Die terroristische Umwandlung von Geschichte in Natur

von Helmut Höge

08/05

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Die Friesen verwandelten alle Natur um sich herum per Handarbeit in Kultur. Umgekehrt verhält es sich mit den herrschenden Klassen. "Das Geheimnis des Adels ist die Zoologie," meinte Karl Marx und spielte damit auf dessen saubere Stammbäume an, die so sehr den Abstammungslehren der Evolutionsforscher glichen. Jeder Herrschaftsform ist daran gelegen, sich als von Gott gesandt bzw. als "naturgegeben" darzustellen.

Auch die Bourgeoisie beruft sich immer wieder gerne auf die Natur und naturalisiert damit ihren Machtanspruch. Das reicht von "Es gibt eben solche, die befehlen und sone, denen man befehlen muß" über den Seufzer "Die Menschen sind eben so" - bis zur modernen bereits von den faschistischen Rasseforschern strapazierten Genetik.

Roland Barthes hat dieses Bemühen in seinen "Mythen des Alltags" thematisiert, es geht darin um einige subtile Analysen der Sinnprozesse, mit deren Hilfe die Bourgeoisie ihre historische Klassenkultur in universelle Natur verwandelt. Die Bourgeoisie verewigt sich und ihre Produktionsverhältnisse, indem sie permanent Geschichte in Mythos einmünden läßt. Der Mythos verschleiert nichts. Die Widersprüche bleiben durch das Herstellen naturalisierter Kausalzusammenhänge gerade durch ihre Benennung verdeckt. Aufhebung oder Verdeckung funktionieren über mythologische Zusammenhänge und Naturalisierungen. "Der Mythos leugnet nicht die Dinge, seine Funktion besteht im Gegenteil darin, von ihnen zu sprechen. Er reinigt sie nur einfach, er macht sie unschuldig, er gründet sie als Natur und Ewigkeit, er gibt ihnen eine Klarheit, die nicht die der Erklärung ist, sondern die der Feststellung".

Ich habe so etwas noch in meinem amerikanisch gereinigten Biologie-Lehrbuch schlucken müssen: Neben einem Schema der Mendelschen Erbsengesetze befand sich dort ein Stammbaum der Familie Bach, um uns klar zu machen, dass die Erbsenblütenfarben genauso vererbt werden wie die Musikalität in der Bachsippe. Alles ist in den Genen festgelegt: die Intelligenz, das Dominanzstreben, die Schönheit, der Erfolg usw.. Und dementsprechend werden laufend neue Gene isoliert: das Neid-Gen, das Geiz-Gen, das Eifersuchts-Gen, Bullimie-Gene usw..Der vorläufige Gipfel dieses bourgeoisen Naturalismus fand sich neulich in einem riesigen Artikel im Tagesspiegel, dem besonders unkritischen Westberliner Bauludenblatt: Eine Gruppe von "US-Wissenschaftlern" (!), so berichtete der tsp, hatte in einem Großversuch an einigen tausend eineiigen Zwillingen festgestellt, das sogar politische Einstellungen und überhaupt alle Meinungen genetisch bedingt seien.

Für die Linke, die derzeit ohne eine kämpferisch aufstrebende neue Klasse im Hintergrund agiert, heißt das: Ihr braucht euch gar nicht zu bemühen und rumzuagitieren, die Klassenverhältnisse sind fest in der Natur verankert. Versucht lieber individuell euer Glück, indem ihr euch friedlich in die Machtstrukturen einfädelt, statt wieder und wieder den Aufstand dagegen zu proben.

Der Privatisierungsdirektor der Treuhandniederlassung für Berlin, Hans-Christoph Wolf, vormals ein Siemensmanager, führte dazu einmal aus: "Zufälligerweise gehöre ich zu dieser Generation, die hier 1968 an der FU Berlin gewesen ist. 1972 gab es einen Unternehmerbrief in Westberlin, in dem stand drin: 'Stellt die Demonstranten ein oder wie immer man sie genannt hat, also die 68er, denn ihr werdet feststellen, nach wenigen Monaten ist deren Engagement für euch nützlich'. Das war ungefähr der Inhalt. Und das stimmt auch.

Bleiben wir mal bei denen, die querdenken, also bei dieser halben Mischung aus Querulant und Exzentriker - die sind unendlich wertvoll. Sie sind unbequem, klar. Sie ducken sich nicht, wenn der Chef kommt, und halten ihm nicht die Tür auf, weil sie das gar nicht interessiert. Aber wenn man solche Leute in eine Organisation einbauen kann, dann sind solche Organisationen erfolgreich. Glücklicherweise gab es in der Industrie keinen Radikalenerlaß, auch wenn einige Betriebe sich so verhalten haben.

Die Kraft liegt nicht in der Konformität. Wichtig für den Erfolg ist es, die, die bei Demonstrationen, und die, die bei sagen wir der Bundeswehr mitmarschiert sind, an einen Tisch zu bringen. Der Fortschritt kommt daher, daß Leute nicht immer das gleiche denken. Ich gehörte zu denjenigen, die mit allen Mitteln protestiert haben. Jetzt habe ich manchmal den Eindruck, daß meine Kinder dadurch protestieren, daß sie aus meiner Sicht so konservativ werden, daß ich mich schon schäme. Aber das ist der Gegenprotest, wiederum gegen die Eltern, und ist vielleicht ganz vernünftig so.Der gute Wolf hat ganz einfach seine Protest-Gene vererbt. Da kann man nichts machen!  

Editorische Anmerkungen

Dies ist eine leicht überarbeitete Fassung des am 26.7.2005 in der JUNGEN WELT erschienenen Artikels. Die vorliegende Fassung erhielten wir am 29.7.2005 zur Veröffentlichung.