Palästina/Israel
und die deutsche Linke

von Peter Tautfest
08/04

trend

onlinezeitung
Die deutsche Linke hat zu Israel/Palästina schon immer ein gebrochenes Verhältnis gehabt. In den frühen 60er Jahren spielte Israel für die fortschrittliche bzw. demokratische Bewegung in Deutschland ungefähr die Rolle, die in den späten 60er Jahren China spielte: Israel galt als besonders demokratisches Land, als sozialistisches Ideal mit seinen Kibbuzim und als Bastion des Antifaschismus. Viele junge Deutsche sind aus antifaschistischer Einstellung heraus nach Israel gegangen, haben in den Kibbuzim gearbeitet und dies als einen Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus verstanden. Die Positionen der arabischen Staaten gegenüber Israel wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder für Relikte des Antisemitismus gehalten, das Schicksal des palästinensischen Volkes war vollkommen unbekannt, und auch der Befreiungskampf der Algerier hat an dem blinden Fleck im Auge der demokratischen Jugend in Deutschland gegenüber den Problemen der arabischen Welt nichts geändert. Unter den Demokraten und Linken fand in Deutschland die Entführung Eichmanns ungeteilten Beifall, Kritik daran blieb der Rechten vorbehalten. In keinem Land Europas war die Identifikation von Antifaschismus und pro-israelischer Haltung derart stark. Das begann sich erst 1967 während und nach dem Krieg zu ändern, wobei die Berichterstattung der Springerpresse eine gewisse Rolle spielte, vor allem ihr Versuch, pro-israelische Sympathien in Deutschland gegen die schon ziemlich entfaltete antiimperialistische Bewegung zu mobilisieren. Dieser Prozeß des Umdenkens ging aber sehr langsam vor sich. Die Nachricht vom Ausbruch des 67er Krieges erreichte die damalige linke Bewegung in Deutschland in einer besonderen Situation. Am 5.6.1967 befanden sich Tausende von Studenten auf dem Campus der Freien Universität Berlin. Sie protestierten gegen die Erschießung Benno Ohnesorgs, der bei einer Demonstration am 2. Juni gegen den Schah in Berlin den Tod gefunden hatte. Als die Nachricht vom Ausbruch des Krieges eintraf, bildeten sich um die wenigen arabischen Studenten Diskussionstrauben. Die arabischen Studenten fanden weder Gehör noch Verständnis, sondern ertranken fast in einem Meer an Feindseligkeit. Noch 1968, auf dem Berliner Vietnamkongreß, wurde ein schwarzer Amerikaner, der das Problem des besetzten Palästinas zur Sprache bringen wollte, am Reden gehindert. Der bürgerlichen Presse, etwa der ZEIT, blieb es vorbehalten, auf das Schicksal der Palästinenser aufmerksam zu machen, auf die Menschen aus den Flüchtlingslagern in der Westbank, die abermals zum Aufbruch und zur Flucht gezwungen wurden. In anderen europäischen Ländern war es ähnlich, so erklärte Sartre bei Ausbruch des Krieges, daß ihn die Ereignisse noch zwingen werden, eine pro-amerikanische Position einzunehmen.

Das besondere Verhältnis der europäischen Öffentlichkeit hängt mit der faschistischen Besetzung, der Vernichtung des europäischen Judentums und dem antifaschistischen Kampf zusammen. Nirgends aber war die Identifikation mit Israel so ausgeprägt wie in Deutschland. Das hatte seine Rückwirkungen auf die sich dann allmählich herausbildende Palästinasolidarität in Deutschland. Die deutsche Linke hatte gegenüber der europäischen in dieser Frage einen Vorsprung aufzuholen und übernahm ziemlich schematisch antiimperialistische Positionen, ohne die Phase der Betroffenheit über geschehenes Unrecht und der Empörung gegen Unterdrückung und Entrechtung durchlaufen zu haben. Diese schematische Anwendung antiimperialistischer Kategorien auf das Palästina/Israel-Problem wirkt bis heute fort und ist die Ursache einiger Schwächen der Palästinasolidaritätsbewegung. Zum einen setzt sie in ihrer Argumentation auf einem relativ hohen theoretischen Niveau an, argumentiert in erster Linie historisch, völkerrechtlich und imperialismustheoretisch. Erst in letzter Zeit findet sie eine von der Anschauung motivierte Sprache und argumentiert vom Schicksal der betroffenen Menschen her. Die Solidaritätsbewegung mit Vietnam und die Empörung gegen den Rassismus in Südafrika erfaßt breiteste Kreise unter Einschluß rechtsliberaler und liberalkonservativer Kreise bis hin zur antiimperialistischen Linken, und zwar weil sie das Schicksal der Betroffenen anspricht und vor Augen führt. Anders die Palästinasolidaritätsbewegung. Sie wendet sich gleichsam an ein Fachpublikum und ist bis heute auf die Linke beschränkt und hat nicht einmal eine besonders breite Basis in den linken Organisationen selbst. Die unter Linken vorherrschende Argumentationsweise, die in erster Linie die historische Entwicklung vom l. Zionisten-Kongreß in Basel, dem Hussein/McMahon-Briefwechsel (1), der Balfour-Deklaration (2) etc. etc. aufzählt und der begrifflichen Anstrengung, Zionismus mit Imperialismus gleichzusetzen, besondere Aufmerksamkeit schenkt, hat dazu gefuhrt, daß selbst unter Linken das Palästinaproblem eine Spezialdisziplin für Fortgeschrittene ist. Im Bewußtsein der linken Palästinaspezialisten existiert die palästinensische Realität auch eher im Medium palästinensischer Strategievorstellungen und der 10-Punkte-Erklärung der PLO als in den Tatsachen des palästinensischen Alltags in den Lagern, im Exil, auf dem Westufer und im eigentlichen Israel. Die meisten Linken, die in der Palästinasolidarität stehen, sind in der Frage, ob Israel ein Staat ist oder ein Existenzrecht hat, meist versierter als in der Frage, welche konkreten Auswirkungen die Besatzungspolitik auf die Menschen in Palästina hat oder wie Palästinenser im europäischen Exil leben. Während die meisten, die sich in der Vietnamsolidarität engagierten, nie was vom 10-Punkte-Programm der FNL gehört hatten, geschweige denn seinen Inhalt kannten, dafür aber von der Realität des Bombenterrors ausgingen, kennen die, die in Palästinasolidaritätskreisen arbeiten, das 10-Punkte-Programm der PLO meist auswendig.

Der Schematismus, mit dem der Palästina/Israel-Konflikt unter die Kategorien des Kampfes der Dritten Welt gegen Imperialismus subsumiert wurde, hatte aber nicht nur Sterilität der Argumentationsweise und Isolierung der Palästinasolidarität auf dem linken Flügel der öffentlichen Meinung zur Folge, sondern führte auch zu Kurzsichtigkeit und Fehleinschätzungen. Die Linke entwickelte bislang überhaupt keine Kritikfähigkeit gegenüber der einen Seite des Widerspruches, der PLO. Da die PLO im Gegensatzpaar Unterdrücker - Unterdrückte die Position des Befreiers einnimmt, war sie prinzipiell im Recht, und bestimmte Schwächen, wie Widersprüchlichkeit der Programmatik, Terrorismus als militärstrategische Leitlinie, mangelnde Verankerung uner den Palästinensern in den besetzten Gebieten und in Israel, Abhängigkeit von arabischen Staaten, lösten zwar Unbehagen aus, wurden aber nicht richtig zur Kenntnis genommen. Palästinasolidarität ist auf Seiten der Linken gekennzeichnet durch einen Hurrapalästinensismus, der die vielschichtigen Probleme einer Nation im Exil und unter Besatzung ausblendet.

Auch die andere Seite des Widerspruchs wurde von der Linken nicht richtig wahrgenommen. Erst relativ spät kommt die Erkenntnis zu ihrem Recht, daß Israel trotz rassistischer Politik gegenüber den Palästinensern nicht Rhodesien ist, daß Israel inzwischen mehr ist als ein „Zionist Entity" und die Juden mehr als eine Religionsgemeinschaft, daß Israel, was immer sein Ursprung war, heute eine Nation ist und die Juden in Israel zumindest eine Gemeinschaft mit volksähnlichem Charakter sind; daß keine Lösung des Nahostkonfliktes ohne Anerkennung der nationalen Rechte der Palästinenser aber auch keine ohne Anerkennung der nationalen Rechte der Israelis denkbar ist.

Schließlich bricht unter dem Eindruck der Holocaust-Diskussion nochmal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Judenvernichtung und Entstehung des Staates Israel auf, ohne daß die Linke auf diese Frage mehr als eine stereotype Antwort hat.

Das Palästinaproblem und das Schicksal des palästinensischen Volkes und sein mögliches Verhältnis zu Israel beschäftigt heute die Öffentlichkeit in zunehmendem Maße. Das ist zum Teil auf internationale Erfolge der PLO zurückzuführen, zu einem gut Teil auch auf palästinensische Terroranschläge, die damit immerhin etwas Positives bewirkt haben, besonders aber auf die israelisch-ägyptischen Friedensverhandlungen und die in diesen Verhandlungen besonders umstrittene Frage der palästinensischen Souveränität bzw. Autonomie. Überprüft man aber, welches die brennendsten Fragen sind, die die Öffentlichkeit stellt, muß man feststellen, daß die Linke auf diese Fragen als Antworten nur Formeln hat, die inzwischen brüchig sind.

Terrorismus

Meist steht die Frage nach dem Terrorismus der Palästinenser im Vordergrund. Selbst da, wo zugegeben wird, daß der Terrorismus eine gewisse Anfangsfunktion hatte dadurch, daß er erst der Weltöffentlichkeit ein Paar Ohrfeigen verpassen mußte, damit sie das Palästinaproblem zur Kenntnis nahm, ist der Hauptgrund für Zurückhaltung gegenüber palästinensischen Zielvorstellungen der Abscheu vor dem Terrorismus. Die Linke hat auf diese Frage keine Antwort, sondern nur Bruchstücke einer Antwort, die aber jedes für sich unzureichend sind. Ein Teil der Antwort besteht darin, den Terrorismus als Strategie der PLO zu leugnen und darauf zu verweisen, daß sie sich von einer Reihe solcher Anschläge distanziert hat. Andererseits gibt es aber Anschläge, und zwar besonders solche, die tiefe Spuren im Bewußtsein der Öffentlichkeit gelassen haben, wie der Überfall auf eine Schule und ein Jugendlager in Maalot bzw. Kiriat Schmone, auf die israelische Olympiamannschaft in München, den Bus auf der Straße von Tel Aviv nach Haifa und die Anschläge auf den Märkten von Jerusalem und Tel Aviv, zu denen sich die eine oder andere Organisation bekannt hat, und außerdem wissen wir heute, daß z.B. der „Schwarze September" sehr wohl eine geheim operierende Unterorganisation der Fatah war bzw. ist. Die anderen Teile der Antwort sind nicht überzeugender.

Sie bestehen in dem Verweis auf die Durchmilitarisierung der israelischen Gesellschaft, die ein Unterscheiden zwischen zivilen und militärischen Zielen unmöglich macht, bzw. in einem Verweis auf die besondere Lage, vor allem auch die psychologische, der Palästinenser.

Existenzrecht Israels

Die zweitwichtigste Frage ist die nach dem Existenzrecht Israels. Bisher betrachtet die Linke immer noch das 10-Punkte-Programm als für sich verbindlich und antwortet mit dem Verweis auf den Staat, in dem Juden, Moslems und Araber gleichberechtigt leben können. Dieser strategischen Zielsetzung haftet aber heute etwas Utopisches an, im positiven wie im negativen Sinn, heute jedenfalls fehlt jeder Ansatz für die Umsetzung eines derartigen Planes, schon weil keine der angesprochenen Gruppen sich heute als religiöse Gruppe versteht.

Bündnispartner

Die dritte Frage schließt sich meist an die zweite an und fragt danach, wer auf israelischer Seite Partner der Palästinenser sein könnte. Die Standardantwort darauf fällt je nach Standort der linken Gruppierung verschieden aus und verweist entweder auf die israelische Arbeiterklasse oder die orientalischen Juden als Bündnispartner der Palästinenser. Beide Verweise sind völlig spekulativ. Weder die Arbeiter noch die Orientalen stellen heute in Israel auch nur ein Oppositionspoten-tial dar. Dieses propalästinensische Oppositionspotential muß erst noch geschaffen werden und wird sich zunächst sicherlich nicht aus den angesprochenen Bevölkerungsgruppen rekrutieren. Die einzig heute in Israel existierende organisierte Opposition, die Rakach und ihr Block, sind keine israelische sondern eine nationale palästinensische Opposition.

Judenstaat und Judenverfolgung

Die vierte Frage schließlich gilt dem Zusammenhang von Judenstaat und Judenverfolgung, haben die Juden nach allem, was ihnen angetan wurde, nicht ein Recht auf einen Staat und ein Leben in Frieden. Auf den Zusammenhang zwischen Israel und Nationalsozialismus angesprochen antwortet die Linke für gewöhnlich mit dem Verweis auf die zionistisch-faschistische Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit hat es gegeben, sie ist, wie unvollständig auch immer, dokumentiert (3), und dennoch ist der Verweis auf diese Zusammenarbeit in dieser Frage nicht sehr aussagekräftig. Mit den Nazis haben halt alle zusammengearbeitet, wenn es ihnen gepaßt hat. Stalin hat mit den Nazis zusammengearbeitet, die Westalliierten, die meisten arabischen Staaten, die palästinensische Nationalbewegung (4), warum also nicht der Zionismus? Die Zusammenarbeit der Zionisten mit den Nazis war nicht konstitutiv für die Schaffung des Staates Israel, hingegen war Auschwitz auf seine Weise dafür konstitutiv. Die Nazis haben in Europa eine Situation geschaffen, in der vielen Juden, ob sie Zionisten waren oder nicht, keine andere Wahl blieb, als nach Palästina zu gehen.

Dieser kurze Abriß der Geschichte des Verhältnisses der Linken zu Israel/ Palästina ist ernüchternd. Die antiimperialistische Bewegung steht heute mit ziemlich leeren Händen vor einem wachsenden Interesse an den Palästinensern, und was es an Ansätzen zu einer breiteren Solidaritätsbewegung gibt, kommt von Gruppen und Organisationen, die von Hause aus eher Israel verpflichtet sind, wie z.B. der Aktion Sühnezeichen, dem aus der Deutsch-Israelischen Gesellschaft ausgescherten Deutsch-Israelischen Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten, verschiedenen kirchlichen Friedensdiensten, Gruppen also, die überhaupt kein antiimperialistisches Selbstverständnis haben. Die ESG hat als einzige Gruppe mit einer antiimperialistischen Dimension versucht, einen Zugang zu dieser Strömung zu finden, ist in einer Reihe von Fragen aus dem linken Konsens ausgeschert und steht dennoch ziemlich isoliert in dieser Bewegung. Zeit also für einen Neuanfang und ein Überdenken aller Positionen.

Palästinasolidarität in Deutschland

Die Wahrheit sowie Recht und Unrecht sind absolute Größen, und kein Volk hat ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit oder zum Recht. So gesehen ist es eigentlich egal, ob man Palästinasolidarität in Deutschland, Kanada oder in Syrien organisiert. Die Verbrechen des Zionismus bleiben Verbrechen, ob man sie von Deutschland oder von Palästina aus betrachtet. Dennoch glaube ich, daß Palästinasolidarität in Deutschland zu organisieren bedeutet, daß man von anderen Voraussetzungen ausgehen muß, und das nicht nur aus taktischen Gründen.(5) Die Deutschen sind bestimmten historischen Erfahrungen verpflichtet, die Arabern und Palästinensern nicht zugänglich sind. Das heißt, daß sich Deutschen eine Dimension dieses Konfliktes erschließt, der Arabern und Palästinensern weitestgehend verschlossen ist und auch bleiben wird, wenn sich die europäische und besonders die deutsche Solidaritätsbewegung nicht in dieser Frage einen eigenen Standpunkt erarbeitet und sich auf der Grundlage einer eigenständigen Arbeit die Autorität erwirbt, diesen auch unverblümt zu vertreten.

Solidaritätsbewegungen entstehen nicht aus dem Nichts, sondern haben eine eigene Geschichte, deren Tradition sie verpflichtet sind. Die antiimperialistische Solidaritätsbewegung, wie sie in den 60er Jahren in Deutschland entstand, wurzelt in den Traditionen des Kampfes für Demokratie und des Antifaschismus. Die Geschichte von Demokratie, Humanismus, politischem Liberalismus und Antifaschismus ist in Europa und vor allem in Deutschland aber seit Jahrhunderten untrennbar mit der Geschichte des europäischen Judentums verbunden und das gleich in zweierlei Hinsicht: politisch und geistesgeschichtlich.

Politisch ist die demokratische Bewegung Europas davon gekennzeichnet, daß sie um das Schicksal des Judentums und seines Emanzipationskampfes besorgt war. Alle demokratischen Bewegungen Europas zählten die Emanzipation der Juden zu ihren Programmpunkten. Die Niederlande zogen durch ihre demokratische Rebellion gegen Spanien die unterdrückten Juden Spaniens und Portugals an, so daß Amsterdam zu einer Hochburg des Judentums in Europa wurde. Die französische Revolution gab den Juden volle Bürgerrechte, und jakobinische Strömungen in Deutschland artikulierten ebenso programmatische Forderungen zur Judenfrage wie die revolutionäre Bewegung des Vormärz und des Jahres 1848. Die demokratischen Bewegungen Europas definierten sich geradezu im Kampf gegen und in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.

Geistesgeschichtlich beruft sich die antiimperialistische Bewegung in Deutschland auf jüdisches Gedankengut und ist diesem Erbe verpflichtet. Der ,,Geist der Utopie", der im Werk des Juden Karl Marx lebendig geblieben ist, zog die neue Linke an und nicht der zum Herrschaftsinstrument verkommene Sowjetmarxismus. Daß eine derartige Neuentdeckung des Werkes von Karl Marx und eine Renaissance des Marxismus überhaupt möglich war, verdankt die neue Linke einer Generation jüdischer Denker, die ebenso wie das Werk von Marx selbst in der Tradition jüdischer Prophetie stehen. Diesen „Geist der Utopie" wieder lebendig gemacht zu haben, ist die Leistung solcher Leute wie Walter Benjamin, Ernst Bloch, Theodor Adorno und Ludwig Marcuse. Diese utopischen Sozialisten sind nicht nur rein zufällig Juden, sondern knüpfen mehr oder minder bewußt an die Tradition jüdischer Prophetie an(6). Dieser Strang jüdischer Geistesgeschichte ist nicht durch den Zionismus abgetötet worden, sondern lebt in Unterströmungen des Zionismus weiter, in den politischen Anstrengungen von Leuten wie Ahad Harn, Martin Buber und Nahum Goldmann.

Aus einer derartigen politischen und geistesgeschichtlichen Tradition kann man nicht einfach aussteigen. Daß die Palästinasolidaritätsbewegung es dennoch zu tun versucht hat, ist der Hauptgrund dafür, daß große Teile selbst der Linken sich in ihr nicht wiedererkannten. Das ist auch der Hauptgrund dafür, daß die Palästinasolidaritätsbewegung weitgehend ein Monopol eines kleinen Teils der antiimperialistischen Linken ist, der keinerlei Verbindung mehr zur demokratischen Strömung in diesem Land hat.

Wie gebrochen das Verhältnis besonders jenes Teils der Linken, der sich mit der Palästinasolidarität befaßt, zu seiner eigenen Tradition des Kampfes gegen Antisemitismus ist, wurde während der Diskussion über den Holocaust-Film deutlich. An dieser Filmserie wurden vorwiegend ästhetische Mängel und das Moment der Rechtfertigung des Zionismus herausgestellt. Diese Diskussion offenbarte einen abschreckenden Mangel an Sensibilität und den stark theoretischen Charakter der Palästinasolidarität, die in ihrer Parteinahme für die palästinensische Sache den tragischen Charakter der israelisch-palästinensischen Konfrontation ausblendet. Wer von der Darstellung des Untergangs des europäischen Judentums nicht zunächst ergriffen und erschüttert ist, stattdessen die ästhetischen Kathegorien in den Mittelpunkt rückt oder die Aussage des Films auf die Rechtfertigung des Zionis­mus reduziert, der verdrängt die Kontinuität historischer Verantwortung und legt ein Maß an Gefühlskälte oder Gefühlsverdrängung an den Tag, die Zweifel an der moralischen und emotionalen Integrität seines Engagements für unterdrückte Völker aufkommen läßt.
Die Stellungnahme der PLO zum Holocaustfilm (7) kann niemals die Stellungnahme der deutschen Solidaritätsbewegung werden, wenn sich diese nicht außer­halb ihrer eigenen Tradition stellen will. Diese Differenz sollte nicht unter den Tisch gewischt sondern thematisiert werden. In kaum einer anderen Frage der na­tionalen Befreiung ist die europäische und vor allem die deutsche Linke so gut in der Lage, aus der Solidarität ein Geben und Nehmen zu machen wie im Palästina/ Israelkonflikt.

Nahum Goldmann hat mit der Feststellung „ohne Auschwitz kein Israel" völlig recht. Es ist zwar ebenso richtig, daß der Holocaust allein niemals Israel geschaffen hätte, Israel nur entstehen konnte, weil der Zionismus im Bunde mit dem britischen Imperialismus die Grundlagen dieses Staates frühzeitig und lange vor der Judenverfolgung der Faschisten gelegt hatte. Ebenso richtig aber ist es, daß diese zionistisch-britischen Anstrengungen niemals zu einem Staatsgebilde wie dem heutigen Israel geführt hätten, wenn der Faschismus und die Politik der Alliierten nicht eine Situation geschaffen hätten, in der der Masse des europäischen Judentums in der Tat keine andere Zuflucht als Palästina blieb.

Heute ist das Selbstbewußtsein der Israelis weitgehend von der faschistischen Vernichtungsgefahr ge­prägt bzw. von dem Bewußtsein, dieser Gefahr entkommen zu sein und vor die­ser Gefahr nur in Israel, im eigenen Staat, sicher zu sein. Keine Lösung des Nahostkonfliktes ist denkbar, die die Geschichte der Juden und vor allem die jüngste Ge­schichte nicht berücksichtigt. Das ist eine Erkenntnis, von der die PLO, die Masse der Palästinenser und die Masse der Araber noch ziemlich weit entfernt sind, aus verständlichen Gründen, warum sollten sie auch die Zeche zahlen. Und dennoch wird die Existenz der Juden in Palästina und die Existenz des Staates Israel un­trennbar mit dem Trauma der Vernichtung verbunden bleiben. Von den Juden aus gesehen heißt also die Zerschlagung Israels die Fortsetzung von Auschwitz. Und solange die palästinensische Strategie davon nicht ausgeht, gibt es in Palästina nur Kampf bis zum letzten Israeli und keine Möglichkeit einer politischen Einigung. In dieser Frage kann die europäische, vor allem aber die deutsche Palästinasolidaritätsbewegung einen Beitrag zum Verständnis des Problems leisten. Und das sollte sie auch tun.

Fußnoten

1) Während des Ersten Weltkrieges war Großbritannien vital daran interessiert, die unter os-manischer Herrschaft lebenden Araber auf die Seite der Allierten in den Krieg gegen das osmanische Reich zu ziehen. Der britische Hochkommissar in Kairo wandte sich an Hussein, den Scherif von Mekka, den Hüter der heiligen Stätten des Islam. Hussein stand über seinen Sohn Feisal mit arabischen nationalistischen Organisationen in Damaskus in Verbindung. In der Korrespondenz zwischen McMahon und Hussein (der erste Brief datiert vom 14.7.1915) geht es um britische Garantien für ein nach dem Sieg über das osmanische Reich zu errichtendes unabhängiges gesamtarabisches Königreich auf dem Territorium der heutigen Staaten der arabischen Halbinsel (unter Ausschluß Adens) sowie der heutigen Staaten Jordanien, Irak, Syrien, Palästina. Ausgenommen sollte lediglich das Gebiet des heutigen Libanon sein. Dieses an Hussein Scharif gegebene Versprechen wurde nie erfüllt, obwohl Hussein und sein Sohn Feisal einen arabischen Aufstand leiteten, der den Türken schwere Schläge versetzte, ein Aufstand, der untrennbar mit dem Namen Lawrence von Arabien verbunden ist.

2) Bei der Balfour-Deklaration handelt es sich um einen Brief vom 2.11.1917 des britischen Außenministers Balfour an Graf Rothschild, einen Sprecher der zionistischen Bewegung, in dem dieser die Sympathie der königlich-britischen Regierung für die Pläne der Zionisten ausdrückt, auf dem Gebiet Palästinas eine Heimstätte für die Juden zu errichten. Die Balfour-Deklaration, die von den Zionisten als Rechtstitel auf Palästina angesehen wird, steht in krassem Widerspruch zu den von McMahon gegebenen Zusicherungen. Die in Frage stehenden Dokumente sind in zahllosen Palästinamonographien auszugsweise wiedergegeben, z.B. in Edouard Atiyah und Henry Cattan, Palästina, Versprechen und Enttäuschung, Palästina Monographie Bd. 3, Rastatt 1970, S. 30 und S. 23. Ausführlichere Informationen finden sich in George Antonius, The Arab Awakening, London 1946, und Robert John, Sami Hadawi, The Palestine Diary, Palestine Research Centre, Beirut 1970.

3) Siehe: Paris Yahya, Zionist Relation with Nazi Germany, Palestine Research Centre. Beirut 1978.

4) Haj Amin AI Hussein!, Mufti von Jerusalem und langjähriger Führer und unangefochtene Autorität des palästinensischen Widerstandes gegen die britische Mandatsmacht und zionistische Besiedlung, ging nach seiner Ausweisung durch die Briten aus Palästina nach Berlin und leitete dann jahrelang mit deutschen Geldern einen arabischen Rundfunksender, der nach Palästina hinein strahlte.

5) Man kann davon ausgehen, daß pro israelische Sympathie in Deutschland sehr häufig als Ausdruck des Antifaschismus und weniger als Ausdruck des Prozionismus zu werten ist, und entsprechend muß eine Politik, die alle demokratischen und antifaschistischen Kräfte gewinnen will, vorgehen.

6) Am Anfang dieser Erneuerung des Marxismus steht das Werk eines Nichtmarxisten, des jüdischen Historikers und Philosophen Gerschom Scholem. Die historische Darstellung und Deutung der jüdischen Mystik macht sein Lebenswerk aus. Gerschom Scholem verband eine langjährige enge Beziehung zu Walter Benjamin, den er nachhaltig beeinflußte und dem sowohl Bloch wie auch Adorno und Marcuse verpflichtet sind.

7) aus einem SPIEGEL-Gespräch mit Jassir Arafat („Der Spiegel", 12/79, S. 136)
SPIEGEL: Das ist eine Frage der deutschen Vergangenheit, über die wir wohl schwerlich miteinander diskutieren können. Vielleicht haben Sie aber auch davon gehört, wie tief die amerikanische Fernsehserie „Holocaust" Millionen Deutsche bewegt hat. Arafat: Wie könnt Ihr so etwas akzeptieren? Warum die neue Diskussion, warum die gei­stige Besatzung? Der Spiegel reitet auch auf dieser Welle und veröffentlicht eine Serie über Konzentrationslager. Als ob nur die Juden gelitten hätten und Millionen aus anderen Völkern nicht zählen würden. Palästinenser leiden und sterben täglich durch die zionistische Besatzung (...) Und noch zur Holocaust-Serie: Sie ist ein geplantes Theater. Als die Zionisten merkten, daß die Sympathien für sie nachließen und die Maske von ihrem Gesicht fiel, fingen sie an, dieses Theater zu veranstalten.

Editorische Anmerkungen:

Der Text umfasst die beiden letzten Abschnitte des im Frühjahr 1980 erschienenen Artikels "Palästinasolidarität nach Indochina, Holocaust und Camp David".

Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift "Befreiung", die zum maoistischen westdeutschen Spektrum gehörte, in der Nr. 17/18 veröffentlicht.  Die Nummerierung der Fußnoten wurde für den virtuelle Reprint angepasst.