Am Freitag, den 19. Juni
d.J. protestieren zum wiederholten Male
innerhalb von drei Wochen Zehntausende in
der Hauptstadt des westafrikanischen Mali.
Es geht ihnen um Veränderungen auf sozialem
Gebiet – auch wenn die näheren Vorstellungen
dazu oft vage formuliert sein mögen -, aber
auch um einen Rücktritt des amtierenden
Staatspräsidenten „IBK“ (Ibrahim Boubacar
Keïta). Beobachter/innen beginnen bereits
von der Notwendigkeit einer „politischen
Transition (Übergangsperiode)“ zu sprechen.
Vgl. dazu in der
internationalen Presse bspw.:
Vor Ort wollte mindestens
ein Teil der protestierenden Menge an diesem
19. Juni d.J. unmittelbar vor den
Präsidentenpalast ziehen und dem Staatschef
quasi seine Entlassungsurkunde persönlich
überreichen. Es war der immer
einflussreicher werdende Prediger Mahmoud
Dicko, um welchen es in diesem Artikel noch
ausführlicher gehen wird, der dies
verhindert, mit dem Argument, keinen Anlass
zur Repression zu bieten.
Doch was sind die
Hintergründe des Geschehens?
Es ist eine heterogene
Koalition, die derzeit im westafrikanischen
Mali die Bevölkerung zu
Protestdemonstrationen auf die Straße
mobilisiert. Mehrere Zehntausend Menschen,
unter ihnen Hauptstadtbewohner, aber auch
aus anderen Landesteilen extra Angereiste,
demonstrierten bereits am Freitag, den 05.
Juni dieses Jahres nach dem Freitagsgebet
auf dem „Platz der Unabhängigkeit“ im
Zentrum der Hauptstadt Bamako, auf der
nördlichen Flussseite des Niger. Sie alle
einten politische, aber für die meisten
Beteiligten auch soziale Anliegen wie die
dramatische Unterfinanzierung von Schulen
und Krankenhäusern, die häufigen
Unterbrechungen der Stromversorgung,
fehlende Arbeitsmöglichkeiten für die auf
den Arbeitsmarkt drängende Jugend. Die
grassierende, zum Regierungssystem gewordene
Korruption anzuprangern, gehörte zum
Allgemeinkonsens.
Die zwei Hauptredner
zählten zu ziemlich unterschiedlichen
Lagern. Einer von beiden, der bereits
erwähnte Mahmoud Dicko – da er aus der
teilweise arabischsprachigen Region um
Tombouctou (eingedeutscht Timbuktu) stammt,
trägt er den Vornamen in seiner arabischen
Variante, im Süden des Landes wird er jedoch
meistens in der lokalen Version „Mamadou
Dicko“ genannt – war bis 2017 einer der
engsten Verbündeten von Präsident Ibrahim
Boubacar Keïta. Letzterer, im August 2013
erstmals gewählt und 2018 im Amt bestätigt,
wird allgemein nur mit dem bereits oben
zitierten Kürzel „IBK“ bezeichnet.
Bei seiner ersten Wahl
verhalf Dicko ihm zu viel Zulauf von
Stimmberechtigten aus dem religiösen oder
sozial konservativen Lager. Damals stand er,
seit 2008, dem „Hohen Islam-Rat“ (HCI) vor,
einer Vertretung des in die staatlichen
Institutionen eingebundenen Klerus, der ein
Wörtchen in der Politik mitreden kann –
allerdings nicht direkt in die
Regierungsgeschäfte hineinreden, denn Mali
ist eine laizistische Republik nach
französischem Vorbild, auch die christliche
Minderheit kommt etwa in den
öffentlich-rechtlichen Medien
gleichberechtigt vor. Und zwar ist die
übergroße Mehrheit gläubig, sei es im Sinne
der muslimischen oder christlichen Religion
oder auch animistischer
Glaubensvorstellungen; Atheisten geben sich
jedenfalls nicht öffentlich zu erkennen, und
insgesamt neunzig Prozent bekennen sich zum
Islam in einer seiner Varianten. Doch von
Religionsfunktionären oder organisierten
Klerikern lassen sich sehr viele Malier nur
ungern Vorschriften machen, vielmehr
betrachten sie oft ihre Beziehung zu Gott
als eine individuelle oder familiäre,
blicken dem Bodenpersonal jedoch mit
Misstrauen entgegen.
Der 55jährige Mahmoud
Dicko selbst vertritt eine erkennbar
politisierte Vorstellung von Religion, ohne
jedoch unter Rückgriff auf Gewalt einen
Gottesstaat im Land errichten zu wollen. Er
wird in der Regel zur so genannten
quietistischen Richtung des Salafismus
gezählt, also jener Strömung, die anders als
die djihadistischen Salafisten nicht
anstrebt, „gottlose“ Regierungen umstürzen
und andere an ihre Stelle zu setzen, sondern
eher durch Predigten, das Vorbild guter
Taten, Sozialarbeit sowie Agitation und
Propaganda die Gesellschaft zu beeinflussen
sucht. Im April 2019 trat er von seinem Amt
beim HDI zurück. Im darauffolgenden
September gründete er eine neue
Organisation, die CMAS (Koordination der
Bewegungen, Vereinigungen und
Sympathisanten), mit denen er gegen die
Regierung opponiert.
Der andere Hauptredner
aus demselben Anlass, Clément Dembélé, ist
ein 46jähriger Hochschullehrer. 2010 legte
er in Frankreich eine Doktorarbeit in
vergleichender Literaturwissenschaft vor.
Bekannt wurde er vor allem als
„Anti-Korruptions-Aktivist“. Er appelliert,
auf nicht-religiöser Basis, an die
Zivilgesellschaft und ihren steigenden
Unmut. Aufgrund seiner lauten Kritik wurde
er am 09. Mai auf außergesetzliche Weise
durch die Generaldirektion für
Staatssicherheit (DGSE) – einen
Inlandsnachrichtendienst – festgenommen,
vierzehn Tage lang verhört und am 23. Mai
wieder freigelassen. Dieses „Kidnapping“,
wie viele sagen, löste seinerseits Protest
aus.
Hinter beiden und den
zahllosen anderen Protestierenden steht eine
breite Koalition von Oppositionskräften,
unter ihnen unterschiedliche
parlamentarische Parteien, NGOs und
religiöse Zirkel, die sich unter dem Namen
„Sammlung der patriotischen Kräfte“
zusammengeschlossen hat. Ihr gehören unter
anderem die CMAS, aber auch das
oppositionelle Parteienbündnis „Front für
die Rettung der Demokratie“ (FSD) oder die
bürgereinitiativenähnliche Vereinigung
Espoir Mali Koura an.
An jenem 05. Juni setzte
das breite Bündnis dem amtierenden
Präsidenten eine Frist bis am selben Freitag
um 18 Uhr, um zu reagieren; in ihren
Äußerungen war überwiegend von „Rücktritt“
die Rede, auch wenn Mahmoud Dicko sich
selbst in einem Sinne äußerte („das
Ruder herumdrehen“), der auch eine
Kursberichtigung durch das Staatsoberhaupt
offenzulassen scheint. Seitdem laufen
zahlreiche informelle Gespräche. Solche
hatte es auch im Vorfeld gegeben: Die
„Gründerfamilien von Bamako“, also die
Oberhäupter alteingesessener Familien der
Hauptstadt, hatten an die Oppositionskräfte
appelliert, ihre Versammlung abzublasen. Im
Gegenzug wurde ihnen angeboten, einen
parlamentarischen Misstrauensantrag gegen
die Regierung zur Abstimmung zu stellen,
worauf diese sich jedoch nicht einlassen
mochten und was auch folgenlos geblieben
wäre.
Präsident „IBK“
seinerseits empfängt gesellschaftliche
Akteure an seinem Amtssitz auf dem Hügel von
Koulouba oder in seiner Residenz im
Stadtteil Sébénikoro, wohin ein Teil der
Demonstration am Freitag, den 05.06.20 im
Anschluss an ihre offizielle Auflösung zog,
und spricht vom Dialog. Internationale
Akteure drängen ihnen ebenfalls in diese
Richtung. Dabei setzen sie anscheinend auch
darauf, vor allem Mahmoud Dicko in
Verhandlungen einzubinden. Ihn trafen
Vertreter der Afrikanischen Union, der
Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft
(französisch CEDEAO, englisch ECOWAS) sowie
der UN-Truppe für Mali, MINUSMA, an eben
jenem Freitag.
Ein wichtiger Auslöser
für das Lautwerden von Unmut bildeten die
Parlamentswahlen, die die Staatsführung
unter „IBK“ am 29. März d.J. mitten in der
Coronavirus-Krise abhalten ließ – während
zugleich Maßnahmen ergriffen wurden, die
weitgehend eine Kopie der bei der
Ex-Kolonialmacht Frankreich verfügten
Ausgangsbeschränkungen darstellten und auch
nahezu zeitgleich mit dem franZösischen
Lock-down gelockert wurden. Entsprechend
gering fiel der Enthusiasmus in der
Bevölkerung aus, wo vielfach spöttisch von
der Wahl von „Corona-Abgeordneten“
gesprochen wurde. Die reale Wahlbeteiligung
dürfte die Zwanzig-Prozent-Marke sicherlich
nicht überschritten haben.
Hinzu kam noch, dass der
parlamentarische Oppositionsführer – der
2013 und 2018 gegen „IBK“ gescheiterte
Präsidentschaftskandidat Soumaïla am 25.
März, also vier Tage vor dem Wahltermin,
mutmaßlich durch Jihadisten entführt wurde.
Die Regierung entschied sich unbeirrt dazu,
die Wahlen einfach trotzdem abhalten zu
lassen, obwohl der Chef der URD (Union für
die Republik und die Demokratie)
verschwunden blieb. Bislang tauchte er auch
nicht wieder nicht auf, doch die Entführer
meldeten sich zu Wort, um anzukündigen,
Cissé werde gut behandelt; man werde ihn
nicht freilassen, bevor sein Bart nicht in
salafistischen Vorstellungen entsprechender,
genügender Länge gewachsen sei. Seit Anfang
Juni setzen sich verstärkt auch
Parlamentarier afrikanischer Länder für
seine Freilassung ein.
Cissé, der früher unter
anderem in Frankreich bei Großunternehmen
arbeitete – IBM und Pechiney und der
Fluglinie Air Inter – und von 2004 bis 2011
Kommissionschef der ECOWAS war, steht
sicherlich wohl kaum für eine soziale
Alternative zur jetzigen Regierungspolitik,
wobei ein Großteil der Bevölkerung
innenpolitische Fronten aber ohnehin nicht
durch das Raster einer etwaigen
Klassenpolarisierung wahrnimmt. Doch
immerhin ist er der Chef der stärksten
parlamentarischen Oppositionspartei, und
Wahlen einfach ohne ihn abzuhalten, wirkt,
gelinde ausgedrückt, seltsam.
Wochenlang trafen
daraufhin keine offiziellen Wahlergebnisse
ein. Doch als diese am 19. April d.J. dann
verkündet wurden, wies die Präsidentenpartei
RPM (Sammlung des malischen Volkes)
plötzlich eine zweistellige Zahl von Sitzen
zusätzlich zu den in ersten Prognosen des
Innenministeriums angekündigten auf.
Daraufhin kam es zu ersten Protesten, und ab
dem 06. Mai 2020 in einer Reihe von Städten
zur Explosion: von Kayes im Nordwesten bis
zu Sikasso im Südosten des Landes. Dort, in
Sikasso, spielte auch die Linkspartei SADI
(Afrikanische Solidarität für Entwicklung
und Unabhängigkeit) eine Rolle bei den
Demonstrationen.
In Kayes wurde dabei am
11. Mai dieses Jahres ein junger Mann durch
die Polizei getötet, was den Zorn erst recht
anschwellen ließ. In der Hauptstadt Bamako
brannte es kurz darauf unter anderem in den
Stadtteilen Banconi, Lafiabougou,
Magnambougou, Ouzimbougou und Sébénikoro,
wobei der Unmut über die Wahlresultate nur
einen Katalysator für die allgemeine
Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen
darstellte.
Diese Proteste dürfen
weitergehen, wobei die so genannte
internationale Gemeinschaft manifest darauf
zu setzen scheint, die Einbindung von
jemandem wie Mahmoud Dicko könne die Lage
stabilisieren. Sollte er jedoch an die Macht
kommen, dürfte er auf stärkere Distanz zur
(politisch im Land ziemlich präsenten)
früheren Kolonialmacht gehen, sich auf die
Golfstaaten und eventuell auch direkt oder
indirekt auf Wladimir Putin und Russland
stützen.
Editorischer Hinweis
Wir erhielten den Beitrag
vom Autor für diese Ausgabe.
|