Kurzporträt
Barry Hyams

von Richard Albrecht

07/2018

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Dieser Kurzbeitrag erinnert an Barry Hyams (1932-1994), der Anfang der 1970er Jahre in Marburg (Lahn) die Forschungsstelle für Arbeitermigration und Ende der 1970er Jahre das Kindheitsmuseum (mit)begründete.
 

Lexikalisches

Auch Barry mußte von irgendwas leben. Er übersetzte. Etwa Eric Hobsbawms zuerst deutsch 1962 erschienene "Sozialrebellen" (Letztauflage 1979). Oder Erich Fromms zuerst deutsch 1963 erschienenes "Menschenbild bei Marx" (Letztauflage 1988, jeweils mit Dr. Renate Müller-Isenburg). Er wollte, weil es damals dort gehen sollte, in Hellas überleben. Barry wurde im Zusammenhang mit dem Militärputsch 1967 aus Griechenland ausgewiesen, kam nach Deutschland zurück, nach Marburg (Lahn) und ins SDS-Umfeld, betrieb 1968 den ApO-örtlichen Club Voltaire. Barry war 1977 mit seiner Dissertation über das Irland des 19. Jahrhunderts mit seiner Großen Hungersnot (An Gorta Mór; The Irish Potatoe Famine, 1845-1848) der letzte Doktorand des Soziologen Heinz Maus am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg (PUM: FB 03). Die gemeinsam mit Lebensgefährtin Dr. Helge-Ulrike Peter (später Hyams: Erziehungswissenschaftlerin und Professorin an der Universität Bremen) 1973 gegründete Marburger Forschungsstelle für Arbeitermigration mit ihrer Schriftenreihe blieb trotz der dort erschienenen sechs Bände, darunter deutsch-italienische Emigrantenbriefe, Episode – nicht aber das wiederum gemeinsam mit ihr 1979 in Marburg gegründete und von Barry betriebene erste Kindheitsmuseum in der Hüterschen Villa am Barfüßertor. Es bestand bis Ende 2008 und sollte, nicht zuletzt mittels einer Spezialsammlung jüdischer Kinderbücher, Einblicke in Kindheiten der letzten beiden Jahrhunderte vermitteln.

Persönliches

Ich traf Barry Anfang 1972 gegen Ende meines Marburger Winter(semester)s 1971/72. Über diese Monate schrieb ich einem in Köln lebenden Hamburger Genossen Ende Februar 1972 in einem einzeilig-vierseitigen Brief über meine Erfahrungen am dortigen Fachbereich im allgemeinen "und besonders im Bereich der Politikwissenschaft", in welchem Fach ich mit einer Studie zur "Sozialfaschismustheorie der Kommunistischen Partei Deutschlands" zum Dr.phil. hätte promovieren wollen: "wenig öffentliche, demokratische Diskussion über praktische Entscheidungsprozesse [...], bloße Akklamation für Entscheidungen ([...] der Lehre, der Forschung, der Organisation), die eh vorher gefällt sind, recht geringes [...] öffentlich ausgewiesenes Herangehen an diese Probleme, wenig Grundlegung für öffentlich-demokratische Entscheidungsprozesse in den Veranstaltungen. Die Gefahr ist klar: mögliche Selbstaustrocknung, kaum lebendige Auseinandersetzung [...] im wissenschaftlichen Bereich, ewiger Zugzwang-Circulus-Vitiosus, manchmal mit dem politischen Beigeschmack des klandestin arbeitenden sozialistischen Überkaders, also: Gefahr der sektiererischen Verengung."

Barry galt im Marburger SDS als Mann fürs Grobe und Beschaffer und als jemand, der mit Waffen umgehen konnte. Er half mir einmal praktisch als sonst nichts mehr ging. Bei märzlichen Waldspaziergängen erzählte Barry von seiner Zeit in der britischen Rheinarmee, von der nach Osten verschobenen Schlächtergrenze beim faschistischen Völkermord(en) während des Zweiten Weltkriegs, von seiner letzten Zugfahrt in Griechenland, von Arbeitsmigranten, ihren Hoffnung und Enttäuschungen, von Londoner Dockern, ihrem Streik und warum 1968 britische Arbeiter und Gewerkschafter für den als rechts(extrem) geltenden intellektuellen Tory Enoch Powell demonstrierten. Der Kontakt riß nach dem aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Prinzip bald ab. Später las ich Barrys Dissertation und den Nachruf auf seinen Doktorvater. Als ich im Frühjahr 2008 versuchte, ihn zu erreichen, um anstatt einen der immergleich-beliebigen Professoralvorträgler ihn, Barry (auch Barry C. oder Charles Barry) Hyams zu einer öffentlichen Rede nach Bonn einladen zu lassen, konnte ich Barry nicht mehr erreichen. Er soll, zweiundsechzigjährig, 1994 in Marburg (Lahn) gestorben sein.
 

Nachlesbares

-Charles Barry Hyams; Helge-Ulrike Peter (Ed.), Lettere di emigrati ai compagni del Mezzogiorno d'Italia / Emigrantenbriefe. Marburg/Lahn 1974, 134 p. (= Schriftenreihe der Forschungsstelle für Arbeitermigration 2)

-Dies., Arbeitermigration. Beiträge zu Problemen der Arbeitskräftewanderung nach Westeuropa. Marburg/Lahn 1975, 279 p. (= Schriftenreihe der Forschungsstelle für Arbeitermigration 3)

-Bernhard Kayer, Zyklisch bedingte Heimkehr von Arbeitsemigranten. [Deutsche Ausgabe von C. B. Hyams; H.-U. Peter im Auftrag der OECD] Marburg/Lahn 1975, 114 p. ( = Schriftenreihe der Forschungsstelle für Arbeitermigration 5)

-Charles Barry Hyams, Irland im 19. Jahrhundert. Marburg/Lahn 1977, ix/422 p. (= Schriftenreihe der Forschungsstelle für Arbeitermigration 6)

-Ders., Heinz Maus; in: Marburger Zeitung, 2 (1978) 12: 16-17

-Ders; Helge-Ulrike Hyams, Marburger Kindheitsmuseum, Selbstverlag, Marburg 1983, 152 p. [2009 geschlossen. Ein Teil der Sammelung jüdischer Kinderbücher soll als Collection Hyams in der Bibliothek des Leo Baeck College in London öffentlich zugänglich sein.]

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.  Es handelt sich um eine vom Autor geringfügig überarbeitete und gekürzte Fassung des im Netz-Tagebuch duckhome, Hg. Jochen Hoff (1975-2017), am 8. November 2010 erstveröffentlichten Beitrags. Gedruckt in: Auskunft, 36 (2016) II: 249-441. - R.A.