"Es müssen neue Strategien her!"
Ein Interview zur Mobilisierung gegen die jährlichen Rudolf-Hess-Gedenkmärsche und deren Bedeutung für die europäischen Nationalsozialisten

08/04

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Auch im August 2004 wollen Neonazis im oberfränkischen Städtchen Wunsiedel den sogenannten Rudolf-Hess-Gedenkmarsch durchführen. Zur Bedeutung dieser Aufmärsche für die Neonazi-Szene und die Möglichkeiten einer antifaschistischen Gegenmobilisierung sprachen wir mit dem Anwalt und langjährigen Beobachter der Hess-Gedenkmärsche Alexander Hoffmann.

raumzeit: Seit dem Jahr 1988 finden jährlich Versuche von Neonazis statt, am Todestag von Rudolf Hess "Gedenkmärsche" durchzuführen. Wieso bietet sich – aus Sicht der Neonazis - gerade Rudolf Hess für eine solche Heldenstilisierung und zur Mythenbildung an?

Alexander Hoffmann: Einerseits erhielt das damalige HILFSKOMITEE FÜR DIE FREILASSUNG RUDOLF HESS vor seinem Tod politische Unterstützung von Mitgliedern und Politikern beinahe aller Parteien. Die Forderung nach Freilassung beruhte auf einem relativ breiten Konsens in der deutschen Bevölkerung. Andererseits hat Hess niemals auch nur einen Ansatz von Reue gezeigt – ein Begnadigungsgesuch stellte er persönlich nie, da er schon sein Urteil niemals akzeptiert hat. Sein "Friedensflug" bietet darüber hinaus Gelegenheit, die Kriegsschuld der Nazis ein weiteres Mal zu relativieren.

raumzeit: Kannst du kurz etwas zur Geschichte der Hess-Gedenkmärsche erzählen?

Alexander Hoffmann: In den ersten Jahren nach dem Tod Hess entwickelten sich die Hessmärsche rasant zu den größten Aufmärschen der internationalen Naziszene. Eine starke bundesweite Mobilisierung der autonomen antifaschistischen Bewegung sowie der innen- und außenpolitische Druck auf die Bundesregierung führten allerdings dazu, dass nach mehreren geduldeten oder quasi-geduldeten Märschen ein durchgängiges staatliches Verbot verhängt wurde. Erst in der Folge der von Christian Worch initiierten Demonstrationskampagne und der hierbei erkämpften Verfassungsgerichtsurteile eröffnete sich ab dem Jahr 2000 erneut die Möglichkeit einer legalen Demonstration. Diese wurde von dem Hamburger Nazifunktionär und Rechtsanwalt Jürgen Rieger genutzt, der seitdem als offizieller Veranstalter auftritt.

Dieses Jahr wird der Marsch am 21. August stattfinden. Im Gegensatz zu den Vorjahren ist in diesem Jahr nicht mit einem Verbot zu rechnen, gegen das die Veranstalter vorgehen müssten. Der Weg durch die gerichtlichen Instanzen in den Vorjahren hat deutlich gemacht, dass gegenwärtig ein solches Verbot nicht aufrechtzuerhalten sein wird.

raumzeit: Wie schätzt du die Bedeutung der Hess-Gedenkmärsche und des "Mythos" Rudolf Hess für die bundesdeutsche aber auch internationale Neonazi-Szene ein?

Alexander Hoffmann: Auffällig war in den Jahren 2002 und 2003 der Zuwachs an internationalen TeilnehmerInnen aus dem europäischen Ausland. Zahlenmäßig stach hierbei vor allem die italienische BLOOD AND HONOUR-Gruppe VENETO SKINHEADS ins Auge. Vertreten waren aber auch Einzelpersonen und Gruppen aus ganz Westeuropa sowie aus der slowakischen Republik, Tschechien und Kroatien. Da in den kommenden Jahren keine rechtlichen Schwierigkeiten bei der Durchführung der Demonstrationen zu erwarten sind, ist davon auszugehen, dass die Anzahl ausländischer Neonazis zunehmen wird.

In Wunsiedel wird direkt Bezug auf den damaligen "Stellvertreter" Adolf Hitlers genommen. Der "Gedenktag" bietet die symbolhafte Möglichkeit, ohne staatliche Repressalien direkt einem Protagonisten des Dritten Reiches zu huldigen. Der Stellvertreter Hitlers, der bis zu seinem Tode sein Handeln und den Nationalsozialismus verteidigt hat, wird hierbei als Märtyrer gefeiert.

Die Veranstaltung soll als Schnittstelle zwischen den verschiedenen Aktivistengenerationen etabliert werden. Der Anmelder Rieger dürfte hierfür die idealsten Voraussetzungen bieten, da er als Integrationsfigur bei den verschiedensten Gruppierungen höchstes Ansehen hat. Sollte auch in der Zukunft eine antifaschistische Mobilisierung größeren Ausmaßes unterbleiben, haben die Nazis die Chance, tatsächlich einen jährlichen Event der europäischen Nationalsozialisten durchzuführen.

raumzeit: Siehst du einen Zusammenhang mit dem "neuen deutschen Opferdiskurs", der mit der Umdefinierung der NS-Geschichte verbunden ist und der Täter zu Opfern macht, und den steigenden TeilnehmerInnenzahlen bei den Hess-Gedenkmärschen?

Alexander Hoffmann: Gerade an der Geschichte der Heßmärsche kann die Veränderung des Selbstbildes der politischen Eliten der Bundesrepublik nachvollzogen werden. Selbst die Kohl-Regierung stand – sei es in ihrer Außen- und Europapolitik, sei es in Fragen der Repression gegenüber Neonazis - immer noch aufgrund der Naziverbrechen unter dem Druck der deutschen und internationalen Öffentlichkeit, Deutschland als Staat darzustellen, der sich gegen Neofaschismus und Chauvinismus stellt. Mit dem Regierungsantritt der Schröder-Fischer-Koalition, die aufgrund ihrer Vergangenheit in der 68er-Bewegung diesen Druck nicht hatte, wurde ein neues Selbstbild des bundesdeutschen Staates als per se antifaschistisch geschaffen. Ausgehend von der These der inhaltlichen wie personellen Bewältigung des Nationalsozialismus wurden beispielsweise internationale Militäreinsätze gerade mit der Verantwortung vor der Geschichte begründet. Innenpolitisch ließ die Tatsache, dass diese Regierung von der Mehrheit der Deutschen gewählt worden war, die Notwendigkeit einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Neofaschismus entfallen. Der Sommer der sogenannten "Mehrheit der Anständigen" 2001 und das NPD-Verbotsverfahren zielten eben nicht auf eine Auseinandersetzung mit Rassismus und Nationalismus in der deutschen Gesellschaft, sondern sollten der Welt ein "sauberes" Deutschland präsentieren. Aus diesem Grund wurden die kurzfristig unterstützten oder ins Leben gerufenen Initiativen auch nach kurzer Zeit wieder fallengelassen.

raumzeit: Im Gegensatz zu den 90er Jahren wurde den Neonazis in den Jahren 2001 bis 2003 kaum Widerstand entgegengebracht. Woran scheiterte die antifaschistische Mobilisierung – und was ist aus den Fehlern zu lernen?

Alexander Hoffmann: Zum einen lag es wohl daran, dass die bundesdeutsche antifaschistische Bewegung angesichts einer wahren Schwemme von Nazidemonstrationen, die in den letzten Jahren an fast jedem Wochenende überregional stattfanden, die Bedeutung des Heßmarsches für die Naziszene unterschätzt hat.

Zum anderen waren die Mittel und Strategien der 80er und 90er Jahre unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen ungeeignet. Schon ab dem Jahre 2000 war es sogar bei Demonstrationen in Großstädten mit einer starken Mobilisierung schwierig, adäquat und politisch zu reagieren. Verlässliche und für mögliche TeilnehmerInnen berechenbare Aktionen wurden zusehends zu einer Seltenheit. Dies führte dazu, dass die ohnehin geringe Beteiligung noch weiter zurückging. Die im autonomen Teil der antifaschistischen Bewegung nach wie vor starke Anbindung an militante Antifa-Praxis funktionierte einerseits nicht und machte es andererseits oft unmöglich, neue Wege mit Bündnissen zu gehen.

Auch die tatsächlichen Chancen der Nazis bei der gerichtlichen Durchsetzung des Wunsiedel-Aufmarsches wurden unsererseits erheblich unterschätzt.

Antifaschistische Demonstrationen waren ab Mitte der 90er Jahre überwiegend von autonomen antifaschistischen Gruppen und dem Versuch einer militanten Zerschlagung rechter Demonstrationen geprägt. Gleichzeitig lösten sich erhebliche Teile der autonomen antifaschistischen Gruppen auf. Immer weniger Aktive beteiligten sich an antifaschistischen Aktionen. Dadurch entstand eine Situation, in der immer weniger und immer schlechter organisierte AntifaschistInnen versuchten, eine autonome antifaschistische Praxis aufrechtzuerhalten, die unter vollständig anderen Umständen entwickelt worden war. Mit wenigen Ausnahmen zerbrachen auch die Bündnisse mit bürgerlichen antifaschistischen Organisationen, die in der Vergangenheit eine wichtige Aufgabe bei der gesellschaftlichen Legitimierung antifaschistischer Arbeit gespielt hatten.

Die antifaschistische Bewegung wird den jährlichen Heßmarsch auf Jahre hin nicht "verhindern" können. Sie muss dennoch vor Ort massiv Präsenz zeigen. Ein jährliches Treffen mehrerer tausend Nationalsozialisten kann nicht widerstandslos hingenommen werden, will man nicht jegliche Glaubwürdigkeit verspielen.

raumzeit: Wie könnte es gelingen AntifaschistInnen wieder für das Thema "Rudolf Hess" zu sensibilisieren und eine erfolgreichere Gegenmobilisierung als in den letzten Jahren zu erreichen?

Alexander Hoffmann: Wir können eine erfolgreiche Mobilisierung und Aktion gegen den Naziaufmarsch in Wunsiedel nur dann erfolgreich organisieren, wenn wir die Illusion einer erfolgreichen direkten "militärischen" Auseinandersetzung mit den dort marschierenden Neonazis über Bord werfen.

Es müssen neue Strategien her, die auf Dauer ein breites Bündnis entstehen lassen und Impulse auch für andere antifaschistische Aktivitäten setzen. Ein mittelfristiges Ziel ist die aktive Einbindung von internationalen und nationalen Opferverbänden, Organisationen und Initiativen für Opfer rassistischer Übergriffe, MigrantInnenorganisationen, Geschichtswerkstätten, GewerkschafterInnen, Widerstandsorganisationen, antirassistischen Initiativen und aktiven AntifaschistInnen, in die Gestaltung der Aktivitäten.

Hierfür gibt es unserer Ansicht nach inhaltliche und praktische Voraussetzungen, die eingehalten werden müssen:

Anknüpfungspunkt ist natürlich die neue politische Qualität der offenen, gesellschaftlich tolerierten und von der Justiz abgesegneten Huldigung des Nationalsozialismus in Wunsiedel. Darüber hinaus muss die Einordnung des Naziaufmarsches in die gesellschaftliche und politische Realität der "Berliner Republik" inhaltlich und propagandistisch Schwerpunkt der Aktivitäten sein.

 

Editorische Anmerkungen:

Dieses Interview ist eine Spiegelung von
http://www.raumzeit-online.de/072004/druckversion_a249.html