Mali
Massenprotest und Aufschwung (zivil-)islamistischer Kräfte

von Bernard Schmid

07/2020

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Am Freitag, den 19. Juni d.J. protestieren zum wiederholten Male innerhalb von drei Wochen Zehntausende in der Hauptstadt des westafrikanischen Mali. Es geht ihnen um Veränderungen auf sozialem Gebiet – auch wenn die näheren Vorstellungen dazu oft vage formuliert sein mögen -, aber auch um einen Rücktritt des amtierenden Staatspräsidenten „IBK“ (Ibrahim Boubacar Keïta). Beobachter/innen beginnen bereits von der Notwendigkeit einer „politischen Transition (Übergangsperiode)“ zu sprechen.

Vgl. dazu in der internationalen Presse bspw.:

Vor Ort wollte mindestens ein Teil der protestierenden Menge an diesem 19. Juni d.J. unmittelbar vor den Präsidentenpalast ziehen und dem Staatschef quasi seine Entlassungsurkunde persönlich überreichen. Es war der immer einflussreicher werdende Prediger Mahmoud Dicko, um welchen es in diesem Artikel noch ausführlicher gehen wird, der dies verhindert, mit dem Argument, keinen Anlass zur Repression zu bieten.

Doch was sind die Hintergründe des Geschehens?

Es ist eine heterogene Koalition, die derzeit im westafrikanischen Mali die Bevölkerung zu Protestdemonstrationen auf die Straße mobilisiert. Mehrere Zehntausend Menschen, unter ihnen Hauptstadtbewohner, aber auch aus anderen Landesteilen extra Angereiste, demonstrierten bereits am Freitag, den 05. Juni dieses Jahres nach dem Freitagsgebet auf dem „Platz der Unabhängigkeit“ im Zentrum der Hauptstadt Bamako, auf der nördlichen Flussseite des Niger. Sie alle einten politische, aber für die meisten Beteiligten auch soziale Anliegen wie die dramatische Unterfinanzierung von Schulen und Krankenhäusern, die häufigen Unterbrechungen der Stromversorgung, fehlende Arbeitsmöglichkeiten für die auf den Arbeitsmarkt drängende Jugend. Die grassierende, zum Regierungssystem gewordene Korruption anzuprangern, gehörte zum Allgemeinkonsens.

Die zwei Hauptredner zählten zu ziemlich unterschiedlichen Lagern. Einer von beiden, der bereits erwähnte Mahmoud Dicko – da er aus der teilweise arabischsprachigen Region um Tombouctou (eingedeutscht Timbuktu) stammt, trägt er den Vornamen in seiner arabischen Variante, im Süden des Landes wird er jedoch meistens in der lokalen Version „Mamadou Dicko“ genannt – war bis 2017 einer der engsten Verbündeten von Präsident Ibrahim Boubacar Keïta. Letzterer, im August 2013 erstmals gewählt und 2018 im Amt bestätigt, wird allgemein nur mit dem bereits oben zitierten Kürzel „IBK“ bezeichnet.

Bei seiner ersten Wahl verhalf Dicko ihm zu viel Zulauf von Stimmberechtigten aus dem religiösen oder sozial konservativen Lager. Damals stand er, seit 2008, dem „Hohen Islam-Rat“ (HCI) vor, einer Vertretung des in die staatlichen Institutionen eingebundenen Klerus, der ein Wörtchen in der Politik mitreden kann – allerdings nicht direkt in die Regierungsgeschäfte hineinreden, denn Mali ist eine laizistische Republik nach französischem Vorbild, auch die christliche Minderheit kommt etwa in den öffentlich-rechtlichen Medien gleichberechtigt vor. Und zwar ist die übergroße Mehrheit gläubig, sei es im Sinne der muslimischen oder christlichen Religion oder auch animistischer Glaubensvorstellungen; Atheisten geben sich jedenfalls nicht öffentlich zu erkennen, und insgesamt neunzig Prozent bekennen sich zum Islam in einer seiner Varianten. Doch von Religionsfunktionären oder organisierten Klerikern lassen sich sehr viele Malier nur ungern Vorschriften machen, vielmehr betrachten sie oft ihre Beziehung zu Gott als eine individuelle oder familiäre, blicken dem Bodenpersonal jedoch mit Misstrauen entgegen.

Der 55jährige Mahmoud Dicko selbst vertritt eine erkennbar politisierte Vorstellung von Religion, ohne jedoch unter Rückgriff auf Gewalt einen Gottesstaat im Land errichten zu wollen. Er wird in der Regel zur so genannten quietistischen Richtung des Salafismus gezählt, also jener Strömung, die anders als die djihadistischen Salafisten nicht anstrebt, „gottlose“ Regierungen umstürzen und andere an ihre Stelle zu setzen, sondern eher durch Predigten, das Vorbild guter Taten, Sozialarbeit sowie Agitation und Propaganda die Gesellschaft zu beeinflussen sucht. Im April 2019 trat er von seinem Amt beim HDI zurück. Im darauffolgenden September gründete er eine neue Organisation, die CMAS (Koordination der Bewegungen, Vereinigungen und Sympathisanten), mit denen er gegen die Regierung opponiert.

Der andere Hauptredner aus demselben Anlass, Clément Dembélé, ist ein 46jähriger Hochschullehrer. 2010 legte er in Frankreich eine Doktorarbeit in vergleichender Literaturwissenschaft vor. Bekannt wurde er vor allem als „Anti-Korruptions-Aktivist“. Er appelliert, auf nicht-religiöser Basis, an die Zivilgesellschaft und ihren steigenden Unmut. Aufgrund seiner lauten Kritik wurde er am 09. Mai auf außergesetzliche Weise durch die Generaldirektion für Staatssicherheit (DGSE) – einen Inlandsnachrichtendienst – festgenommen, vierzehn Tage lang verhört und am 23. Mai wieder freigelassen. Dieses „Kidnapping“, wie viele sagen, löste seinerseits Protest aus.

Hinter beiden und den zahllosen anderen Protestierenden steht eine breite Koalition von Oppositionskräften, unter ihnen unterschiedliche parlamentarische Parteien, NGOs und religiöse Zirkel, die sich unter dem Namen „Sammlung der patriotischen Kräfte“ zusammengeschlossen hat. Ihr gehören unter anderem die CMAS, aber auch das oppositionelle Parteienbündnis „Front für die Rettung der Demokratie“ (FSD) oder die bürgereinitiativenähnliche Vereinigung Espoir Mali Koura an.

An jenem 05. Juni setzte das breite Bündnis dem amtierenden Präsidenten eine Frist bis am selben Freitag um 18 Uhr, um zu reagieren; in ihren Äußerungen war überwiegend von „Rücktritt“ die Rede, auch wenn Mahmoud Dicko sich selbst in einem Sinne äußerte („das Ruder herumdrehen“), der auch eine Kursberichtigung durch das Staatsoberhaupt offenzulassen scheint. Seitdem laufen zahlreiche informelle Gespräche. Solche hatte es auch im Vorfeld gegeben: Die „Gründerfamilien von Bamako“, also die Oberhäupter alteingesessener Familien der Hauptstadt, hatten an die Oppositionskräfte appelliert, ihre Versammlung abzublasen. Im Gegenzug wurde ihnen angeboten, einen parlamentarischen Misstrauensantrag gegen die Regierung zur Abstimmung zu stellen, worauf diese sich jedoch nicht einlassen mochten und was auch folgenlos geblieben wäre.

Präsident „IBK“ seinerseits empfängt gesellschaftliche Akteure an seinem Amtssitz auf dem Hügel von Koulouba oder in seiner Residenz im Stadtteil Sébénikoro, wohin ein Teil der Demonstration am Freitag, den 05.06.20 im Anschluss an ihre offizielle Auflösung zog, und spricht vom Dialog. Internationale Akteure drängen ihnen ebenfalls in diese Richtung. Dabei setzen sie anscheinend auch darauf, vor allem Mahmoud Dicko in Verhandlungen einzubinden. Ihn trafen Vertreter der Afrikanischen Union, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (französisch CEDEAO, englisch ECOWAS) sowie der UN-Truppe für Mali, MINUSMA, an eben jenem Freitag.

Ein wichtiger Auslöser für das Lautwerden von Unmut bildeten die Parlamentswahlen, die die Staatsführung unter „IBK“ am 29. März d.J. mitten in der Coronavirus-Krise abhalten ließ – während zugleich Maßnahmen ergriffen wurden, die weitgehend eine Kopie der bei der Ex-Kolonialmacht Frankreich verfügten Ausgangsbeschränkungen darstellten und auch nahezu zeitgleich mit dem franZösischen Lock-down gelockert wurden. Entsprechend gering fiel der Enthusiasmus in der Bevölkerung aus, wo vielfach spöttisch von der Wahl von „Corona-Abgeordneten“ gesprochen wurde. Die reale Wahlbeteiligung dürfte die Zwanzig-Prozent-Marke sicherlich nicht überschritten haben.

Hinzu kam noch, dass der parlamentarische Oppositionsführer – der 2013 und 2018 gegen „IBK“ gescheiterte Präsidentschaftskandidat Soumaïla am 25. März, also vier Tage vor dem Wahltermin, mutmaßlich durch Jihadisten entführt wurde. Die Regierung entschied sich unbeirrt dazu, die Wahlen einfach trotzdem abhalten zu lassen, obwohl der Chef der URD (Union für die Republik und die Demokratie) verschwunden blieb. Bislang tauchte er auch nicht wieder nicht auf, doch die Entführer meldeten sich zu Wort, um anzukündigen, Cissé werde gut behandelt; man werde ihn nicht freilassen, bevor sein Bart nicht in salafistischen Vorstellungen entsprechender, genügender Länge gewachsen sei. Seit Anfang Juni setzen sich verstärkt auch Parlamentarier afrikanischer Länder für seine Freilassung ein.

Cissé, der früher unter anderem in Frankreich bei Großunternehmen arbeitete – IBM und Pechiney und der Fluglinie Air Inter – und von 2004 bis 2011 Kommissionschef der ECOWAS war, steht sicherlich wohl kaum für eine soziale Alternative zur jetzigen Regierungspolitik, wobei ein Großteil der Bevölkerung innenpolitische Fronten aber ohnehin nicht durch das Raster einer etwaigen Klassenpolarisierung wahrnimmt. Doch immerhin ist er der Chef der stärksten parlamentarischen Oppositionspartei, und Wahlen einfach ohne ihn abzuhalten, wirkt, gelinde ausgedrückt, seltsam.

Wochenlang trafen daraufhin keine offiziellen Wahlergebnisse ein. Doch als diese am 19. April d.J. dann verkündet wurden, wies die Präsidentenpartei RPM (Sammlung des malischen Volkes) plötzlich eine zweistellige Zahl von Sitzen zusätzlich zu den in ersten Prognosen des Innenministeriums angekündigten auf. Daraufhin kam es zu ersten Protesten, und ab dem 06. Mai 2020 in einer Reihe von Städten zur Explosion: von Kayes im Nordwesten bis zu Sikasso im Südosten des Landes. Dort, in Sikasso, spielte auch die Linkspartei SADI (Afrikanische Solidarität für Entwicklung und Unabhängigkeit) eine Rolle bei den Demonstrationen.

In Kayes wurde dabei am 11. Mai dieses Jahres ein junger Mann durch die Polizei getötet, was den Zorn erst recht anschwellen ließ. In der Hauptstadt Bamako brannte es kurz darauf unter anderem in den Stadtteilen Banconi, Lafiabougou, Magnambougou, Ouzimbougou und Sébénikoro, wobei der Unmut über die Wahlresultate nur einen Katalysator für die allgemeine Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen darstellte.

Diese Proteste dürfen weitergehen, wobei die so genannte internationale Gemeinschaft manifest darauf zu setzen scheint, die Einbindung von jemandem wie Mahmoud Dicko könne die Lage stabilisieren. Sollte er jedoch an die Macht kommen, dürfte er auf stärkere Distanz zur (politisch im Land ziemlich präsenten) früheren Kolonialmacht gehen, sich auf die Golfstaaten und eventuell auch direkt oder indirekt auf Wladimir Putin und Russland stützen.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe.