Norman Paech, Prof. em. für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht, außenpolitischer Sprecher der Linken im Bundestag 2005-2009, Mitglied von BIP e.V., kommentiert hier die Debatte des Bundestags vom 1. 7. 2020 über die drohende israelische Annexion großer Teile des Westjordanlands.
Nun haben die USA den Termin für die Annexionspläne Netanjahus doch nicht freigegeben. Ihre Unterhändler, der US-Botschafter in Israel David Friedman und der Nahostgesandte Avi Berkowitz, ein Jugendfreund von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner, haben die Uneinigkeit in der jungen israelischen Regierungskoalition und die negativen Reaktionen weltweit gegen die Annexion wohl bewogen, die Pläne noch einmal zu überarbeiten. Netanjahu äußerte sich dazu, man müsse über das Thema Souveränität noch sprechen, womit er bestimmt nicht die Souveränität Israels, sondern die Souveränität der dann noch verbleibenden palästinensischen Landflecken meinte, die nach dem Willen Trumps den versprochenen Staat Palästina ausmachen sollen.
Soweit bisher bekannt, konzentrieren sich die Annexionspläne Israels auf die im Oslo-Abkommen definierte Zone C, die ca. 60 % des Westjordanlands ausmacht und bereits unter ausschließlicher israelischer Kontrolle stehen. Sie umfasst die drei großen Siedlungsblöcke Ariel im Norden, Maale Adumim in der östlichen Verlängerung von Jerusalem und Gush Etzion bei Bethlehem sowie das fruchtbare Jordantal. Diese Gebiete werden auf jeden Fall im Annexionsplan bleiben. Die Siedlungsblöcke sind bereits durch Mauern und Sperrzäune von ihrem Umland getrennt. Der Siedlungsblock Maale Adumim zerteilt jetzt faktisch das Westjordanland in Nord- und Süd-Teile, die nur unter großem Zeitaufwand, Umgehung zerstörter oder gesperrter Straßen, und Passieren von Checkpoints und Militärkontrollen gegenseitig erreicht werden können. Während sich die Israelis auf einem perfekten für sie allein nutzbaren Straßennetz bewegen können, sind für die palästinensische Bevölkerung getrennte Straßen gebaut worden, die jedoch der Willkür der Militärpolizei mit Kontrollen und Sperrungen ausgeliefert sind. Sie wurden u. a. mit deutscher Finanzierung gebaut, und man sollte sich nicht darüber täuschen, dass sich die deutschen Entscheider nicht darüber im Klaren waren, dass sie mit ihrer „humanitären Hilfe“ für die Palästinenser gleichzeitig dieses System der Apartheid unterstützt haben. Ohne israelische Genehmigung kann in der Zone C sowieso kein Projekt begonnen werden. Auch im Jordantal haben sich die Israelis mit einem gnadenlosen Säuberungsprogramm das Land genommen, nach der Devise: Land ohne Volk. Dort leben von den ursprünglich 250.000 Palästinenserinnen und Palästinensern nur noch 70.000. Sie leben überwiegend in Jericho, da ihnen 90 % des Tals höchstens als Lohnarbeiter in den israelischen Farmen noch zugänglich sind. Wer nicht freiwillig das Land verließ, wurde durch das Militär vertrieben. Die Weltbank schätzt, dass allein durch diesen Landraub den Palästinensern ca. 3,4 Mrd. Dollar jährlich an Einnahmen entgeht. Zudem sind sie mit ihren Produkten aus den restlichen 10 % des Bodens gegenüber den israelischen Waren nicht konkurrenzfähig.
An
diesen Verhältnissen wird sich auch
mit einer Annexion nicht viel
ändern, außer, dass die annektierten
Palästinenserinnen und Palästinenser
nun die Staatsbürgerschaft Israels
erhalten – allerdings wohl nur
dritter Klasse. Denn ein Wahlrecht,
wie die jetzigen palästinensischen
Israelis es haben, wird ihnen nicht
verliehen werden.
Das war allen Parteien des
Bundestages bekannt, als sie am 1.
Juli zu einer kurzen Debatte im
Plenarsaal zusammenkamen.
Schließlich hatten sie seit über 50
Jahren den Prozess der Kolonisierung
der 1967 besetzten Gebiete mit
Vertreibung (ethnic cleansing),
Enteignung und Zerstörung, mit
Kriegen und zunehmender Gewalt
verfolgt – zwar mit Kritik, aber
ohne diesem ihre ewig beschworenen
Werte verletzenden Unwesen etwas
wirksam entgegenzusetzen. Die
Annexionspläne hat Netanjahu
erstmals im April 2019 öffentlich
geäußert, und seitdem ist die Gewalt
der Siedler und des Militärs gegen
die palästinensische Bevölkerung
extrem eskaliert. Wenn auch in der
deutschen Presse davon nur wenig und
gelegentlich berichtet wurde, in den
wöchentlichen Berichten des United
Nations Office for the Coordination
of Humanitarian Affairs (UNOCHA)
werden die fast täglichen Angriffe
der Siedler, die Übergriffe des
Militärs, die Zerstörung der
Obsthaine und Stallungen sowie die
Demütigungen der Bevölkerung
dokumentiert und sind dort
nachzulesen.
In den Anträgen und Redebeiträgen der Parlamentarier aller Parteien ist von diesen beschämenden Zuständen keine Rede. Wie bei jeder Reise nach Israel der Besuch des Holocaust-Museums Yad Vashem die erste Pflichthandlung ist, so beginnt jeder Beitrag im Bundestag mit einer tiefen Verneigung vor dem Staat Israel, wobei der [BIP-Redaktion: die Realität in Israel nicht zur Kenntnis nehmende] Zusatz “der einzigen Demokratie des Nahen-Ostens“ selten fehlt, sowie dem Bekenntnis zur eigenen Verantwortung für die Existenz und Sicherheit Israels und der Bekräftigung unverbrüchlicher Freundschaft und einzigartiger Beziehungen. Derartige Höflichkeiten bräuchten nicht hervorgehoben werden, wenn auch ähnlich freundliche Worte für die Palästinenser gefunden würden. Doch kein Wort des Verständnisses für ihre Situation. Sie werden erst auf der zweiten Seite im zehnten Absatz des Antrags der CDU/CSU und SPD, der schließlich vom Bundestag verabschiedet worden ist, erwähnt. Die Palästinensische Behörde wird dafür gerügt, „einseitig für die Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas zu werben, die Gespräche für eine verhandelte Zweistaatenlösung erschwert“. Eine Ohrfeige für die Palästinenser und gleichzeitig eine Frechheit, mit der die Überschrift des Beschlusses „… Am Ziel der verhandelten Zweistaatenlösung festhalten“ zur Lüge gestempelt wird. Seit 1948 warten die Palästinenserinnen und Palästinenser darauf, dass ihnen die von der UNO in Resolution 181 versprochene Staatlichkeit von Israel und den UNO-Staaten zuerkannt wird. Mit der Unterstützung der Bundesrepublik hat dies Israel bis heute verhindern können. Die eigenen Bemühungen der Palästinenser um Anerkennung ihnen nun als Erschwerung einer Zwei-Staaten-Lösung vorzuwerfen und zugleich die Bundesregierung aufzufordern, derartige Initiativen der Palästinenser zu verhindern, ist ein dreistes Stück diplomatischer Unverschämtheit, der sich die FDP-Fraktion in ihrem Antrag leider angeschlossen hat. Dieser Passus allein hätte genügen müssen, diesen Antrag abzulehnen, statt wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die LINKE ihn mit einer Stimmenthaltung passieren zu lassen. Nur die Fraktion der LINKEN fordert die schon lange fällige Anerkennung als Staat, wenn auch erst für den Fall der vollzogenen Annexion. Da diese auf jeden Fall rechtlich nichtig und unbeachtlich ist, stieße die Anerkennung zumindest nicht auf rechtliche Grenzen, sie würde auch die annektierten Gebiete mitumfassen.
Außer Vorwürfen und Mahnungen fällt
kein einziges freundliches Wort über
die Palästinenser, sodass man
vergessen könnte, dass schließlich
sie die Opfer der jahrzehntelangen
Besatzung und anstehenden Annexion
sind und nicht die Israelis. Zwar
fehlt auch in diesem Beschluss die
Standardformel von „einem jüdischen
und demokratischen Staat Israel und
einem unabhängigen, demokratischen
und lebensfähigen palästinensischen
Staat“ nicht, aber der Beschluss
sorgt sich allein um Existenz und
Sicherheit des jüdischen Staates.
Das Mantra der „Zweistaatenlösung“
erhält auch mit diesem Beschluss
keine Schubkraft, da sich die
Koalition nicht darauf einigen
konnte, die notwendige Grenzziehung
mit der „Grünen Linie“ von 1967 zu
konkretisieren. Damit hält der
Bundestag die Tür für Israel auf,
die demnächst annektierten Gebiete
auch zu einem legalen, vertraglich
ausgehandelten Teil Israels zu
machen. Allein BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
haben diese Grenze in ihrem
Beschlussantrag zur Grundlage eines
Staatenbündnisses gemacht. Sie
fordern auch eine gerechte und faire
Vereinbarung über die
Flüchtlingsfrage, der sich Israel
immer verwehrt hat, und Jerusalem
als Hauptstadt beider Staaten, die
nach dem Trump-Plan ganz an Israel
gehen würde. Diese Forderungen sind
bei der LINKEN unstrittig, zudem
fordern sie gemeinsam mit den GRÜNEN
ein Ende des völkerrechtswidrigen
Siedlungsbaus. Von all dem steht in
dem schließlich mit der
Koalitionsmehrheit abgestimmten
Beschluss nichts.
Alle Fraktionen fordern den Verzicht
auf die geplanten Annexionen; dass
sie völkerrechtswidrig sind, kann
nicht bestritten werden. Mit
unterschiedlichen Begründungen sind
alle Fraktionen außer der AfD dazu
einheitlicher Meinung. Nur über die
Mittel, mit denen dieses Ziel
erreicht werden kann, herrscht keine
Einigkeit. CDU/CSU und SPD haben
gemeinsam mit der FDP ihre Position
in den Bundestagsbeschluss
eingebracht, keine Sanktionen zu
fordern und jede Diskussion dazu zu
unterlassen. Lassen wir die
Widersprüchlichkeit zu ihrer
Sanktionsfreudigkeit gegen Syrien,
den Iran, Russland etc. beiseite.
Die LINKE fordert immerhin, die Militärkooperation und Waffenexporte einzustellen. Von der EU fordert sie, „notwendige und angemessene Reaktionen“ gegenüber Israel zu ergreifen und das EU-Assoziierungsabkommen auszusetzen, – alles jedoch erst im Falle der Annexion. Das sind in der Tat keine Sanktionen, die auch in der Fraktion umstritten sind, aber immerhin ein Ansatz, den notwendigen Druck auf Israel zu erhöhen, damit es seine politisch wie völkerrechtlich unhaltbare Position ändert. Die LINKE ist es auch, die den bereits lange diskutierten und sinnvollen Vorschlag für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten in ihren Beschlussantrag aufgenommen hat. Der Vorschlag wird auch dadurch nicht falsch, dass er ebenfalls von der AfD in ihrem Antrag eingebracht worden ist, so unerfreulich diese ungewollte Partnerschaft auch ist. Der Antrag der LINKEn wurde von allen anderen Fraktionen einstimmig abgelehnt.
Was bleibt, ist ein Beschluss des Bundestages, der der historischen Situation vollkommen unangemessen ist und dessen Autoren man eher im Ministerium für strategische Angelegenheiten in Jerusalem vermuten könnte als im Bundestag in Berlin. Der Tagesschau war er nicht einmal eine Erwähnung wert.
Allen Fraktionen im Bundestag sollte klar sein, dass die Zwei-Staaten-Lösung nur noch eine Fiktion ist, die durch den israelischen Landraub und die fortschreitende Siedlungspolitik schon lange keine Option für einen selbständigen palästinensischen Staat und den Frieden in der Region mehr bietet. Wenn die Staaten in der UNO dennoch daran festhalten, ist es diese Fiktion, die ihnen weiterhin die Möglichkeit des Eingreifens in den Konflikt bietet. Bei einem einzigen israelisch-palästinensischen Staat könnte jede Initiative zu Gunsten und zum Schutz der Palästinenser als unerlaubte Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen werden. Die UNO und ihre Mitgliedstaaten hätten jegliches Mandat zur Einflussnahme auf den Konflikt verloren. Die Palästinenserinnen und Palästinenser wären in ihrem Kampf gegen das Apartheidsystem um Selbstbestimmung und gleiche Rechte weitgehend auf sich selbst gestellt. Für diese immer wahrscheinlicher werdende Variante hat jedoch keine der beiden Seiten bisher ein realistisches Konzept vorgelegt. Weder die Juden Israels, die dieses Modell nicht wollen, da sie um den ausschließlich jüdischen Charakter dieses Staates fürchten, noch die UNO und die Palästinenser selbst, da sie immer noch an der jahrzehntelangen Praxis auf der Basis der Resolution 181 von 1947 hängen. Die jüdische Bevölkerung steht dieser verzwickten Situation insgesamt ziemlich gleichgültig gegenüber, wie eine Befragung der Jerusalem Post vor kurzem ergeben hat. Danach sind 27% für die Annexion, 23% dagegen und 29% haben keine Meinung. Nur in einer Frage stimmen sie mit großer Mehrheit überein, sie wollen einen jüdischen Staat. Langsam setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass dieser nicht gleichzeitig mit einer Demokratie zu vereinbaren ist. Doch das hat die Einstellung der Masse der jüdischen Bevölkerung bisher wenig verändert, die auf die Exklusivität eines jüdischen Staates baut und internationale Unterstützung dafür erwartet.
Schon jetzt haben Annexion und
Besatzung faktisch das
Ein-Staat-Modell vorweggenommen,
allerdings in der Form eines
Apartheidsystems. Um daraus einen
jüdischen und demokratischen Staat
zu formen, müsste die vollständige
Gleichberechtigung aller jüdischen,
arabischen und übrigen Bewohner
durchgesetzt werden. Ob in einer
föderalen Struktur, wie Omri Boehm
es in seinem neuen Buch „Israel –
eine Utopie“ fordert, oder in einer
anderen staatlichen Organisation,
ist eine nachrangige Frage.
Voraussetzung wäre vor allem, dass
sich die Einsicht durchsetzt, dass
die Sicherheit und Zukunft der
jüdischen Bevölkerung besser
gemeinsam mit der palästinensischen
Bevölkerung als gegen sie garantiert
werden kann. Der Kampf um Demokratie
müsste die alte Gegnerschaft und
Frontstellung überwinden und ein
gemeinsamer Kampf werden. Derzeit
eine Utopie – aber die Vergangenheit
hat gezeigt, dass es anders wohl
keine Zukunft gibt.
Hamburg, d. 3. Juli 2020
Quelle:
https://bibjetzt.wordpress.com/2020/07/05/bip-aktuell-126-annexion-oder-was/