Interview mit Hannes Heer
"Vom Verschwinden der Täter"

Das Interview führte Andreas Speit

08/04

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Auf 1.433 Fotos konfrontierte die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" die Besucher mit den Tätern in Wehrmachtsgrau. Knapp vier Jahre später, 1999, zog das "Hamburger Institut für Sozialforschung" (HIS) die Ausstellung, welche die Legende von der "sauberen Wehrmacht" zerstörte, zurück. Etwa 20 Bilder hatten die Historiker um Hannes Heer falsch zugeordnet. Als Leiter des HIS untersagte Jan Philipp Reemtsma den Autoren "jede öffentliche Stellungnahme". In seinem neuen Buch kritisiert Heer das Konzept der neuen Ausstellung, weil sie sich in den momentanen Geschichtsdiskurs "Taten ohne Täter", einbetten würde und reflektiert den geschichtspolitischen Rollback der Entschuldung der Deutschen.

DRR: Das Bildgenre der privaten Landserfotos fehlt in der Ausstellung, nicht aber die Bilder von Hinrichtungen. Dennoch, betonen Sie, seien durch dieses "nicht mehr Zeigen" die Täter verschwunden.

H.H.: Das Erscheinen dieses Genre der Privatfotos bezeichnet in der Erinnerungskultur eine Zäsur. Neben dem Holocaust in den Vernichtungslagern, der seltsam bildlos wie ein metaphysisches Geschehen begriffen wurde, taucht jetzt der Holocaust auf freiem Feld auf, in den besetzten Gebieten der Sowjetunion - mit den Fotos von Tätern und Opfern. Indem die neue Ausstellung diese Fotos, von denen Millionen in den privaten Fotoalben der Soldaten aufbewahrt wurden, als unsichere Quelle aussortiert, kehrt sie zu einer Geschichte der Wehrmacht und der darin verantwortlichen Eliten zurück.

DRR: Die Brisanz der von Ihnen konzipierten Ausstellung lag in der Darstellung der potenziellen Verbrechen des jedermanns Mann, Vater, Bruder oder Onkel...
H.H.: Das ist ja eine sehr zutreffende Formulierung von Herrn Reemtsma gewesen, als er noch hinter dieser Ausstellung stand: Mit den Verbrechen des Jedermann sind die Taten oder Millionen ganz normaler Deutscher gemeint. In der neuen Ausstellung tauchen stattdessen als Verantwortliche nur ein paar hundert Generäle auf, deren Porträts an jedem Verbrechenskomplex erscheinen. Die bewaffnete Volksgemeinschaft verschwindet so aus der Nähe des Völkermords.

DRR: Sie betonen,, dass die "Fusion von Volk und Führer" ausgeblendet würde.
H.H.: Dass die Wehrmacht an den genozidalen Verbrechen beteiligt war, hatten schon die Nürnberger Prozesse und später exakter die kritische Militärgeschichte gezeigt. Das Provokante an unserer Ausstellung war erstens die These, dass die Stunde Eins des Holocaust in den besetzten Gebieten begonnen hatte und dass die Wehrmacht in arbeitsteiliger Weise an diesem Mord beteiligt war. Und zweitens der Nachweis, dass sich nicht nur fanatische Nazioffiziere, sondern auch die Truppe an dem massenhaften Mord beteiligte. Insofern warfen wir die Frage nach der Mentalität der Soldaten auf. Die Antwort war, die mittlerweile von der Forschung erhärtete und differenzierte, dass Antisemitismus und Antibolschewismus - also ein sehr rabiater Rassismus - den Völkermord möglich gemacht habe.

DRR: "Die These steht", betont Reemtsma.
H.H.: Die These, dass die Wehrmacht Verbrechen begangen hat, ja. Aber die eben erwähnten weitergehenden Thesen sind nicht mehr zu finden. Offensichtlich ging es dem HIS nur darum die nationalkonservative Kritikermeute, um Horst Möller, Peter Gauweiler und so weiter, still zu stellen. Da geht es nicht mehr um Wissenschaft, da geht es um Politik.

DRR: Die Wortwahl klingt nach persönlicher Abrechnung.
H.H.: In meinem Buch geht es nicht um eine Abrechnung mit Herrn Reemstma, der taucht gerade mal in einem Kapitel auf. Es geht vielmehr darum zu zeigen, wie sich durch die ganze Geschichte der Bundesrepublik das Bemühen hindurchzieht, statt die wirkliche Vergangenheit zu akzeptieren, sich eine passende Vergangenheit zu konstruieren.
Dazu gehört, die Täter zum Verschwinden zu bringen. In der Literatur bemühten sich schon in den 50er Jahren alte Nazi-Eliten und neue Kalte Krieger diesem Zusammenhang in den Werken von Heinrich Böll und Erich Maria Remarque keinen öffentlichen Raum zu geben. Bölls "Kreuz ohne Liebe" wurde erst Jahrzehnte später, im Jahre 2002, veröffentlicht, Remarques Buch "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" umlektoriert, damit die Wehrmacht entlastet wird und die Täter nicht als Täter erscheinen. Ohne direkte Eingriffe der Verlage gehen indes gerade in den jüngst erscheinenden Familienromanen Töchter und Enkel einen fiktiven Dialog mit ihrem Vater oder Großvater ein, um eine Versöhnung herzustellen, die von dem Wunsch ausgeht das Geschehene ungeschehen zu machen.

DRR: Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruder" läuft diesem Rollback entgegen. In ihrem neuen Buch beschreiben sie genau diese gegensätzliche und ineinandergreifenden Debatten...
H.H.: Natürlich gibt es Gegenbeispiele: Uwe Timm gehört dazu. Dass die Täter verschwinden, wieder zu geschätzten Familienangehörigen werden, ist natürlich ein komplexer Prozeß. Wahrscheinlich ist der neue Familienroman auch nur eine Gegenreaktion auf die erste Wehrmachtsausstellung. Diese hatte die Millionen Soldaten der Wehrmacht, als wirkliche oder potentielle Täter, ja erst so scharf ausgeleuchtet. Das verlief parallel zu anderen Projekten. Schon der Film Schindlers Liste machte deutlich, dass ein im Grunde unsympathischer Abenteurer und Geschäftemacher Handlungsspielräume hatte, Juden zu retten. Diese ganzen Geschichten von Befehlsnotstand - "man konnte nichts machen" oder "man wurde gleich an die Wand gestellt" - erscheinen alle als Schutzbehauptungen. Dann kommt die Veröffentlichung von Victor Klemperers Tagebüchern, in denen die Volksgemeinschaft in Aktion gezeigt wird. Klemperer zeigt auch, was ein von allen Informationen ausgeschlossener, verfolgter und vom Tod bedrohter jüdischer Professor alles in Erfahrung bringen konnte. Der berichtet über Auschwitz, kaum dass Auschwitz angefangen hat mit seiner Vernichtungsarbeit; der ist informiert über die Verbrechen; über die Verluste; über die Rückmärsche an der Ostfront. Christopher Browning hat am Beispiel des Hamburger Polizeibataillons 101 gezeigt, wozu einfache Polizeibeamte, ganz normale Männer, fähig waren. Und Daniel Goldhagens Buch mit einer im Detail oft ungenauen und mechanischen Beweisführung, aber mit der richtigen Fragestellung: wie breit war eigentlich der Nationalsozialismus verankert in diesem Volk? Das ist die entscheidende Frage. In diesem Klima kommt die Wehrmachtsausstellung mit einer ähnlichen These. Diese mediale Vehemenz erschütterte das bis dahin positive Selbstbild der Kriegsgeneration und vieler Nachgeborener.
Die Deutschen haben ja schon im Krieg angefangen, sich als Opfer zu sehen: Sie waren Opfer der Nazis, einer kriminellen Bande, die irgendwo hinten im Haus eingestiegen ist, sich dann dort breit gemacht hat, die Bewohner bedroht hat mit Gestapo, Gefängnis oder KZ. Dann waren die Deutschen auch noch Opfer der anglo-amerikanischen Terrorangriffe, der vormarschierenden Russen und später, nach 1945 die Opfer der Siegerjustiz.
Von Tätern weit und breit nichts zu sehen. Hitler war es, so lautete die neue Dolchstosslegende. Und weil der Führer nicht alleine diese gigantischen Verbrechen begehen konnte, war es die SS, die ihm half. Das waren die Täter, da war die bundesrepublikanische Öffentlichkeit sich einig. Alle anderen waren gute, tapfere Deutsche gewesen, die nur ihre Pflicht erfüllt hatten. Die Prozesse gegen Eichmann und einige Auschwitzmörder in den 60er Jahren wurden wie eine Bestätigung dieser Konstruktion verstanden. Die oben genannten Filme und Bücher, vor allem die erste Wehrmachtsausstellung, haben einen anderen Blick möglich gemacht: Dass Millionen ganz normaler Deutscher an dem Verbrechen beteiligt waren oder zumindest davon gewusst haben. Genau diesen Blick, der die Chance eröffnet hat, sich der wirklichen, statt einer passenden Vergangenheit zu konfrontieren, versuchen Bücher wie "Der Brand" von Jörg Friedrich zu annullieren. In diesem Buch existieren die Deutschen nur als Opfer. Dass in den Städten der nationalsozialistische Terrorapparat weiter existiert, dass es dort Kasernen, Soldaten, Polizisten, Rüstungsfabriken mit deutschen Facharbeitern gibt, die Tausende von Zwangsarbeiter und KZ Häftlinge dirigieren, das alles leugnete Friedrich. Dass der Autor dann auch noch den Bombenkrieg gegen die Deutschen mit dem Holocaust an den jüdischen Mitbürgern gleichsetzt, ist ebenso alarmierend, wie die Tatsache, dass die Feuilletons der großen Zeitungen diesen Tabubruch nur als sprachliche Entgleisung kritisieren. Nicht minder alarmierend ist, dass Bogdan Musial ohne großen Widerspruch den Konsens der Forschung aufkündigt, wenn er in seinem Buch "Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen", unter Mißachtung aller historischen Fakten, erklärt, dass die Juden in der Ukraine ein Tätervolk waren, weil sie angeblich nach 1939 überproportional dem sowjetischen Geheimdienstes angehörten und im Sommer 1941 an der Ermordung von Häftlingen beteiligt gewesen seien. Dass sie dann bei Einmarsch der deutschen Wehrmacht zu Zehntausenden auf offener Strasse totgeschlagen wurden, sei als Ausfluss des Volkszorns nur zu verständlich gewesen.

DRR: Musial sprach anfänglich auch davon, dass 90 Prozent der Bilder der ersten Ausstellung falsch seien...
H.H.: Wie die internationale Historikerkommission festgestellt hat, waren bei zwei von 1.433 Fotos falsche Bildlegenden aus den Archiven übernommen wurden. Insgesamt hätten, so die Kommission, 20 Fotos wegen ähnlicher Ungenauigkeiten bei den Bildlegenden nicht in die Ausstellung übernommen werden können. Massive Bildfälschungen, wie es die Historiker Musial und Ungvary behauptet hatten, lägen nicht vor. Was zunächst wie eine wissenschaftlich berechtigte Bildkritik erschienen war, erwies sich nach diesem Urteil als Teil einer großangelegten Kampagne, der es nur um die Beendigung der Ausstellung ging. Dass die Bildkritik zudem antisemitisch grundiert war, hat das nachfolgende, oben erwähnte Buch von Musial bewiesen.

DRR: Alles Revisionisten, außer Hannes Heer! So fassen Kritiker ihre Position zusammen.
H.H.: Das ist der Versuch mich in eine bestimmte rechthaberische Ecke zu schieben. In meinem Buch gehe ich mit dem Vorwurf des Revisionismus vorsichtig um: Jörg Friedrich allerdings bezeichne ich als Revisionisten.

 

Editorische Anmerkungen:

Dieser Artikel ist eine Spiegelung von
http://www.nadir.org/nadir/periodika/drr/archiv/NR88/88-3.html und erschien in der Printausgabe der Zeitschrift DER RECHTE RAND Nr.88, Mai/Juni 2004

Das Interview bezieht sich auf Hannes Heers neues Buch:  Vom Verschwinden der Täter. Aufbau-Verlag, 2004, 395 S., 22,90 Euro.