Die neue Wut

von Peter Nowak
08/05

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Fast ein Jahr ist es her, als von Magdeburg aus, die Montagsdemonstration gegen Hartz IV begannen. Bald zogen in fast allen ostdeutschen Städten immer zu Wochenbeginn Tausende dur chdieStraßenundforderten„WegmitHartzIV“. Die Aufmerksamkeit der Medien war ihnen im Sommerloch gewiss. Im Herbst allerdings ging die Montagsdemonstrationsbewegung schon ihrem Ende entgegen. Eine kurze Massenerregung ohne große Folge, schlussfolgerten viele. Nicht mal den Begriff soziale Bewegung wollten Bewegungsforscher den Montagsdemonstrationen zugestehen.

Für den Dokumentarfilmemacher Martin Kessler waren diese Proteste ganz und gar nicht so erfolglos. Im Gegenteil. „Sie haben mit zu den Neuwahlen und den Aufstieg der Linkspartei beigetragen und könnten die innenpolitische Situation nachhaltig verändern“, so seine These. Die wird demnächst in vielen Städten der Republik in den Kinos diskutiert werden. Dort ist Kesslers neuester Dokumentarfilm über die Montagsdemonstrationsbewegung „Die neue Wut“ ab Ende Juli zu sehen. Der Titel ist Programm. Zwar dienen die Proteste als Rahmen Doch eigentlich zeigt der Film gut, wie unter den Bedingungen von Agenda 2010 der Alltag vieler Menschen härter die Angst ums Überleben größer wird.

Er zeigt die arbeitslose Frankfurterin Barbara Willmann, deren größter Wunsch ist wieder eine Vollzeitbeschäftigung mit entsprechender Bezahlung zu bekommen. Doch zur Zeit versucht sie sich mit einem Job in einen Altkleiderladen der Frankfurter Caritas über Wasser zu halten. Kessler begleitet sie zur Arbeitsagentur, wo ihr Antrag für das neue Arbeitslosengeld nach Hartz IV begutachtet wird. Tatsächlich hat die Sachbearbeiterin etwas zu beanstanden. Die Zinsen vom Sparbuch eines der Kinder von Frau Willmann sind nicht angegeben. Obwohl es sich um Centbeträge handelt, muss sie den Nachweis nachreichen. Besser hätte man nicht darstellen können, was es leben unter Bedingungen von Hartz IV heißt. Dann kann man auch besser verstehen, warum so viele Menschen, die noch in festen Beschäftigungsverhältnissen leben, eine solche Angst haben, zu HartzIV-Empfängern zu werden. Im Film wird der Streik der Opel-Arbeiter im Ruhrgebiet gezeigt, der nur wenige Tage im Oktober 2004 andauerte, aber sehr große Beachtung fand. ES war die Angst vor den Verlust der Arbeitsplätze, die die Opelianer auf die Barrikaden trieb, bestätigte der Bochumer Vertrauensmann der IG-Metall Paul Fröhlich. Diese Angst verhinderte aber auch, dass die Arbeiter ihre Streikmaßnahmen ausweiteten oder gar mit der Anti-Hartz-Bewegung verbanden, wie im letzten Jahr manche hofften. Der Film hat nicht den Anspruch, eine vollständige Chronologie der Anti-Hartz-Bewegung zu liefern. Auch die theoretischen Prämissen der unterschiedlichen Spektren der Bewegung kommen nur am Rande vor. So wird gezeigt, wie sich in der Endphase der Anti-Hartz-Proteste verschiedene linke Gruppen um die Führung stritten. Auch die Vorwürfe einer mangelnden Distanz zu Rechtsextremen, die gegen den Magdeburger Andreas Erholdt auf einer Konferenz der Hartzgegner erhoben wurde, wird zwar dokumentiert, ohne dass die Filmemacher weiter nachfragten. Erholdt stand im Spätsommer 2004 als Mr. Montagsdemonstration für kurze Zeit im Rampenlicht, weil er die erste Demonstration angemeldet hatte. Der Film zeigt aber auch wie es weiterging, als die Kameras vor Erholdts Wohnung abgezogen war. Als Gründer einer Kleinstpartei, die sich für Marktwirtschaft und gegen Hartz IV ausspricht, wird er nur von wenigen Mitstreitern unterstützt. An Erholdts Beispiel könnte man auch Aufstieg und Fall der Anti-Hartz-Bewegung aufzeigen. Doch das ist nicht Kessler Anliegen. Denn auch Gysi und Lafontaine sind im Bild. Der Saarländer kehrte mit seiner vielbeachteten vor einer Montagsdemonstration in Leipzig zurück in die politische Arena. Auch Gysi, der sich nach seinem politischen Debakel als kurzzeitiger Berliner Wirtschaftssenator zurück gezogen hatte, wurde während der Proteste wieder aktiv. Wurden hier die ersten Vorabsprachen getroffen, denen die beiden sozialdemokratischen Vollblutpolitiker jetzt vorstehen? Der Film legt es nahe. So kann man der Bewegung gegen Hartz IV nachträglich bescheinigen, dass sie zwar ni1cht Hartz IV verhindert, aber doch einiges bewirkt hat.

Die Angst vor den sozialen Abstieg führen aber auch zur Abgrenzung und die Wut kann auch schnell in ein Ressentiment umschlagen. Auch dafür liefert der Film Beispiele. “Wir sind keine Sozialhilfeempfänger. Wir haben immer gearbeitet“ rufen Demonstranten und in Magdeburg verkündete Demonstranten lautstark, dass „Gewerkschaftsbonzen“ hier nichts verloren haben. Auch die Diskussion nach der Vorpremier des Filmes auf dem Erfurter Sozialforum zeigte, wie schmal die Grenze zum Ressentiment ist. Ein bekennender Jungsozialist wurde kräftig ausgebuhlt, weil er daraufhin wies, dass Lafontaine innerhalb der SPD vor 15 Jahren schon den Sozialabbau populär machen wollte.

Interview mit dem Filmemacher Martin Keßler

„Die Montagsdemonstrationen waren Ausdruck eines viel breiteren Protestes“

Der Filmemacher Martin Keßler studierte Geschichte, Germanistik, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften in Marburg und Berlin. Kürzlich hatte sein vieldiskutierter Film „Die Neue Wut“ über die Proteste gegen die Agenda 2010 Premiere.  

1.) Warum haben Sie einen Film über die Proteste gegen Hartz IV gemacht, die doch der Vergangenheit angehören?  

M.K.: Die Montagsdemonstrationen haben zwar vor fast einem Jahr begonnen. Aber sie sind Ausdruck eines viel breiteren Protestes. Schon im Jahr 2003 gingen Menschen gegen den Sozialabbau auf die Straße. Hinzu kamen die Studentenproteste und Konflikte in der Arbeitswelt. Ich denke da an die Proteste bei Karstadt, VW oder Opel, die z.t. auch im Film gezeigt werden. Die Menschen gehen zwar aus unterschiedlichen Anlässen auf die Straße. Doch die Proteste haben eine Gemeinsamkeit: das Misstrauen und die Wut vieler Menschen auf die etablierte Politik. Das wird im Film z.b. in der Szene deutlich, in der Opelarbeiter die Landtagswahl von NRW in einer Eckkneipe verfolgen.  

2.) In dem Film kommen Szenen von Gysi und Lafontaine auf den Montagsdemonstrationen vor. Wurde hier der Grundstein für die Linkspartei gelegt?  

M.K.: "neueWUT" erzählt die Vorgeschichte der vorgezogenen Bundestagswahlen und dazu gehört auch der Entstehungsprozess der Linkspartei. Lafontaine hat bei seinen Auftritten auf den Montagsdemonstrationen getestet, wie er bei den Leuten ankommt. Schon damals gab es erste Meldungen, dass eine neue Linkspartei geplant werde. Auch die Namen Lafontaine und Gysi wurden schon genannt. Ich denke es gibt einen Zusammenhang zwischen den Protesten gegen Agenda 2010 und Hartz IV und dem Entstehen der Linkspartei.  

3.) Frage: Warum haben Sie nicht mehr über alternative Politikkonzepte der Protestbewegung gezeigt?  

M.K.: Im Film werden durchaus Alternativkonzepte zu Hartz IV und der dahinter stehenden Wirtschaftspolitik benannt. z.B. von dem Wirtschaftswissenschaftler Prof. Friedhelm Hengsbach oder von Pedram Shahyar von Attac.  

Im Film wird aber auch deutlich, dass die Menschen in erste Linie ihre Wut gegenüber der etablierten Politik und ihren Konzepten auf die Straße tragen. Auch der Richtungsstreit innerhalb der Gewerkschaften über die richtige Strategie gegenüber Hartz IV wird gezeigt. Und, dass die meisten Demonstranten im letzten Jahr noch viel zu stark mit der Abwehr von Hartz IV beschäftigt waren, als mit alternativen Konzepten. Spätestens jetzt im Wahlkampf wird diese Debatte stärker geführt werden.  

4.) Wie waren die bisherigen Reaktionen auf den Film?  

M.K.: Sehr unterschiedlich. Beim Sozialforum in Erfurt gab es sehr positive Reaktionen von Betroffenen. Bei der Premiere in Frankfurt äußerten viele Zuschauer ihr Erstaunen über das Ausmaß der Proteste und die Zusammenhänge zwischen Hartz IV und z.b. dem Arbeitskampf bei Opel. Da hat der Film neue Anstöße gegeben. Natürlich will "neueWUT" ein breites Publikum erreichen. Daher hoffe ich, das er auch im Fernsehen gezeigt wird. Wie auch alle meine bisherigen Filme.  

5.) Gibt es schon konkrete Vereinbarungen?  

M.K.: Es gibt Interesse bei einigen Fernsehredakteuren, aber noch keinen konkreten Sendetermin. In der Öffentlichkeit wird der Film bereits breit diskutiert. In vielen Städten organisieren Gewerkschafts- ,Kirchen-,Erwerbslosen- oder Attac- Gruppen Vorführungen. Auch in Kinos wird "neueWUT" gezeigt. Allein bei der Premiere letzte Woche in Frankfurt am Main kamen 500 Besucher.   Auch die Nachfrage nach DVDs oder VHS ist gut in Gang gekommen - über die Homepage www.neuewut.de.  

Interview: Peter Nowak  

Am 11.August startet der Film im Berliner Kino Casablanca, am  26. August bei der Stadtverwaltung Königs-Wusterhausen,
Do. 11.08.2005 20:00  
Fr. 12.08.2005 17:30  
Sa. 13.08.2005 17:30  
So. 14.08.2005 17:30  
Mo. 15.08.2005 17:30  
Di. 16.08.2005 17:30  
Mi. 17.08.2005 17:30

Editorische Anmerkungen

Der Autor übergab uns seinen Artikel am 10.8.2005 zur Veröffentlichung.

Weitere ausführliche Infos zum Film siehe www.neuewut.de