Protestieren gegen die Schließung des Lukács-Archivs!

Uli Weiss ruft auf zur Unterschrift einer Petition gegen die Schließung

07/2018

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Vorbemerkung: Uli Weiss schickte uns seine persönliche Begründung für eine Unterschrift unter die Petition gegen die Schließung des Lukács-Archivs in Ungarn. Seine Argumente haben mich überzeugt. Ich habe sofort unterschrieben und ihn gebeten seine Begründung im vollen Wortlaut veröffentlich zu dürfen. Er gab dafür seine Einwilligung. [Karl-Heinz Schubert |  Berlin, den 29.6.2018]

Hallo lieber Freund, liebe Freundin!

Gerade habe ich eine Petition gegen die Schließung des Lukács-Archivs in Budapest unterzeichnet. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit schicke ich das mal rum in der Hoffnung, dass viele Bekannte das ebenfalls tun. Dazu ein paar Bemerkungen.

Lukács habe ich erst in den letzten 10 Jahren gelesen. Sein Riesenwälzer, die Ontologie (1963-71), hat mich schnell an meine Grenzen geführt. Diesen Text begann er am Ende seines Lebens in der Überzeugung, die Kommunisten (sich eingeschlossen) müssten auch geistig ganz von vorn beginnen, sich neu versichern, was sie eigentlich tun. Um diesen ungeheuren philosophischen Rundumschlag überhaupt zu verstehen, muss ich wohl noch ein wenig reifen.

Durch Geschichte und Klassenbewusstsein (eine Aufsatzsammlung aus den 1920ern) bin ich dagegen mit großer Spannung gejagt. Ich hänge Texte daraus mal an. Er versucht u.a. das Missions-Bewusstsein der Arbeiterklasse auch jenseits der Leninschen Hineintragerei durch Partei (die sei manchmal eher ein Hindernis dafür) und linke Intellektuelle theoretisch in der Situation der Ware Arbeitskraft zu verankern. Er entwickelt hierzu Gedanken über Entfremdung, Verdinglichung, Warenfetischismus usw., solche die sich in jenen marxschen Frühschriften finden, die Lukács noch gar nicht kennen konnte. Er nahm später manche dieser frühen Aussagen zurück, band aber sein Leben – als einer der ersten westlichen Marxisten hier verdächtigt, dort begrüßt – letztlich doch immer wieder an die Partei.

Wer so wie ich zumindest die „sozialistische“ Nach-Lukács-Zeit als getreuer Klassenkämpfer gelebt hat und, nachdem etwa die DDR-Arbeiterklasse sich als gesamtdeutsch definierte und flugs neue Herren suchte, doch noch immer Wege aus dem Kapitalismus sucht, für den sind diese Lukács-Aufsätze ein Krimi. Nicht dass darin ewige Wahrheit der Geschichte aufgedeckt würden, Lukács ist vielmehr ein herausfordernder Gesprächspartner – gerade für jemand, der wie ich heute meint (andere mögen früher klüger gewesen sein) der Kampf der Klassen hatte einen tiefen innerkapitalistischen Sinn. Der Sieg der einen über die andere Klasse kann aber nicht jener sein kann, der den Übergang eröffnet zum berühmten Reich der Freiheit. Die sogenannte Diktatur des Proletariats kann nie über die kapitalistische Warenproduktion hinausführen. Sie kann bestens- oder schlechtenfalls einen Staatskapitalismus konstituieren, in dem die ganze Wirtschaft wie ein einziger Konzern geführt wird, die Arbeiter bleiben, was sie waren – Arbeiter.

Lukács lesen angesichts des jetzigen völkischen Wiedererwachens der echt oder angeblich abgehängten Menschen in etlichen Ländern – das hat ewas. Geschichte und Klassenbewusstsein studieren und dann jene erbärmlichen Bilder vor Augen zu haben, auf denen etwa Arbeiter der abgewirtschafteten überflüssigen amerikanischen Stahlbuden sich um ihren neuen Guru scharen, das höhere Wesen, das sie nun aber ganz bestimmt retten wird. Wovor? Vorm ganz normalen kapitalistischen Fortschritt. Wohin? Ins kapitalistische Mittelalter, die alten Glanzzeiten des Fordismus, in China usw. noch voll präsent, aber auch dort bald vorbei. Dieser ungeheure Widerspruch zwischen den revolutionären Hoffnungen und umgehenden Enttäuschungen nach 1918 in Ungarn und Deutschland, dem drängenden und hart zufassenden Lukács-Versuch, das mit revolutionärer Perspektive theoretisch zu fassen, und eben unsere zwischenzeitlichen Erfahrungen einerseits sowie andererseits gerade diese jetzigen Bilder vor Augen, das zwingt ein heutiges Nachdenken über das Aufheben des Kapitalismus zu einem Mindestmaß an intellektuellem Anspruch.

Selbst derjenige, den alle diese Fragen nicht interessieren oder diejenige, die sich völlig sicher ist, dass die bürgerliche Gesellschaft Höhe- und Endpunkt der Geschichte ist, der oder die weiß ja zumindest auch, dass die heutige Welt nicht aus dem Nichts kommt. Auch die Weisheit der Sieger hat eine Geschichte, auch wenn sie sich als Vollendung einer quasi natürlichen Entwicklung sehen. Sogar die offiziellen Deutschen feiern heuer ihren Marx, den Mann des 19. Jahrhunderts, der sich zwar im Wesentlichen (seiner Werttheorie etwa) geirrt habe, aber immerhin strebend sich bemühte.

Man muss auch den Lukács nicht lesen, um wissen zu können, dass er ein bemerkenswerter Mann des 20. Jahrhundert war, einer, auf den Freund wie Feind sich bezog (wobei er zeitweilig die Freunde mehr fürchten musste als den „Klassen“-Gegner).

Er ist doch wie Marx ganz offenkundig ungefährlich geworden. Oder? Besteht etwa die Gefahr (bei ihm bestand sie tatsächlich nur kurzzeitig in der Verteidigung der ungarischen Räterepublik), dass irgenwelche Arbeiter mit Lukács im Kopf oder gar auf der Fahne irgendjemanden irgendwetwas wegnehmen? Der Bildungsbürger kann völlig gelassen auf Lukács herabschauen als auf ein Kulturerbe, ein Gottseidank überwundenes natürlich. Wie auf den Marx kann er auf ihn nun gönnerhaft sein Werk als einen Beleg dafür ansehen, wie haushoch er selbst sich auch über intellektuell anspruchsvollere Verachter des bürgerlichen Eigentums, der Klasse, aus der Lukács selbst stammte, erhoben hat. Auf einem bestimmten zivilisatorischem Niveau geht der Bürger so etwa mit den Marxens und anderen einst gefährlichen Denkern um. Sie werden, meist ungelesen, als Mode, auch als verkaufsfähige Sehenswürdigkeit aus dem Verlies hoch ins Wohnzimmer geholt oder gar wieder auf den Marktplatz aufgestellt.

Die nun herrschenden ungarischen Bilderstürmer aber schaffen es nicht auf dieses Level. Wie auf anderen Gebieten und wie andere Populisten demontieren sie Errungenschaften der bürgerlichen Zivilisation. Sie wollen auch das Lukács-Archiv sterben lassen.

Wenigstens das, außer Lukács lesen natürlich, möchte ich dafür tun, dass dies nicht geschieht – die Petition dagegen unterschreiben.

Wenn Du das auch tun willst, hier der Link:
https://www.petitionen24.com/read/38042/39395023

In alter Freund- oder/und Streitschaft

Uli

Pressestimmen

"Sorge nach Entscheidung des philosophischen Institutes der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, das Lukács-Archiv in Budapest zu schließen…
Die Initiatorin des Protestes gegen die geplante Schließung des Lukács-Archivs ist Zsuzsa Hermann, die Tochter der Philosophin Agnes Heller.
Letzter Wille des Philosophen Lukács war, das Archiv in seiner letzten Wohnung aufzubewahren und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Nach dem gegenwärtigen Stand ist aber geplant, dass das gesamte Archivmaterial an die Ungarische Akademie der Wissenschaften hinübertransportiert werden soll. Was mit der dann leeren Wohnung passieren wird, darüber ist nicht die Rede.
In Ungarn selbst führen solche Proteste leider nicht mehr zu positiven Ergebnissen. Die Initiatorin hofft, mit Hilfe der internationalen Öffentlichkeit einen größeren Druck ausüben zu können." (Hagalil)

"Die geplante Schließung des Archivs zeigt, dass die zur Zeit der Gründung gestellte Aufgabe nichts an Aktualität eingebüßt hat. Im Gegenteil. Man gewinnt den Eindruck, dass Lukács in seinem Heimatland zu einer persona non grata degradiert wird. Dabei beteuert die Ungarische Akademie der Wissenschaften (UAW) bei jeder Gelegenheit, dass politische Motive keine Rolle spielen. Professor László Lovász, der Präsident der UAW, hat in seinem Briefwechsel mit mir betont, dass alles getan werde, um den Nachlass des Philosophen zu erhalten, ja, es gehe bei der Schließung des Archivs um eine Verbesserung des Zugangs zum Nachlass, durch dessen Digitalisierung etwa, oder um die professionellere Konservierung des Bestands durch die Aufnahme in die Nationalbibliothek in Budapest. Die Fakten sprechen leider eine andere Sprache: Der Mitarbeiterstab des Archivs wurde dezimiert und degradiert, die Arbeitsmöglichkeiten des Archivs wurden stark reduziert. An die Versprechungen der Akademie der Wissenschaften glauben die Betroffenen nicht. Wie Orbáns Ungarn mit Lukács zu verfahren gedenkt, zeigt sich indes am Beschluss des Budapester Stadtrats, das Denkmal für den jüdisch-marxistischen Philosophen Georg Lukács im Szent-István-Park der ungarischen Hauptstadt verschwinden zu lassen. Das geschah auf Antrag der rechtsradikalen Jobbik-Partei. " (Jungle World)

"Die wissenschaftliche Öffentlichkeit hat ihr Interesse an Lukács eindringlich verdeutlicht, nicht zuletzt durch die Solidaritätsbekundungen einer Reihe von philosophischen Gesellschaften sowie von Persönlichkeiten des philosophisch-intellektuellen Lebens wie Jürgen Habermas, Axel Honneth, Antonino Infranca, Ferenc Lendvai, Sergio Lessa, Michael Löwy, Domenico Losurdo, Timothy Hall, W. F. Haug, István Mészáros, Guido Oldrini oder Miguel Vedda." (Junge Welt)