Bankrott doch aggressiv
Das algerische Regime versucht, eine Neuauflage von Massenprotesten repressiv zu verhindern


von Bernard Schmid

07/2020

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Theoretisch schätzt das „neuartige Coronavirus“ (SARS Cov-2) die Wärme nicht. In der Praxis verzeichnet allerdings Algerien derzeit einen erheblichen Wiederanstieg der Fallzahlen insbesondere im Süden und Osten seines Staatsgebiets. Hümm: Wenn es irgendwo auf der Welt ziemlich warm ist, dann in Südalgerien zu Beginn des Sommers auf der Nordhalbkugel. Dies bereitet der Regierung zwar einerseits Kopfzerbrechen, kommt ihr andererseits aber im Hinblick auf den Umgang mit gesellschaftlichen Protesten auch wiederum gelegen.

Am Sonntag, den 28. Juni 20 meldete der Sprecher des „wissenschaftlichen Komitees zur Verfolgung der Coronavirus-Pandemie“, Djamel Fourar, einen Tagesrekord von 305 registrierten neuen Infektionsfällen. // Vgl. bspw. https://www.dzairdaily.com/ // Das ist die höchste Zahl seit dem 25. Februar 2020, dem Tag, an dem der erste Fall einer Infektion mit SARS Cov-2 in Algerien vermeldet wurde; es handelte es sich um einen italienischen Staatsbürger, der am 17. Februar d.J. in das südliche Nachbarland eingereist war.

Die Gesamtbilanz der Covid-19-Toten im Land überschritt am Samstag, den 11. Juli d.J. erstmals die Eintausend-Marke (vgl. https://www.algerie-eco.com/), mit 1.004 Toten und 18.712 registrierten Infektionsfällen in Algerien; die Sterbebilanz liegt in allen Staaten des afrikanischen Kontinents bislang erheblich unterhalb derer in Europa, Nord- und Lateinamerika. (Vgl. http://trend.infopartisan.net/trd0720/t260720.html)

Gesundheitsminister ’Abderrahmane Benbouzid kündigte zuvor Ende Juni d.J. in der Tageszeitung El Watan an, gingen die Dinge so weiter, sei an die erneute Verhängung teilweiser, ja vollständiger Ausgangssperren in mehreren wilayat (arabisch: Verwaltungsbezirken, oder im französierten Plural mitunter auch wilayas) des Landes zu denken. // Vgl. https://www.dzairdaily.com und https://www.dzairdaily.com// Diese sind derzeit aufgehoben, doch bleiben die Moscheen in Algerien seit März dieses Jahres geschlossen, und seit dem 18. Mai 20 besteht eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit. Dieser Beschluss diente damals der Vorbereitung des muslimischen „Zuckerfests“ oder Opferfests (oder ‘Aïd al-Adha), mit dem das Ende des Fastenmonats Ramadhan begangen wird und das nach Entscheidung der örtlichen Religionsbehörden in Algerien am 23., in Frankreich am 24. Mai dieses Jahres begangen wurde.

Bis zum Ende des Ramadhan hielt sich die Gesellschaft weitgehend an die sanitären Auflagen, und während des Fastenmonats hielt sie diesbezüglich generell eine gewisse Disziplin ein. Seit dessen Ende kommt es jedoch zu einer faktischen allgemeinen Lockerung im Umgang mit dem Infektionsrisiko, zur Nicht- oder mangelnden Einhaltung von sanitären Maßnahmen und Vorschriften (in offizieller Diktion: „Undisziplin“: vgl. etwa https://www.afrik.com/). Besonders betroffen seien der Bezirk Sétif im nordöstlichen Algerien sowie der nahe gelegene Bezirk Constantine, Oran im Westen Algeriens sowie Biskra und Ouargla im erweiterten Süden, d.h. im Sahararaum.

Am 09. Juli d.J. beschloss Staatspräsident ‘Abdelmajid Tebboune dann, dass eine einwöchige Ein- und Ausreisesperre für 28 Wilayat (Verwaltungsbezirke) – von insgesamt 58, die das Land zählt ) gilt. // Vgl. https://www.algerie360.com// //

Eine Entscheidung über eine eventuelle Öffnung der Landesgrenzen, die seit dem 17. März 20 geschlossen sind, sollte am Freitag, den 03. Juli d.J. erfolgen, doch wurde bereits im Laufe derselben Woche entschieden, die Grenzschließung vorläufig beizubehalten. Das benachbarte Tunesien (vgl. https://www.tsa-algerie.com/) lässt derzeit, anders als Algerien und Marokko (vgl. https://www.leparisien.fr/), bereits wieder internationale Tourist/inn/en ins Land - wobei es in Algerien ohnehin quasi nur Binnentourismus gibt, doch durch Migration, familiäre Bindungen und Studierende im Ausland sowie Geschäftsleute besteht dennoch ein Bedarf an grenzüberschreitender Mobilität.

Auch im Nachbarland Tunesien wird die sanitäre Situation in Algerien, mit derzeit 500 neuen (offiziell verzeichneten) Infektionsfällen pro Tag, als „besorgniserregend“ bezeichnet. // Vgl. mitsamt dort abgebilderter Statistik: http://kapitalis.com///

Dank Epidemie: Proteste vorläufig annulliert

Im Frühjahr 20 hatte der Coronavirus-Alarm für die Behörden in Algerien den praktischen Nebeneffekt, dass er zu einer vorläufigen Einstellung der Massenproteste führte, die im Februar 2019 begonnen hatten und im April desselben Jahres den seit genau zwanzig Jahren amtierenden Staatspräsidenten ’Abdel’aziz Boutefliqa (Bouteflika) zum Rückzug zwangen. Der von dessen Umgebung unternommene Versuch, den schwerkranken und faktisch amtsunfähigen 83jährigen für eine fünfte Amtszeit im Präsidentenpalast im Stadtteil El-Mouradia kandidieren zu lassen, bildete den sprichwörtlichen Tropfen, der alle Fässer zum Überlaufen brachte. Noch bevor das Regime, dem seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom 12. Dezember 19 der neue – mit 74 Jahren knackjunge – Staatschef ‘Abdelmadjid Tebboune vorsteht, ein Versammlungsverbot verhängt, hatte die Protestbewegung im März 2020 bereits ihrerseits auf Demonstrationen verzichtet und öffentliche Auftritte abgesagt.

Diese sollten offiziell am 19. Juni d.J. wieder losgehen. // Vgl. auch https://algeriepartplus.com/ oder https://www.courrierinternational// Zuvor kam es bereits während des Ramadhan (vom 24. April bis 23. Mai 2020) zu sporadischen, vor allem nächtlichen, nach dem Fastenbrechen einsetzenden Demonstrationen, besonders in der Berberregion Kabylei. Zu einem offiziellen landesweiten Neubeginn rief nun der Hirak, wie der Massenprotest allgemein bezeichnet wird – eine Dialektform vom schriftarabischen Ausdruck al-harakat, „die Bewegung“ – über die neuen sozialen Medien und mehrere Privatzeitungen des Landes auf. In Algerien existiert eine echte Pressevielfalt; und auch wenn die meisten Verlagshäuser im Besitz von nicht unbedingt vertrauenswürdigen Mitgliedern der oligarchischen Oberschicht liegen, sorgen doch die Konflikte etwa zwischen Privatbourgeoisie und staatsbürokratisch-militärischer Führungsschicht dafür, dass regierungskritische Stimmen ausführlich zu Wort kommen.

Der Versuch, auf die Straße zu gehen, fand auch dieses Mal erneut vor allem in der Kabylei statt, endete jedoch laut Angaben der Algerischen Liga zur Verteidigung der Menschenrechte (LADDH) für über 500 Menschen mit ihrer Festnahme. Auch dies bildet einen traurigen Rekord im Vergleich zu den zurückliegenden Monaten. In der berberischen/kabylischen Bezirkshauptstadt Tizi-Ouzou wurden etwa am darauffolgenden Dienstag, den 23. Juni d.H., vierzehn Protestteilnehmer am Stück zu sechs- bis zwölfmonatigen Haftstrafen abgeurteilt. // Vgl. https://www.lepoint.fr und https://www.lorientlejour.com/l //

Seitdem haben zunächst keinen neuen Demonstrationen stattgefunden, jedenfalls nicht auf dem Staatsgebiet Algeriens, wozu es unter den Angehörigen der Protestbewegung auch kontroverse Debatten gibt // vgl. https://www.lepoint.fr/ //; in Paris demonstrierten unterdessen Tausende im französischen Ausland lebende algerische Staatsangehörige am 05. Juli d.J., zum Jahrestag der Unabhängigkeit vom französischen Kolonialismus (1962), vgl. https://www.afrik.com

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty international reichte am 25. Juni 20 deswegen eine zehnseitige Protestnote bei den algerischen Behörden ein. //Vgl. dazu auch: https://www.lemonde.fr/// Die meisten der Betreffenden kamen inzwischen wieder frei, teilweise unter Androhung späterer Strafverfolgung, doch ein Dutzend von ihnen blieben in Untersuchungshaft.

Zu Anfang Juni dieses Jahres hatte das „Landesweite Komitee für die Freilassung der Gefangenen“ (CNLD), eine im Zusammenhang mit dem Hirak entstandene Anti-Repressions-Struktur, von sechzig hinter Gittern sitzenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Proteste gesprochen. Die Mehrzahl von ihnen sitzen wegen bei Veröffentlichungen bei Facebook ein. In jüngster Zeit wurde diese Zahl auf siebzig hochkorrigiert.

Aus dem Knast hinaus…

Am 02. Juni 20 wurde die Begnadigung von zwei Protagonisten des Hirak und langjährigen Oppositionellen, Karim Tabbou und Samir Benlarbi, angekündigt. (Am 02. Juli d.J., genau einen Monat später, kamen sie aus der Haft frei.) Diese präsidiale Gnade war zwischen Staatsoberhaupt Tebboune und dem Vorsitzenden der sich etwas opportunistisch an die Proteste anschmiegenden Oppositionspartei Jil Jalid („Neue Generation“), Soufiane Djilali, ausgehandelt worden. Es sollte als beruhigende Geste seitens der Staatsmacht wirken. Kurz zuvor hatte Tebboune im Mai dieses Jahres einen Entwurf für eine neue Verfassung bekannt gegeben, nachdem das Regime unter dem Eindruck der Massenproteste eine Abschaffung der alten konzediert hatte, und an Oppositionsparteien sowie Gewerkschaften und „zivilgesellschaftliche Vereinigungen“ (welche in einem Protestbündnis zusammengeschlossen sind) übermittelt.

Auch Amnesty international nimmt dazu in dem Schreiben vom 25. Juni d.J. Stellung und konstatiert zwar einige punktuelle Fortschritte gegenüber der vorherigen Verfassung, etwa in punkto Frauenrechte, jedoch „das Fehlen jeglichen verbindlichen Reformkalenders“ und eklatante Mängel besonders bei den Themen Versammlungs- und Äußerungsfreiheit. Erst am 22. April dieses Jahres war im Windschatten der Corona-Krise und kurz vor Beginn des Ramadhan ein neuer, mit drei Jahren Haft bedrohter Straftatbestand der „Verbreitung falscher Nachrichten“ eingeführt worden.

Und hinein

Nach der scheinbaren Lockerung, politische Gefangene betreffend, vom Anfang des Monats verbreitete sich jedoch am 13. Juni 20 die Nachricht von der Inhaftierung dreier neuer Hirak-Mitglieder in der Berbermetropole Béjaïa. Es handelt sich um Merzoug Touati, Yanis Adjila und Amar Beri (man sieht bisweilen auch die Schreibweise „Berri“). Sie sollten unter anderem wegen Aufrufs zu unerlaubten Versammlungen und Aufstachelung in Form „gegen die nationale Einheit gerichteter Schriften“ – dieser Vorwurf trifft regelmäßig Veröffentlichungen zur Berberfrage – in einem Eilverfahren bereits am selben Tag verurteilt werden. Ihr Prozess wurde dann jedoch auf Mittwoch, den 1. Juli d.J. verschoben. // Vgl. u.a. https://atlasinfo.fr

Am 1. Juli 20 wurde ihr Prozess tatsächlich wiederaufgenommen; es kam dabei auch zu einer Solidaritätskundgebung für die drei Angeklagten. // Vgl. https://www.facebook.com/ // Die Staatsanwaltschaft beantragte je drei Haft ohne Bewährung sowie 200.000 Dinar Geldstrafe gegen alle drei. // Vgl. https://www.lorientlejour.com/ //  

Doch am 08. Juli folgte, relativ überraschend, ihr Freispruch für mehrere Anklagepunkte wie „Zusammenrottung“ // vgl. https://www.lorientlejour.com///; jedoch erhielten sie eine Geldstrafe in Höhe von 100.000 alg. Dinar (umgerechnet knapp 690 Euro zum offiziellen Kurs) wegen „Präsidentenbeleidigung“ aufgebrummt. /.. https://www.elwatan.com/ //. Daraufhin kamen alle drei wieder auf freien Fuß. // Vgl. bspw. https://www.algeriepatriotique.com/

Verurteilt wurde am vorletzten Sonntag, den 21. Juni 20 – in Algerien fällt das Wochenende auf Freitag und Samstag – die prominente langjährige Oppositionelle und Gynäkologin Amira Bouraoui. Die 44jährige muss eine einjährige Haftstrafe antreten, nachdem sie in einem Eilverfahren in sechs Anklagepunkten für schuldig befunden wurde, darunter Präsidentenbeleidigung, Verunglimpfung der Staatsreligion des Islam, „Angriff auf die nationale Einheit“ und der neue Straftatbestand der „Verbreitung falscher Nachrichten“. (Am 02. Juli 20 kam Amira Bouraoui vorläufig aus der Haft frei, vgl. dazu: https://www.dzairdaily.com/ und https://information.tv5monde.com/ )

Dieses Urteil, gegen das die Mutter zweier Kinder über ihren Anwalt Mustapha Bouchachi Berufung einlegte, bildet eine ernsthafte Warnung an alle Opponentinnen und Opponenten.

Am Abend des 02. Juli 20 wurde bekannt, dass vier prominenten politische Häftlinge – unter ihnen die drei oben im Text erwähnten Persönlichkeiten Karim Tabbou, Samir Benlarbi und Amira Bouraoui – aus der Haft frei kamen (vgl. dazu auch eine gestrige AFP-Meldung: https://www.lefigaro.fr/ ). In Haft verblieb etwa der die Massenproteste unterstützende Journalist Khaled Drareni. Insgesamt wurden vor dem Jahrestag der Unabhängigkeit von Frankreich am 05. Juli d.J. sechs Häftlinge aus dem Hirak begnadigt, jedoch nicht amnestiert (vgl. http://kapitalis.com/); ein solcher präsidialer Gnadenerlass bedeutet, dass die Strafe nicht abgesessen werden muss, jedoch – im Unterschied zu einer Amnestie – nicht aus dem Strafregister der jeweiligen Person getilgt wird.

Angespannte ökonomische Situation

Unterdessen droht sich die wirtschaftliche Situation des extrem von Rohöl- und Erdgasreserven abhängigen Staates drastisch verschlechtern, sank doch der Ölpreis – unter anderem auch im Zusammenhang mit der weltweiten Pandemie – in jüngerer Zeit erheblich. 2014 verfügte die öffentliche Hand in Algerien über 200 Milliarden Dollar Devisenreserven //vgl. https://afrique.le360.ma/ //, im März dieses Jahres noch über 55 Milliarden. Derzeit droht jedoch ihr vollständiger Schwund, im Staatshaushalt musste der zugrunde gelegte Barrel-Preis von 45 auf 27 Euro korrigiert werden // vgl. https://www.lefigaro.fr/ //, und für das laufende Jahr wird eine Rezession mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um - 5,2 % vorausgesagt.

Am vorigen Dienstag, den 23. Juni 20 bildete Tebboune seine Regierung um // vgl. https://www.observalgerie.com/ // , vorrangig, um den Energie- und den Finanzminister auszutauschen. Neuer Energieminister wird ‘Abdelmajid Attar, er führte von 1997 bis 2000 den staatlichen Ölkonzern Sonatrach. Das Finanzressort geht an den früheren Gouverneur der algerischen Zentralbank, Aymen Ben ’Abderrahmane. Diese Personalentscheidung allein dürfte jedoch kaum Abhilfe verschaffen, und der wirtschaftliche Schlamassel droht zum Staatsbankrott zu führen, mindestens jedoch den Massenprotest im Land erneut zu beflügeln.
 

Editorische Hinweise

Aktualisierter Artikel über die jüngsten Vorgänge in Algerien, dessen gekürzte Fassung am Donnerstag, den 02. Juli 2020 in der Berliner Wochenzeitung Jungle World erschienen ist. In der vorliegenden Fassung wurde er erheblich aktualisiert und befindet sich auf dem Stand vom 12. Juli 20.