Wie nun sieht auf Grund der
erörterten Prämissen der Althussersche Zugang zur »originären
Problematik« des Kapitals aus? Althusser, und dem ist
zunächst beizupflichten, empfiehlt eine »symptomatische Lektüre«
des Marxschen Werks, eine solche nämlich, die jenen Motiven
nachspürt, die objektiv in ihm angelegt sind, aber erst heute
interessant werden; Marx selbst mußten sie unbewußt bleiben. Der
Verfasser dieses Aufsatzes vertritt seit Jahren die Ansicht, daß
Marx in seinen programatischen Vor- und Nachworten, die immer
wieder als verbindlich zitiert werden, weit hinter dem
zurückbleibt, was er in seinen materialen Untersuchungen
theoretisch leistet. Daraus nun aber — wie dies bei Althusser
geschieht — zu schließen, das Marxsche Selbstverständnis sei
völlig belanglos für die philosophische Interpretation, ist
ebenso verfehlt wie ein allzu naives Hinnehmen der Texte. Wohin
es führt, wenn die Selbsteinschätzung eines so reflektierten
Schriftstellers wie Marx gänzlich mißachtet wird, zeigt sich
besonders scharf an der Tendenz des »strukturalisierten«
Marxismus, jedes sachliche Fortwirken Hegels im Kapital
zu leugnen, nur um ja dem Marxschen Unternehmen den Glanz
radikalen Neubeginns verleihen zu können. So fegt Althusser die
gesamte Literatur über Marx seit Geschichte und
Klassenbewußtsein beiseite, wenn er »die ganze modische
Theorie der >Verdinglichung< zu einer bloßen Projektion der
Entfremdungstheorie der Frühschriften auf die Analyse des
Fetischcharakters der Ware im Kapital stempelt.(34) Es
geht hier, wohlgemerkt, nicht darum, den inflationären - Marx
hätte gesagt »belletristischen« — Gebrauch der Kategorie der
Entfremdung oder des Humanismus zu verteidigen, wie er sich
neuerdings bei Theologen eingebürgert hat. Althusser ist
zuzustimmen, wenn er dagegen polemisiert, daß »die Zuflucht zur
Moral, die tief in jeder humanistischen Ideologie verankert
ist«, oft genug dazu dient, reale Probleme »imaginär« zu
behandeln.(35) Ebenso berechtigt ist es, wenn er daran erinnert,
wie sehr die kritische Theorie nach 1850 genötigt war,
objektiven Strukturen gegenüber subjektivmenschlichen Momenten
den Vorrang einzuräumen; die Entfremdungsthematik kommt zwar dem
Begriff wie der Sache nach beim reifen Marx durchaus noch vor,
aber sie wird nicht mehr an den abstrakten Kategorien eines (von
Feuerbach inspirierten) aktivistischen Humanismus, sondern an
den Inhalten der politischen Ökonomie entwickelt.
Freilich — und das wird von Strukturalisten meist übersehen —
sind die Menschen für den dialektischen Materialismus keineswegs
nur »Objekte« fester Ordnungen, sondern immer auch »Subjekte«
ihrer jene Ordnungen stets wieder aufsprengenden Geschichte.
Diese entsteht »dank der einfachen Tatsache, daß jede Generation
die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte
vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen [.
. .]. Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die
Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen
bewußt sind oder nicht«.(36) Am Anfang des Achtzehnten
Brumaire hebt Marx in einem be-
rühmten Satz hervor, daß die Menschen »ihre eigene
Geschichte« machen, wenn auch »nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundnen, gegebenen und
überlieferten Umständen«.(37) Aus beiden Zitaten geht schlagend
hervor, daß Marx darin streng dialektisch dachte, daß er nie
über den fertigen Produkten das Produzieren, nie über den
Strukturen die strukturierende Tätigkeit vergaß. Die
dialektischen Materialisten, betont auch der reife Marx,
verbinden »die wissenschaftliche Einsicht in die ökonomische
Struktur der bürgerlichen Gesellschaft« mit dem Kampf »um
selbstbewußte Teilnahme an dem unter unsern Augen vor sich
gehenden geschichtlichen Umwälzungsprozeß der Gesellschaft«.(38)
Auch hier bilden Struktur und Prozeß eine untrennbare Einheit.
Jede Gegenwart ist durch Vergangenes strukturiert und bringt
einen neuen, künftigen Zustand aus sich hervor. Was das
Kapital angeht, dasjenige Werk also, auf das Althus-ser sich
besonders gern beruft, so liefert es ebensowenig eine Handhabe
für »theoretischen Anti-Humanismus« und »Anti-Historizismus« wie
die anderen Arbeiten der Autoren. Untersuchen wir vorerst den
Komplex des »Anti-Humanismus«. In der Tat gibt es beim reifen
Marx nicht wenige Äußerungen, die auf den ersten Blick eine rein
objektivistische Interpretation nahelegen. So unterstreicht er
in seiner Polemik gegen Adolph Wagner, daß seine »analytische
Methode« keineswegs »von dem Menschen, sondern der
ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode« ausgeht.'? Im
»Rohentwurf« des Kapitals heißt es ausdrücklich: »Die
Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt
die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese
Individuen zueinander stehn(40); sie ist, anders gesagt, ein
objektiver Funktionszusammenhang. Im Kapital selbst
schließlich schreibt Marx besonders drastisch, es handle sich
bei seiner Untersuchung »um die Personen nur, soweit sie die
Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von
bestimmten Klassenverhältnisen und Interessen«.(41)
Aber diese den Strukturalisten so imponierende Objektivität
des Sozialen ist für den Dialektiker Marx kein unableitbar
Letztes. Er begreift sie als produziert, »vermittelt« durch die
zwar subjektiv bewußten, aber hinsichtlich ihres
gesellschaftlichen Gesamtresultats unbewußten Handlungen der
Menschen. »Sosehr nun«, entwickelt der Marxsche Rohentwurf,
»das Ganze [. . .] als gesellschaftlicher Prozeß erscheint,
und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten
Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr
erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver
Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem
Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber weder
in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert
wird. Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über
ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht [. . .].
Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als
verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun
vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger
Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt
nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist«.(42)
Wenn irgendwo, dann wird hier einsichtig, wie unzulänglich
die strukturalistische Interpretation der Marxschen Ökonomie
ist. Bei aller Präponderanz der objektiven Strukturen im
kapitalistischen System denkt Marx gar nicht daran, deren
Ver-mitteltheit durch die lebendigen Menschen zu ignorieren. Daß
diese zu bloßen »Trägern« und »Vollzugsorganen« eines unabhängig
von ihnen bestehenden »objektiven Zusammenhangs« herabgesetzt
werden, ist für ihn nicht etwa wissenschaftliche Norm, sondern
Anlaß zu schärfster Kritik; denn »der Mensch« kann als »freies
gesellschaftliches Individuum« zum Ausgangspunkt des Denkens
erst dann werden, wenn er in der Realität kein Anhängsel
entfremdeter, weil unbeherrschter Strukturen mehr ist. Marcuse
hat denn auch nachdrücklich auf Elemente eines »kommunistischen
Individualismus« bei Marx und Engels hingewiesen (43) darauf,
daß die Autoren bereits in der Theorie jeden Fetischdienst
hinsichtlich der Sozialisierung der Produktionsmittel oder des
Wachstums der Arbeitsproduktivität zurückweisen; daß sie diese
Faktoren der Idee einer allseitigen Entfaltung individueller
Anlagen und Kräfte unterordnen. Soweit die Strukturalisten sich
dabei bescheiden, vorhandene Strukturen aufzuweisen und zu
zergliedern, versehen sie diese mit einer Art metaphysischer
Weihe; ihre Theorie wird, mit anderen Worten, ungewollt zur
Apologetik des Bestehenden. So übersieht Althusser völlig, daß
seine Reduktion der (in Wahrheit geschichtlich motivierten)
Lehre von der materiellen Produktionsweise des Lebens auf eine
»Kombinatorik«, ein »System von Formen(44) den - im
theoretischen Sinn - kritischen Impuls bei Marx unterschlägt.
Solange »les vrais >sujets< (au sens de sujets constituants du
proces)« nicht »les >individus concrets<, les >hommes reels<
(45) sind, sondern die subjektlosnaturwüchsigen
Produktionsverhältnisse, herrscht ein falscher Zustand. Ihn kann
die strukturalistische Marx-Interpretation innertbeoretisch
nicht wirklich bewältigen, weil die (auch materialistisch
nicht zu überspringende) Konstitutionsfrage außerhalb ihres
Horizonts verbleibt; sie kann ihn lediglich moralisch verdammen
- in den Kategorien eines der politischen Sphäre entlehnten
Humanismus. Daß sich die bürgerlichen Produktionsverhältnisse
nicht auf eine »intersubjectivite an-thropologique (46) (die
freilich stets auch die produktive Beziehung der Menschen zur
Natur einschließt) zurückführen lassen, steht bei Marx gerade
zur Kritik. Althusser jedoch trennt, wie wir bereits sahen,
seine theoretische Konstruktion von der Idee der
Weltveränderung, an welcher der Wissenscbaßsbegriff des
dialektischen Materialismus gerade orientiert ist.
Erkenntnistheoretisch ist Althussers Interpretationsansatz im
strengen Sinn »naiv«, weil er die ökonomische
Subjekt-Objekt-Dialektik zugunsten eines formalisierten
Objektivismus aufgibt. Für Marx ist der wahre Gegenstand der
Erkenntnis »ein von der zufälligen Erscheinung wesentlich
unterschiedner und sie bestimmender Hintergrund«, der sich
freilich zugleich in der Erscheinung manifestiert, in ihr
aufscheint, durch sie »durchleuchtet«, wobei letztere immer auch
konstitutiv fürs Wesen* ist.(47) Dieser den
materialistisch-dialektischen Begriff von Wissenschaft geradezu
definierende Gedanke ist für den Strukturalismus unbrauchbar, wo
nicht gar sinnlos. Zwar gibt es auch für Althusser einzelne
»Ebenen« der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die durch ihre
Beziehungen zum Ganzen signifikant werden. Aber, und darin liegt
die entscheidende Differenz zu Marx, solche Beziehungen sind,
wie Jaeggi darlegt, »keine Phänomene, keine Widerspiegelungen,
kein Ausdruck eines Ganzen, das sich [. . .] hinter ihnen
befände; sie sind im Gegenteil das Reale selbst, bilden das
Ganze, innerhalb dessen sie ihre Signifikanz annehmen«.(48)
Indem sich Althusser, ähnlich übrigens wie die amerikanische,
funktionalistisch gerichtete Soziologie (vor allem Parsons) am
kahlen Modell eines komplex strukturierten Ganzen orientiert,
das heißt an einem fertigen System, in das untergeordnete
Strukturen (ideologische Bereiche) einzugliedern sind, wird sein
Denken »eindimensional« im Sinn Marcuses. Mit den leibhaftigen
Menschen und ihren ungestillten Bedürfnissen, die (in seiner
Theorie jedenfalls) der starren Logik des sozialen Systems
überantwortet werden, eliminiert Althusser materiale Geschichte,
mit ihr die Idee des Werdens überhaupt.
Fußnoten
34) Cf. Marxismus und Humanismus, in: l. c., S. 180, Fußnote.
35) Ibid., cf. S. 201f
36) Marx an P. W. Annenkow, Brief vom 28.12.184«, in:
Marx/Engels, ausgewählte Schriften, Band
II,
Berlin 1966, S. 412 f.
37) In: ibid., Band I,
Berlin 1966, S. 116.
38) Marx, Herr Vogt, Berlin 1953, S. 75; 76.
39) Marx, Randglossen zu Adolph Wagners Lehrbuch der
politischen Ö konomie,
in: Marx/Engels, Werke, Band 19, Berlin 1962, S. 371
(Hervorhebungen von Marx).
40) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie,
Berlin 1953, S. 176 (Hervorhebungen vom Verfasser).
41) Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 8; Vorwort zur
ersten Auflage.
42) Marx, Grundrisse, 1. c., S. in (Hervorhebung von Marx). -
Cf. zu dieser Dialektik von objektiver Struktur und subjektiven,
sie konstituierenden Akten auch S. 155 f.
43 Cf. die Darstellung der Marxschen Theorie in seinem Buch
Vernunft und Revolution, Neuwied/Berlin 1961, insbesondere S.
159 f.
44) Cf. Jaeggi, 1. c., S. 153.
44) Cf. Jaeggi, l. c.,S. 153
45) Althusser, Lire le Capital, 1. c., S.
46) Ibid.
47) Marx, Das Kapital, Band I, 1. c., S. 69.
48) Jaeggi, I.e., S. 53; cf. auch S. 52, wo Jaeggi darauf
hinweist, daß der Strukturbegriff, wie Althusser ihn benutzt,
nicht mit dem dialektischen Begriff von Totalität gleichgesetzt
werden kann. »Struktur« ist vielmehr ein
»methodologischer Operator [. . .], der es ermöglicht, das
Verschiedene und das Vielfältige zu erklären; gleichzeitig zeigt
die Struktur, daß das Ganze ( -stets schon als feste Größe
gegeben -, A. S.) nichts anderes ist als die Verschiedenheit,
die das Reale ausmacht«.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus Alfred Schmidt: Der
strukturalistische Angriff auf die Geschichte, erschienen in:
Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Hrg. Alfred
Schmidt, Ffm 1974, 4 Auflage, S. 204-209
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