Gehalts der Riots wäre es gelegentlich hilfreich gewesen, schärfer zwischen im engeren Sinne politischen Intentionen von Riotern und der politischen Relevanz der Riots zu unterscheiden. Denn es ist zwar ohne Frage richtig, dass „Diebstahl in einem kapitalistischen System eine immanent politische Bedeutung hat“ (S. 31); doch erscheinen dann alle Riots oder Plünderungen per se immer schon als politisch. Letzteres mag sogar durchaus richtig sein und doch verliert ein solcher Politikbegriff, wie alle (zu) weiten Definitionen, an analytischer Schärfe.

Die politische Bedeutung entsteht nach Altenried – neben dem Angriff auf die öffentliche (Eigentums-)Ordnung – jedenfalls vor allem durch „die bewusste Absage an eine Mehrheitsgesellschaft und ein politisches System, von dem sich viele der Aufständischen nichts mehr erhoffen“ (S. 53). Inwieweit die Rioter dabei tatsächlich bewusst handelten, ist freilich eine sehr schwierig zu beantwortende Frage und darüber hinaus auch Abwägungssache: Will man das gegebenenfalls spontane Plündern als bewusst bezeichnen? Schließt eine bewusste Handlung notwendig die Reflexion auf mögliche Konsequenzen ein?

Ist von den Riots schließlich eine verändernde, gar emanzipatorische Praxis zu erwarten? Manchmal erscheinen die Interpretationen und Implikationen von Altenried ein wenig zu optimistisch und emphatisch. So wäre es möglich, dass die Riots als „Antwort auf die hoffnungslose Situation, die der neoliberale Kapitalismus in vielen Stadtvierteln geschaffen hat“ (S. 41) nur noch mehr Hoffnungslosigkeit offenbaren, aber eben keine Antwort enthalten. Weiterhin ist zwar unbestritten, dass eine herrschaftliche Vereinnahmung dieser Form von Protest schwer fallen wird. Doch stimmt es wirklich, dass sich in den Riots die „Suche nach der Rückkehr des Politischen (…) jenseits von Repräsentation“ (S. 72) artikuliert oder scheint hier doch eher ein eklatanter Mangel an Vorstellungskraft und Perspektiven durch, der sich kaum hinter der nur abstrakten – und mitunter sehr destruktiven – Negation des Bestehenden verstecken kann? Als wie gravierend ist schließlich die „Schwäche der Aufstände“ zu bewerten, dass es nicht gelang „eine politische Perspektive oder Utopie zu entwickeln“ (S. 54)?

Im Großen und Ganzen gilt: Fragen, wie die obigen, kann und will Altenried nicht abschließend beantworten. Und das ist auch gut so. Worauf er abzielt, ist die Eröffnung einer politischen Perspektive. Es geht ihm darum, den Diskurs über die Riots emanzipatorisch zu öffnen, um dahinter liegende Strukturen und Motivationen überhaupt erst verstehbar und sichtbar zu machen – den Diskurs einseitig zu schließen, haben schon andere, vorzugsweise hochrangige Politiker_innen, versucht und sind damit viel zu lange viel zu gut gefahren.

Diese Öffnung ist gelungen. Insgesamt bietet Altenrieds kurzes Buch somit, was es anfangs verspricht: Nämlich einen anregenden, mitunter selektiven, aber immer engagierten Blick auf die 2011er Riots in England. Es ist ein manchmal durchaus provokanter Text und ausdrücklich keine Abhandlung unter Einbeziehung aller relevanter wissenschaftlicher Literatur. Das macht ihn aber nicht weniger lesenswert.

Zusätzlich verwendete Literatur

Baumann, Zygmunt (2011): The London Riots. On Consumerism coming Home to Roost. Online verfügbar

Cameron, David (2011): PM statement on violence in England. Online verfügbar

Moritz Altenried 2012: Aufstände, Rassismus und die Krise des Kapitalismus. England im Ausnahmezustand. edition assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-10-2. 80 Seiten. 9.80 Euro.

Moritz Altenried
Aufstände, Rassismus und die Krise des Kapitalismus.

England im Ausnahmezustand.


edition assemblage, Münster.
ISBN: 978-3-942885-10-2.
80 Seiten. 9.80 Euro.

Die Besprechung spiegelten wir von http://www.kritisch-lesen.de.