Algerien und Mauretanien:
Zwischen "antiterroristischer Allianz", GSPC-Gestikulationen und Generalamnestie

von Bernhard Schmid (Paris)
08/05

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"Schweig" still, Du Sprachrohr des Teufels, Du, der Du Blut an Deinen Händen hast, das Blut von Reinen". Diese eher undiplomatischen Worte eröffnen eine schriftliche Botschaft an das algerische Staatsoberhaupt, Abdelaziz Bouteflika (oder Boutefliqa, in der "richtigeren" Transkription aus dem Arabischen). In ihr rechtfertigt "Al-Qaïda im Zweistromland" unter dem Jordanier Abu Musab Al-Zarqawi zum wiederholten Mal ­ was eher ungewöhnlich ist ­ die "Hinrichtung" der beiden algerischen Diplomaten Ali Belaroussi und Azzedine Belkadi. Algeriens Botschafter, der kurz vor seiner Pensionierung stand, und der Botschaftsattaché waren Mitte Juli 2005 in Bagdad entführt, durch die Al Qaïda-Gruppe "zum Tode verurteilt" worden.

Dem Mord an den beiden Diplomaten ging keine Forderung voraus. Empörung und Abscheu fielen in der algerischen Öffentlichkeit fast einhellig aus. Allerdings kam es in der politischen Klasse zu einer kurzen Diskussion darüber, ob es klug war, dass Präsident Bouteflika am 24. Juli 05 ­ mitten in der algerisch-irakischen Geiselaffäre - eine Botschaft an die britische Königin Elisabeth II. richtete. Darin bot er London "die Hilfe und die Mitarbeit der Sicherheitsdienste meines Landes, die eine wertvolle Erfahrung bei der Bekämpfung des Terrorismus gesammelt haben", an.

Die Ermordung der beiden Repräsentanten Algeriens in Bagdad wurde drei Tage später, am 27. Juli, bekannt gegeben. Doch sind algerische Sicherheitsexperten, die etwa im westalgerischen "Quotidien d¹Oran" zitiert werden, der Auffassung, dass die beiden ohnehin unwiderruflich "zum Tode verurteilt" und möglicherweise in Wirklichkeit bereits tot waren.

"Antiterroristische Allianz" als Staatsräson

Im Übrigen ist die Betonung der Rolle Algeriens in der internationalen "antiterroristischen Front" seit dem 11. September 2001 zu einem wichtigen Bestandteil der algerischen Außenpolitik und damit der Staatsräson geworden. Dies wird in Algier als umso wichtiger betrachtet, als vor diesem Datum das algerische Regime auf internationaler Ebene oft wie ein Paria behandelt worden war. Teile der politischen Klasse in den westlichen Großmächten beschuldigten die Regierung und das Militär, die Massaker der "Bewaffneten Islamischen Gruppen" (GIA, Groupes islamiques armés) an der Zivilbevölkerung selbst angeordnet oder gar durchgeführt zu haben, um sie ihren Gegnern nur in die Schuhe zu schieben.

Diese Behauptung ist zwar nie auch nur annähernd stichhaltig bewiesen worden (einige Artikel dazu sind als Ergebnisse von Manipulation faktisch widerlegt worden). Sie war jedoch in den späten neunziger Jahren vor allem in französischen politischen Kreisen und Medien zeitweise en vogue. Auch in manchen linken bis linksliberalen Kreisen, die glaubten, in Algerien den klassischen Fall einer autoritären Militärdiktatur im Konflikt mit einer progressive(re)n Opposition als Stimme der Unterdrückten vorzufinden, wie früher in Chile und Argentinien ­ und entsprechend "die Opposition" in Schutz nehmen zu müssen. Der französische halblinke Verleger François Gèze, der zu den wichtigsten Verbreitern von Thesen führt, die den algerischen Islamisten Entlastung von den wichtigsten Verbrechern verschaffen sollten, hat diese Parallele zu Chile und Argentinien oftmals explizit und öffentlich gezogen. Dass die Geschichtslegende jedoch größere Verbreitung auch in bürgerlichen Medien (insbesondere über die französische sozialdemokratische Tageszeitung "Libération", die sie eifrig propagierte) finden konnte, ist besonders vor dem Hintergrund der Rivalität zwischen Frankreich und den USA zu erklären.

In den frühen neunziger Jahren hatte zunächst Paris das algerische Regime gestützt, und Washington unterstützte tendenziell den politischen Arm der algerischen Islamisten, die man über den traditionellen Verbündeten Saudi-Arabien zu kontrollieren suchte. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts hatten sich die Allianzen jedoch verändert, die US-Administration hatte sich an das Regime in Algerien angenähert, und nunmehr drohten Franzosen und Europäer ins Hintertreffen zu geraten. Die Drohung mit einer internationalen Diskreditierung des Staates durch den Vorwurf, dieser selbst (und nicht die GIA) organisiere die Kollektivmassaker, erschien zeitweise als probates Druckmittel. Jedenfalls solange Algerien noch um Kredite betteln musste. Die französische Sozialdemokratie und ihr nahe stehende Medien benutzten dieses Druckmittel intensiv, wobei manche Akteure vielleicht unbewusst mitspielten, in dem naiven Glauben, tatsächlichen an der Aufklärung eines Jahrhundertskandals mitzuwirken.

Damals lag der Rohölpreis bei 9 Dollar pro Barrel, im Moment übersteigt er die 60 Dollar. Damit hat sich die strategische Bedeutung der Beziehungen zu Algier, wo sich das Regime seinerseits stabilisieren konnte, verändert. Frühere Behauptungen über den angeblich vom Staat selbst organisierten GIA-Terror verstummten deswegen weitgehend, und stattdessen wird auf allen Seiten die gemeinsame Frontstellung gegen den Terrorismus betont.

Aber: Keine Idylle zwischen westlichen Großmächten und Algerien

Auf politischer Ebene wird Algeriens Präsident Bouteflika deswegen, neuerdings vor allem auch in Washington und London, als "Vorbild und enger Verbündeter" gelobt, gepriesen und scheinbar gehätschelt. Das verhindert aber nicht, dass Algerien gleichzeitig den Eindruck hat, dass man es auf ökonomischer Ebene "am ausgestreckten Arm verhungern" lässt. Denn in Wirklichkeit traut man dem algerischen Staat, mit Ausnahme des lautstarken Lobs für seine "Leistungen in Sachen Antiterrorismus", in den Hauptstädten der westlichen Führungsmächte nicht über den Weg.

Obwohl die Regierung seit mehreren Jahren eine radikale Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik verfolgt hat, konnte sie ihr Ziel, Investoren einen produktiven Sektor im Land aufbauen zu sehen, nur in geringem Maße realisieren. Wirklich florierend ist im Lande allein die Erdöl- und Erdgasindustrie. Aufgrund des hohen Weltmarktpreises für Rohöl wird derzeit der strukturell krisenhafte Charakter der, auf anderen Gebieten völlig von Importen abhängigen, algerischen Ökonomie zwar derzeit überdeckt. Die offizielle Arbeitslosenrate ist von 30,5 Prozent im Jahr 2000 auf noch 17,5 Prozent gesunken ­ allerdings hat man es auch in Algerien zunehmend gelernt, Arbeitslosenzahlen durch statistische Tricks zu schönen.  

Einige der Hauptgründe dafür: Anders als Marokko und Tunesien, die bei den Investionsflüssen systematisch bevorzugt werden, stand das Land im Kalten Krieg lange Jahre auf der "falschen Seite". Noch bestehen auch Restbestände des staatssozialistischen Gesellschaftssystems, das nach der Befreiung vom französischen Kolonialismus 1962 errichtet wurde. Immer noch verfügt Algerien über ein Gesundheitswesen, das in der gesamten Region vorbildlich und eben nicht privatisiert ist, über ein in weiten Teilen öffentliches Transportnetz - und über nicht unbedingt gefügige Arbeitskräfte.  

Die Unmutsanfälle der algerischen Straße sind berüchtigt. Als das Regime im Frühjahr 2002 die kostenlose Gesundheitsversorgung abschaffen wollte, brachen in der ostalgerischen Kreisstadt Ain Fekroun (nachdem dort Patienten ohne Geld aus der Notaufnahme im Krankenhaus abgewiesen worden waren) tagelange schwerste Straßenunruhen aus. Nachdem Staatsgebäude und Gericht der Kreisstadt in Schutt und Asche lagen, wurde landesweit das kostenlose Gesundheitssystem wieder hergestellt. Solche angeblich "irrationalen" Ausbrüche, die in Algerien auf lokaler Ebene häufig ­ aber (leider) kaum politisch strukturiert oder koordiniert ­ sind, bringen das Land bei Investoren in Verruf. Die Umfrage einer Investmentvereinigung ergab zu Jahresbeginn 2005, dass westliche Investoren im Zweifelsfall noch lieber Islamisten in der Regierung sähen als solche "Unordnung".  

Daher rührt der Vorruf der "Instabilität", wobei letztere aber meistens ­ fälschlich ­ immer noch auf die Nachwehen des Bürgerkriegs geschoben wird.  

Zielkonflikt: Stabilität durch Amnestie, oder Betonung der terroristischen Bedrohung?

Auch, um diesem Vorwurf der "Instabilität" zu begegnen, brachte Präsident Abdelaziz Bouteflika (Boutefliqa) vor einigen Monaten die Idee einer neuen Generalamnestie für alle Beteiligten am algerischen Bürgerkrieg und der Folgeperiode auf den Weg. (Siehe ausführlich dazu, unten stehenden KASTEN: "Die kommende Generalamnestie").  

Dabei trat jedoch nunmehr ein spannungsgeladener Zielkonflikt auf. Denn einerseits wurde Bouteflikas Idee einer Generalamnestie als "Schlussstrich unter den Bürgerkrieg" und zur Beendigung der Instabilität von potenziellen westlichen Investoren durchaus begrüßt. Andererseits aber nutzte eine algerische bewaffnete Gruppe die jüngste Situation, um durch lautstarke Gestikulationen auf sich aufmerksam zu machen. Es handelt sich um den GSPC (Groupe salafiste pour la prédication et le combat), die "Salafistische Gruppe für die Predigt und den Kampf". Er spaltete sich um 1999 von den ­ inzwischen weitgehend zerschlagenen ­ "Bewaffneten islamischen Gruppen" GIA ab, weil deren großflächige Massaker an der Zivilbevölkerung dafür sorgten, dass sich die Reste der sozialen Basis des radikalen Islamismus abwendeten. Die Gründer des GSPC versuchten, den harten Kern eines politischen Kaders herauszubilden, der nicht so unmittelbar in kriminelle Interessen der Ausplünderung der Bevölkerung involviert war wie die Reste der GIA und wieder eine längerfristige Vision haben sollte. Wahrscheinlich erhielten sie dabei finanzielle Hilfe vom Netzwerk Al-Qaïda oder dessen Umfeld. Denn dieser Splitter des saudi-arabischen Establishments verfügt über viel Geld ­ und er stellt sein Label bereitwillig auf internationaler Ebene solchen Gruppen zur Verfügung, die in ihren jeweiligen nationalen Kämpfen um Machteroberung bereits gescheitert sind.  

Der GSPC mit heute schätzungsweise noch 250 bewaffneten Mitgliedern ­ mehrere hundert wurden in den letzten anderthalb Jahren getötet oder lieferten ihre Waffen ab ­ ist die letzte Untergrundorganisation, die heute in Algerien noch bewaffnet kämpft und dabei nennenswerte Aktivitäten entfaltet. Andere bewaffnete Islamistengruppen haben sich selbst aufgelöst, wie die "Islamische Rettungsarmee" AIS (die erkannt hatte, dass keinerlei Aussichten auf die anvisierte politische Machteroberung bestanden) oder wurden erfolgreich zerschlagen wie die ultra-verbrecherischen "Bewaffneten islamischen Gruppen" GIA. Von letzteren sind noch kleinere Banden übrig, die vorwiegend kriminellen Aktivitäten ­ sie leben von der Ausplünderung der Bevölkerung ­ dienen. Eine solche Bande aus mutmaßlich acht ehemaligen GIA-Mitgliedern ermordete am 16. August 05 noch drei Personen in Aïn Romana, rund 20 Kilometer südlich von Blida im Atlasgebirge. Letztgenannten Gruppen können zwar im Einzelnen noch beträchlichen Schaden anrichten, haben aber längst keinerlei "politische" Bedeutung mehr.  

"Al-Qaïda in der Wüste": Jagd auf ein Phantom??  

Auf internationaler Ebene dient der GSPC dagegen der algerischen Regierung als ­ negatives ­ Aushängeschild, um ihre Rolle im antiterroristischen Bündnis mit den westlichen Führungsmächten auszubauen. Wie in den letzten Julitagen 2005 bekannt wurde, befinden sich 400 Mitglieder US-amerikanischer Spezialkommandos auf einer Basis in Tamanrasset im äußersten Süden Algeriens. Dort sollen sie "Al-Qaïda in der Wüste", vertreten durch den GSPC, jagen. Dessen Präsenz in der Sahara scheint jedoch eher ein Phantom zu sein: Während des gesamten Bürgerkriegs der 90er Jahre konnten bewaffnete Islamisten, die in den meisten Fällen aus den Großstädten oder Ballungsräumenkommen, nie in der Sahara Fuß fassen. Und die Entführung deutscher Touristen in der Wüste im Jahr 2003, zu der sich der GSPC bekannt hat, scheint eher das Werk von Amateuren denn von gestählten Djihadisten gewesen zu sein. Fast liebenswürdig-naiv klangen die späteren Berichte der Entführten, wonach sich die Geiseln und die Entführer gegenseitig Deutsch und Arabisch beibrachten und die gekidnappten Touristen schon mal gefragt wurden, ob sie nicht bitte schön wüssten, was man in so einen Bekennerbrief denn hineinschreiben könne. Das klingt nicht nach Praktiken wie bei Al-Zarqawi.  

Der Gruppe werden noch weitere Überfälle mitten in der Wüste zugeschrieben. Diese wurden in Wirklichkeit wahrscheinlich von Nomadengruppen auf der Suche nach Einnahmequellen begangen. Die, meist aus Großstädten stammenden, islamistischen Aktivisten würden allein in der Sahara nicht überleben. Der GSPC ging aber mitunter eine lockere Kooperation mit Nomaden- oder Banditengruppen in der Wüste ein, bei denen er manchmal seine Gewehre einkauft. Dies erlaubte ihm anscheinend, bei manchen Entführungsaktionen sein Label zur Verfügung zu stellen ­ damit es bedrohlicher klang. Vor allem die Connection zu Al-Qaida lässt die Sache auf internationaler Ebene sofort bedrohlicher klingen, wenn das Etikett "GSPC" darauf klebt.  

Seitdem ist "Al-Qaïda in der Wüste" aber de facto zu einem Phantom geworden, das durch die ganze Region gejagt wird. Auch im Nachbarland Mali trainierten US-Einheiten jüngst zusammen mit einheimischen Truppen, nördlich von Timbuktu.  

Gestikulationen des "salafistischen" GPSC  

Der GSPC, die "Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf", drehte in den vergangenen Wochen seine Propaganda wieder lauter.  

Im Internet manifestierte der GSPC ab dem 23. Juli 05 "seine herzlichen Glückwünsche für unsere Brüder von Al-Qaïda für diesen heroischen Akt des Djihad", also die Entführung der algerischen Diplomaten im Irak. Wenig später behauptete er, der kabylische Botschaftsattaché Belkadi (dessen Ermordung am 27. Juli bekannt wurde) sei "Hauptmann der algerischen Geheimdienste" und habe in dieser Eigenschaft "an den Massakern von Raïs und Bentalha teilgenommen, die hunderte von Opfern unter den Kindern des muslimischen Volkes Algeriens hinterließen". Diese beiden Kollektivmassaker wurden im Spätsommer 1997 durch die GIA angerichtet, auch wenn von interessierter Seite und von Dummköpfen verbreitete Legenden etwas anderes behaupten.

Die Geschichtslüge von der reinen Geheimdienst-Inszenierung, die in der Interbotschschaft des GSPC aufgewärmt wird, wurde später durch die Gruppe von Al-Zarqawi in ihrer Erklärung zum "Todesurteil" über die "beiden Emissäre des algerischen Staates, der nicht die Scharia anwendet und sich mit Juden und Christen verbündet hat", wörtlich übernommen.  

Ferner forderte der GSPC Mitte August 2005 alle Moslems dazu auf, algerische Funktionäre und auch «regimenahe Zivilisten» auf französischem Boden anzugreifen.  

Die Glückwünsche des GSPC für die Mörder der algerischen Diplomaten und auch der ­ durch seine Verhaftung vor dem Mikrophon des arabischen Fernsehsenders Al-Djazira unterbrochene ­ Auftritt des früheren Chefideologen der radikalen Islamistenpartei FIS, Ali Belhadj (der "Al-Qaïda im Zweistromland" am 27. Juli zur Entführung der Diplomaten beglückwünschte), konnten in der algerischen Innenpolitik nicht ohne irgendwelche Konsequenzen bleiben. Denn seit dem 31. Oktober 2004 hatte Präsident Bouteflika angekündigt, eine Generalamnestie vorzubereiten, von der alle ehemals bewaffnet kämpfenden Islamisten profitieren sollten.  

Das Projekt hatte verschiedene Gründe. Zum Einen sollte es einen definitiven Schlussstrich unter die Konflikte und den Bürgerkrieg der 90er Jahre ziehen. Das wurde auch von westlichen Investoren in Algerien deutlich eingefordert, um eine längerfristige Stabilität zu garantieren. Zum Zweiten sollte diese Initiative, die Bouteflika als definitiven "überparteilichen Einiger der Algerier" in Szene setzen würde, der Idee der von ihm ebenfalls geplanten Verfassungsänderung neuen Auftrieb geben. Bouteflika will nämlich ein reines Präsidialregime schaffen, das Amt des Premierministers abschaffen und dafür die Verfassung ändern, um alle politischen Macht in seiner eigenen Funktion zu vereinigen. Ferner war die Amnestieidee aber auch dazu da, zu beweisen, dass die algerische Armee in ihrer innenpolitischen Armee beschränkt worden ist ­ denn viele Militärs sind über die Vorstellung einer Generalamnestie erklärtermaßen unglücklich. In vielen westlichen Hauptstädten sähe man sehr gerne, dass der Einfluss des "sowjetischen Dinosauriers" eingeschränkt wird und stattdessen die wirtschaftsliberalen Politiker in der Umgebung Bouteflikas mehr Spielraum erhalten.  

Dieses Vorhaben ist nun stark beschädigt. Ein Großteil der Presse wendete sich nach den jüngsten Ereignissen zunächst gegen die Perspektive, dass auch die Aktivisten des GPSC von einer künftigen Amnestie profitieren könnten. (Siehe dazu Näheres im unten stehenden Kasten "Die kommende Generalamnestie".)  

Mauretanien: Außenpolitik als Motiv der Palastrevolte ?  

Nicht nur das algerische Regime nutzt den Hinweis auf den GSPC und dessen politische Verbindungen zu Al-Qaïda gern zu außenpolitischen Zwecken. Auch in den Nachbarländern hat man das taktische Interesse dieses Arguments erkannt, zumal die USA sich seit 2003 verstärkt militärisch in der Sahara und der südlich angrenzenden Sahelzone engagieren ­ mit der Begründung, eine Implantierung von Al-Qaïda im nordwestlichen Afrika zu verhindern.  

Besonders das mauretanische Regime des am 3. August 05 gestürzten Präsidenten Maaouyia Ould Taya hatte seine Staatsräson auf das antiterroristische Bündnis mit den USA aufgebaut. Seitdem am 4. Juni 2005 ein militärischer Vorposten in der Wüstenstadt Lemgheity (in der Nähe der algerischen Grenze) gestürmt worden war, wurde auch diese Attacke dem GSPC und damit indirekt Al-Qaïda zugeschrieben. Doch jetzt wachsen bei Beobachtern in der Region die Zweifel, ob das wirklich so stimmt.  

Algerische und marokkanische Journalisten weisen darauf hin, dass es bereits seit einiger Zeit in der mauretanischen Armee gärte. Zwei Putschversuche waren seit 2003 abgewehrt worden, einer davon konnte erst nach drei Tagen niedergeschlagen worden ­ der dritte sollte Anfang des Monats erfolgreich sein.  

Einerseits sorgte die Kombination aus betont repressiver Herrschaft nach innen und starker Anlehnung an die USA in der Außenpolitik von Präsident Ould Taya für wachsende Verstimmung in der Armee wie in der Bevölkerung. In der alltagsideologischen Wahrnehmung erschien der seit 1984 autokratisch regierende Präsident als ein « Sachwalter fremder Interessen » - das entspricht zwar nicht unbedingt einer radikal progressiven Kritik, entsprach aber einer verbreiteten Wahrnehmung, die dem Präsidenten gefährlich zu werden drohte. Hinzu kam aber noch als weiterer Faktor die zunehmende Verdrängung schwarzer Offiziere aus dem mauretanischen Militär. Die Beziehungen zwischen der schwarzen Bevölkerung im Süden des Landes, an der Grenze zum Senegal, und den hellhäutigeren Arabern im Rest des Landes sind seit langem angespannt. Die Sklaverei wurde in Mauretanien erst 1981 gesetzlich abgeschafft, und auch nur, weil der traditionelle soziale Status sich überlebt hatt: Viele Herren konnten ihre, oft schwarzen, Sklaven nicht länger ernähren.  

Der Putsch war letzten Endes eine Palastrevolution aus dem Herrschaftsapparat. Beim letzten Staatsstreich hatte das, weitaus stärkere, Nachbarland Marokko noch mit Rückendeckung durch die Frankreich und die USA zugunsten des bisher amtierenden Präsidenten interveniert. Dieses Mal wurde das Kommuniqué der Putschisten sofort im marokkanischen Fernsehen verlesen. Die Nachbarländer und die Großmächte scheinen zu vermuten, dass das neue Übergangsregime der 17 Offiziere Kontinuität wahren wird.  

Dieser "Rat der Militärs für Gerechtigkeit und Demokratie", der (angeblich nur für eine Übergangsperiode von maximal zwei Jahren und zur Vorbereitung von Wahlen) die Macht in Nuakchott übernommen hat, steht unter dem Vorsitz von Oberst Ely Ould Mohammed Vall. Als Chef des Nationalen Sicherheitsdiensts war dieser bisher höchstselbst für Folterungen politischer Gegner und meuternder Militärs verantwortlich. Dennoch wurde der Putsch durch die Bevölkerung allem Anschein nach begrüßt, in Nuakchott strömten viele Menschen auf die Straße. Hoffen wir, dass sie nicht bitter enttäuscht werden... Allein mit außenpolitischen Veränderungen, die von den Menschen zweifelsohne erhofft werden, wird sich jedenfalls ihr Leben noch nicht verbessern.  

Ob und wie sich dies auf die (Fortsetzung der) privilegierten "antiterroristischen Allianz" mit der US-Administration auswirken wird, bleibt abzuwarten.  

Die kommende Generalamnestie  

Die Katze ist aus dem Sack. Am 29. September 2005 soll das algerische Wahlvolk über das Projekt einer "Charta des Friedens und der nationalen Versöhnung" abstimmen, deren Inhalt Präsident Abdelaziz Bouteflika am vorletzten Sonntag (dem 14. August) anlässlich einer Ansprache vor "Führungskräften der Nation" vorstellte.  

Nähere Einzelheiten über die Vorlage waren seit längerem mit Spannung erwartet worden. Denn bereits in seiner Rede vom 31. Oktober 2004, die er am Vorabend zum 50. Jahrestag der Auslösung des algerischen Befreiungskriegs gegen Frankreich (dieser begann am 1. November 1954) hielt, hatte Bouflika eine Generalamnestie angeregt. Unter sie sollten all jene fallen, die im Zusammenhang mit dem algerischen Bürgerkrieg außerstaatliche bewaffnete Gewalt anwendeten. Die Kernphase des Bürgerkriegs dauerte von 1992/93 bis 1999, aber auch danach blieben einzelne Gruppen weiter aktiv, die in jenen Jahren entstanden waren. Bei ihnen mischen sich oft ideologisch motivierte Gewalt gegen die Gegner der von den Islamisten propagierten Tugenddiktate mit vorwiegend kriminellen Motiven: Viele der Gruppen und Grüppchen leben von Raub und der Ausplünderung der Bevölkerung.  

Diese Kategorie umfasst radikale Islamisten aus den Reihen der seit 1992 verbotenen "Islamischen Rettungsfront" (FIS), deren bewaffneter Arm sich dem offenkundigen Scheitern der Machteroberung am Ende des Jahrzehnts auflöste - aber auch die von Anfang an autonom von der Partei agierenden Terrorgruppen wie etwa die "Bewaffneten islamischen Gruppen" (GIA). Letztere verfolgten oftmals, neben einer ideologisch motivierten Gewalt gegen die Gegner der islamistischen Tugenddiktaten, auch unmittelbar kriminelle Ziele: Sie lebten von Ausplünderung der Bevölkerung. Andere Organisationen warfen den GIA vor, die soziale Basis des Islamismus durch ihre abschreckenden Praktiken verstreut zu haben. Am Ausgang des Bürgerkriegs legten viele Islamisten ihre Waffen nieder, nachdem sie erkennbar keine Chance mehr auf politische Machteroberung hatten, und der bewaffnete Arm des FIS ­ die Islamische Rettungsarmee AIS ­ löste sich Anfang 2000 auf.  

1999 trat ein Amnestiegesetz in Kraft, das all jenen Mitgliedern von Untergrundorganisationen, die innerhalb von sechs Monaten ihre Waffen abgeben würden, unter bestimmten Bedingungen Straffreiheit garantierte (vgl. dazu http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_99/39/04a.htm  ). Zu den Voraussetzungen gehörte, vor einer "Prüfungskommission" aus Richtern und Staatsbeamten angehört worden zu sein. Auch wurden theoretisch von der damaligen Amnestie jene ausgeschlossen, die persönlich an Morden, Bombenanschlägen auf öffentlichen Plätzen oder Vergewaltigungen teilgenommen haben. In der Praxis gingen fast alle, die ihre Waffen ablieferten, straffrei aus und der Nachweis einer individuellen Tatbeteiligung war kaum zu führen. An den Kollektivmassakern der GIA hatten mitunter mehrere hundert Personen teilgenommen. Seltsamerweise, so weiß der Volksmund zu berichten, findet man heute nur ehemalige Terroristen, die ihre Mitkämpfer bekocht hatten oder allenfalls mal Schmiere stehen mussten.  

Das jetzige Projekt geht über das vorherige Amnestiegesetz von 1999, das den Schlusspunkt der offenen Phase des Bürgerkriegs markierte, hinaus. Es enthält im Gegensatz zum damaligen Amnestieangebot keine sechsmonatige Ausschlussfrist, sondern betrifft alle "Individuen, die ihre bewaffnete Tätigkeit einstellen und die in ihrem Besitz befindlichen Waffen den Behörden übergeben". Auch dieses Mal gilt wieder die Ausnahme für jene, die individuell der schwersten Verbrechen überführt werden. Die Gesetzesvorlage, über die am 29. September 2005 abgestimmt werden wird, sieht aber auch keine "Prüfungskommissionen" vor, von denen die einzelnen Ex-Angehörigen islamistischer Guerilla- oder Terrorgruppen sich verantworten müssten (wie dies 1999/2000 der Fall war). Bereits Verurteilte sollen begnadigt, laufende Verfolgungsmaßnahmen eingestellt werden. Jenen, die davon "nicht betroffen" sind ­ also nicht mitspielen - , werden Strafnachlässe in nicht näher beschriebenem Ausmaß in Aussicht gestellt. Konkret ist die Rede von der Umwandlung der Todesstrafe in Freiheitsstrafen sowie von einer Reduzierung der verhängten oder zu verhängenden Haftstrafen, aber in nicht näher präzisiertem Maße.  

Im Moment lässt Präsident Bouteflika damit die Frage des Umgangs mit den noch aktiven GSPC-Leuten insofern offen, als diesen eine nicht näher bemessene Strafreduzierung in Aussicht gestellt wird. Der Staatschef probiert sich damit an der Quadratur des Kreises, angesichts der widersprüchlichen Pressionen, die auf der algerischen Politik lasten: Einerseits der Druck zur «Wiederherstellung der Stabilität», dem die Generalamnestie dienen soll, andererseits die (wahrscheinlich stark übertriebene und aufgewertete) Bedeutung des GSPC als Teil der internationalen Bedrohung in Gestalt von Al-Qaïda.  

Diesem, potenziell (aber nur potenziell) dennoch weitgehenden, Zugeständnis an die noch bewaffneten Bekämpften stellt Bouteflika eine andere Ankündigung zur Seite. Nämlich die klare Aussage, dass die ehemaligen Führungsfiguren der Islamischen Rettungsfront (FIS) aus den neunziger Jahren auch künftig weiterhin einem politischen Betätigungsverbot unterliegen sollen. Im vorigen Jahr war über eine Neugründung ihrer Partei unter anderem Namen, im Namen der « nationalen Aussöhung », spekuliert worden. Auf diesem Wege sollen die anti-islamistischen politischen Kräften in der Gesellschaft, aber auch innerhalb der Armee zufrieden gestellt werden.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns in der vorliegenden Fassung am 20.8.2005 überlassen.