Im Dilemma
Eindrücke von der radikalen Linken in Israel

von Stephan Grigat, Tel Aviv

08/04

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Was bedeutet es, im Staat der Shoah-Überlebenden radikale Staats- und Kapitalkritik zu formulieren? Radikale Linke befinden sich in Israel in einem Dilemma, das aber nur den wenigsten bewusst zu sein scheint. Der Normalzustand ist, dass man sich als Staatskritiker gegen die Ideologie zur Wehr setzt, der Staat seien »wir alle«, und die Anmaßung des Souveräns zurückweist, einem, da man nun einmal lebt, auch noch ein »Recht auf Leben« zuzuweisen, mit dem die staatliche Gewalt stets demonstriert, dass sie dieses Recht jederzeit auch entziehen oder relativieren kann. Abstrakt trifft das auf Israel ebenso zu; Israel aber ist nicht »normal«, ist kein »Staat wie jeder andere auch«, sondern die bürgerliche Emanzipationsgewalt von Juden und Jüdinnen, ein bewaffnetes Kollektiv zur Abwehr des antisemitischen Terrors. Insofern ist seine Existenz, auch wenn dieses scheinbare Paradox nur wenige in der radikalen Linken wahrhaben möchten, die Bedingung für radikale Kritik an Staat und Kapital.

Es war Benny Morris, der frühe Kritiker der zionistischen Gründungsmythen, der in der Tageszeitung Ha’aretz festhielt, dass sich nicht nur viele europäische Beobachter, sondern auch die radikalen Linken in Israel oft weigern, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kampf der Palästinenser sich nicht allein gegen die Besatzung in der Westbank und im Gazastreifen richtet, sondern fast immer auch gegen das israelische Existenzrecht und gegen all jene Ausprägungen von menschlichem Dasein, die den religiösen und nationalistischen Jihadisten als Ausgeburt des »westlichen Satanismus« gelten.

Und tatsächlich: Gespräche mit israelischen radikalen Linken über den Konflikt mit den Palästinensern nehmen stets einen ähnlichen Verlauf. Der Konflikt ist zwar das alles beherrschende Thema, aber der Antisemitismus in den arabischen Gesellschaften wird von der radikalen Linken weitgehend ignoriert. Spricht man Aktivisten darauf an, sei es aus dem autonom-anarchistischen, sei es aus dem marxistisch-leninistischen Milieu, kann man in der Regel das gleiche Reaktionsmuster beobachten.

Anfänglich wird die Existenz eines Antisemitismus schlicht geleugnet. Gib man sich damit nicht zufrieden, so wird er verharmlost, mit dem Hinweis auf die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern rationalisiert oder im Vergleich mit dem antiarabischen Rassismus in Israel relativiert. Am häufigsten wird er mit dem Hinweis auf die Besatzung entschuldigt, wobei man sich fragt, was dann der Grund für den arabischen Antisemitismus vor 1967 war. Nicht selten geben jedoch dieselben Leute nach einiger Zeit zu, dass der palästinensische Judenhass ein zunehmendes Problem ist, nur könne es für eine radikale Linke kein Thema sein, da der Antisemitismus stets vom »zionistischen Establishment« instrumentalisiert werde. So ist es auch kein Wunder, dass die Auseinandersetzung mit der Ideologie des islamistischen »Umma-Sozialismus«, wie man die jihadistische Mordbrennerei in Anlehnung und Abgrenzung zu ihren nationalsozialistischen Vorbildern vielleicht nennen sollte, vor allem von der Rechten und der zionistischen Linken geführt wird.

Womit aber beschäftigt sich die israelische radikale Linke ansonsten? Mit nicht viel anderem als ihre Genossen in Europa: Demos gegen die Befreiung des Irak von der ba’athistischen Diktatur, Sozialabbau, Frauendiskriminierung. Besonders ausgeprägt ist die Beschäftigung mit »Tierrechten«, wenn’s ganz arg kommt, auch schon mal mit »Pflanzenrechten«. Vorreiter sind dabei anarchistische Gruppen, insbesondere die Tierrechtler von Ma’avak Ehad.

Trotzkisten, von denen sich in früheren Jahren einige dadurch hervorgetan haben, dass sie die Kooperation mit so emanzipatorischen Regimes wie dem syrischen propagierten, sind wie üblich in konkurrierenden »Vierte Internationale«-Parteien organisiert. Gruppen wie The Socialist Struggle freuen sich über steigende Mitgliederzahlen, präsentieren stolz ihre Neuzugänge aus den Reihen junger russischer Einwanderer und werfen auf ihren Treffen allen anderen Trotzkisten naturgemäß vor, sich von den »Arbeitern und Massen entfernt« zu haben. Auf Demonstrationen kann man Aktivisten antreffen, die einem, wie um beweisen zu müssen, dass sich die obskursten Charaktere in der radikalen Linken stets in einem der Fanclubs des bolschewistischen Möchtegernstalin organisieren, die Propagandalüge auftischen, die Zionisten hätten »hervorragend mit den Nazis zusammengearbeitet«.

Das Israel Communist Forum ist eine Gruppierung, die sich 1999 von der israelischen KP abgespalten hat, um - nach wie vor auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus - den wahren Kommunismus gegen alle Abweichungen zu verteidigen. Auch die Linksradikalen um das Magazin Challenge gründen ihre Analysen auf die Imperialismusvorstellung des ML.

Infi hingegen, das International Non-Movement for In-Action, ist eine Kleingruppe, die traditionelle Linke bei ihren Veranstaltungen mit situationistisch inspirierten Aktionen verunsichert. Auf der großen Friedensdemonstration am 15. Mai forderte sie die Anwesenden auf, ihre nutzlosen Aktivitäten einzustellen und sich sinnvollen Dingen wie Bügeln oder Fernsehen zu widmen, was bei den Kundgebungsteilnehmern verärgerte bis aggressive Reaktionen hervorrief - auch wenn es sich bei Infi in Wirklichkeit um gewaltfreie Anti-Zaun-Aktivisten handelt, die lediglich die ritualisierten Protestformen durch »kreative« ergänzen wollen. Selbstverständlich gibt es auch Poplinke, die den 1. Mai in Tel Aviv gerne im »Club Kosmonaut« verbringen und sich dort sowjetische Propagandafilme und Videoclips reinziehen, in denen israelische Politgrößen wie Golda Meir oder Moshe Dayan neben Pornobildern gezeigt werden. Nach Aussage der Kellnerin will man mit Politik aber »auf gar keinen Fall etwas zu tun haben«.

Im universitären Bereich ist der Linksradikalismus untrennbar mit Moshe Zuckermann verknüpft. Der Direktor des Instituts für deutsche Geschichte in Tel Aviv hat zahlreiche wichtige Publikationen über Diskriminierungen in der israelischen Gesellschaft vorgelegt, steht aber ansonsten für einen poststrukturalistisch aufgepeppten Traditionsmarxismus, der selbst noch die Kritische Theorie sozialdemokratisiert. In Deutschland nimmt Zuckermann mittlerweile an Konferenzen mit Freunden des Ba’athismus und Islamismus und mit Norbert Blüm teil. In Israel organisierte und moderierte er kürzlich eine Tagung mit Edzard Reuter und dem Sohn von Hanns-Martin Schleyer, auf der dann auch die entsprechenden Inhalte geboten wurden.

Vergleiche mit Nazi-Deutschland sind in der israelischen Linken, wenn auch in der Regel aus anderen Motiven als in den Nachfolgestaaten des Nationalsozialismus, obligatorisch; ob nun die Ha’aretz-Korrespondentin Amira Hass von »Herrenmenschen« spricht, Anarchisten T-Shirts mit der Aufschrift »Ghetto 2004« vertreiben oder Benjamin Netanyahu in »It’s all lies«, einer Dokumentation von Flugblättern, mit Hitlergruß abgebildet ist.

Zwischen der antizionistischen und der zionistischen Linken kommt es immer wieder zu Konflikten. Bereits im vergangenen Jahr waren Reservisten, die zwar den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, aber jederzeit bereit sind, das Land gegen Angriffe militärisch zu verteidigen, und das mittels der israelischen Fahne auf ihren T-Shirts auch deutlich machen, auf Demonstrationen mit antizionistischen Sprechchören konfrontiert. Anarchokommunisten, vornehmlich aus Haifa, fanden es bei der Friedensdemonstration vom 15. Mai angebracht, die Nationalhymne Hatikva - mit der die Kundgebung beendet wurde, da es der zionistischen Linken in Israel im Gegensatz zu der Mehrzahl ihrer europäischen Fangemeinde tatsächlich um die Sicherung des Bestandes Israels geht - durch den Slogan »Zionismus ist Rassismus« zu stören - eine Parole, die auch dann nicht intelligenter wird, wenn sie von israelischen Linksradikalen skandiert wird. Auf der diesjährigen 1. Mai-Demonstration in Tel Aviv kam es aus dem gleichen Anlass zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Ordnern von Hanoar Haoved Vehalomed, der Jugendorganisation der Arbeiterpartei, und Anarchisten aus dem Umfeld des autonomen Infoladens Salon Mazal.

Nach ihren eigenen Schätzungen gibt es in Israel rund 200 Anarchisten, fast ausnahmslos junge jüdische Israelis. Israelische Araber tendieren, wenn sie sich für linke Politik jenseits der Sozialisten interessieren, in der Regel zu den Parteikommunisten von Hadash. Eigenen Angaben zufolge haben die israelischen Anarchisten allerdings Kontakte zu kleinen Grüppchen in palästinensischen Flüchtlingslagern.

Die heutigen Anarchos stehen weniger in der Tradition der anarchistischen Black Front der frühen siebziger Jahre mit ihrer Publikation Freaky, sondern eher in jener der Anarcho-Punks der achtziger Jahre, die ausgehend von der Pacifist Youth die Israeli Anarchist Federation gründeten, welche sich bereits jener Themen annahm, die auch für die heutigen Anarchisten neben dem Antizionismus zentral sind: McDonald’s, Vegetarismus und Umweltschutz.

 

Editorische Anmerkungen:

Dieser Artikel wurde uns vom Autor mit der Bitte um Veröffentlichung überlassen. Er war zuvor in der jungle world 28, 30. 6. 04 erschienen.