Das globale Regime des Kapitals

von Conrad Schuhler

7/2017

trend
onlinezeitung

Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten, notierte Kurt Tucholsky 1931. Tucholskys erhellende Satire hatte den Titel: Kurzer Abriss der Nationalökonomie. Diese (Nationalökonomie)…

„ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben“. Seit Marx „ist die Frage völlig gelöst: die Leute haben zwar immer noch kein Geld, wissen aber wenigstens, warum“.

Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke Band I, Hamburg 1960.

Diese Verflechtung war seit Jahrhunderten vorhanden, auch schon vor dem Siegeszug des Kapitalismus. (Vgl. Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Berlin 2015, S. 1015) Doch hat sich in den letzten Jahrzehnten ein qualitativ entscheidender Wandel vollzogen. Bis dahin hatten sich Produktion und Handel über Jahrhunderte im Gefolge „großer Mächte“ (Ranke, zitiert bei Menzel, a.a.O., S. 17) entwickelt. Es gab eine enge Beziehung zwischen nationalem politischem System und Dominanz der entsprechenden nationalen Wirtschaft. Menzel, der „die Ordnung der Welt“ stets hergestellt sieht durch „Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt“ (so Titel und Untertitel seines Mammutwerks), führt 15 solcher Imperien an, die von der Song-Periode in China vom 10. bis zum 13. Jahrhundert über die mediterrane Weltwirtschaft durch Genua und Venedig bis zum American Empire der jüngsten Zeit reicht. Das Neue, das durch die neoliberale Globalisierung durchgesetzt wurde, ist die Lösung des Regimes des globalen Kapitalismus von der Wirkkraft einzelner nationaler politischer Apparate. Die globale Produktion wird bestimmt durch globale Wertschöpfungsketten. Ein Konzern wie Siemens produziert und verkauft in über 200 Ländern. Ähnliches gilt für alle großen Unternehmen. In den einzelnen nationalen Standorten werden in der Regel nicht komplette Waren für einheimische Märkte produziert oder komplette Produkte für den Export hergestellt. Es geht vielmehr um Zwischenprodukte in einer globalen Produktionskette. Auf diese „globalen Wertschöpfungsketten“ entfallen heute gut 80 % des Welthandels mit Gütern und Dienstleistungen. (Michael R. Krätke, Globale Wertschöpfungsketten in und nach der Großen Krise. spw 4, 2013, S. 17f) Die hundert größten heute MNE genannten Multis (Multinational Enterprises) – nach Umsätzen führt Royal Dutch Shell vor Exxon, Toyota und Volkswagen – verfügen im Durchschnitt über 549 Filialen, das Maximum sind 2082 Filialen. Zwei Drittel der Filialen liegen im Ausland. (UNCTAD, WIR 2016, S. 135) Die gegenseitige globale Kapitaldurchdringung der einzelnen Nationen ist seit 1990 gewaltig gestiegen. Die FDI inflows, die Auslandsinvestitionen in den Ländern, sind in dieser Periode um das Achtfache gestiegen, die FDI Outflows, die Investitionen ins Ausland, um das Siebenfache. Die jeweiligen Kapitalstöcke, In- wie Ausland, haben sich auf das Zwölffache vergrößert, der Kapitalwert der Auslandsfilialen auf das 22fache. (A.a.O., S. 29)

Das Volumen der Exporte und Importe wächst nur noch bescheiden. 2015 stiegen die Exporte weltweit um 1,4 %, die Importe um 1,6 %. (UNCTAD, Trade and Development Report 2016, S. 5)  Doch die Transnationalisierung der Unternehmen geht weiter voran. Sie betrifft gleichermaßen Umsatz, Beschäftigung und Eigentümerstruktur. Der Auslandsumsatz macht heute 65 % der Gesamtumsätze der großen MNEs aus; die Auslandsbeschäftigung 58 %; der Anteil des auswärtigen Geschäftseigentums 62 % des gesamten Geschäftswertes. (UNCTAD, WIR 2016, S. 142) Der Expansionskurs der MNE nähert sich aber nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds seinem Ende. (IMF, WEO 2016, S. 81, 86)

Es liegt auf der Hand, dass diese globalen Wirtschaftsunternehmen Einfluss nehmen auf die politischen Strukturen rund um den Globus. Und sie tun es höchst effektiv.

Der Methoden gibt es viele. Zum Beispiel Korruption der nationalen politischen Eliten und Geschäftspartner. Bei der Siemens-Korruptionsaffäre kam heraus, dass der Konzern sein globales Wachstum zu großen Teilen über illegale Zahlungen betrieb. „Die Fahnder kamen auf rund 4300 illegale Zahlungen. Sie protokollierten mehr als 330 dubiose Projekte – von Kraftwerken in Israel bis hin zu fälschungssicheren Ausweisen in Argentinien. Mit umgerechnet rund 1,3 Milliarden Euro war Landschaftspflege der besonderen Art betrieben worden.“ („Das ist wie bei der Mafia“. SZ, 14.1.2011) Wenn finanzielle Überweisungen nicht mehr hinreichen, werden militärische Weisungen erteilt. Um „die eigene Lebensweise“ zu schützen und dabei den Zugriff auf Ressourcen und Transportwege zu sichern, muss Deutschland „mit allen Mitteln…, einschließlich, wo und wenn nötig, mit militärischen“, eingreifen. Schon seit 2005 hat die neoliberal dominierte Weltgemeinschaft diese „Responsibility to Protect“, die „Schutzverantwortung“, als normatives Prinzip den UN verordnet. Danach kann, wie bei der sogenannten „humanitären Intervention“, in einem Land eine militärische Intervention mit dem erklärten Ziel durchgeführt werden, Menschenrechtsverletzungen Einhalt zu gebieten. (Peter Rudolf, Schutzverantwortung und humanitäre Intervention.) Nach diesem Konzept fand der Überfall auf das Gaddafi-Lybien statt.

Das Hauptverfahren jedoch besteht darin, die bisher bei den nationalen politischen Strukturen verankerten Entscheidungsverfahren aufzuheben und die Institutionen zu entmachten, die sich bisher demokratischen Wahlentscheidungen zu stellen haben. Wir erleben seit einigen Jahrzehnten den Übergang der entscheidenden politischen Prozesse aus demokratischen Strukturen in supranationale und von Experten dominierte Einrichtungen, die sich demokratischer Mitwirkung und Kontrolle weitgehend entziehen. Zu solchen Institutionen sind u.a. die Welthandelsorganisation (WTO) zu zählen, der Internationale Währungsfonds (IMF), die Weltbank, die EU und das einzig wirksame Institut über dem Euro-Währungsblock, die Europäische Zentralbank, die sich aus den Vertretern der nationalen Notenbanken zusammensetzt und „unabhängig“, also frei von jeder demokratischen Kontrolle zu entscheiden hat. Die Experten, die von den wirtschaftlichen und politischen Eliten ausgewählt sind, legen nun die Entscheidungen fest, die, da ja als „Fach“-Urteile getroffen, nicht mehr demokratisch hinterfragbar seien. (Anmerkung:  Ein Paradebeispiel der Herrschaftsarroganz ökonomischer Fachleute lieferte der damalige Chef des Münchner Ifo-Institutes, Hans Werner Sinn. Zu jedweder prinzipieller Kapitalismuskritik erklärte er: „Die   Entrüstung über die Gesetze des Kapitalismus ist müßig. Auch wenn diese Entrüstung die Fallgesetze beträfe, hätte Gott dafür nur ein müdes Lächeln übrig.“ Spiegel Online, 13.4.2005) Konflikte zwischen den „Partnern“ dieser Weltwirtschaft werden vor internationale Schiedsgerichte gebracht, die geheim tagen und hermetisch gegen jede demokratische Einflussnahme abgesichert sind. Es entscheiden von den Institutionen benannte „Schiedsrichter“ außerhalb der öffentlichen Rechtswege.

Solche Streitbeilegungsverfahren finden nicht nur im Rahmen internationaler Organisationen – vor allem der WTO – statt, sondern regeln auch das Procedere bei bilateralen Verträgen, die sich unterhalb der WTO-Ebene in den letzten Jahren mächtig herausgebildet haben. Ende 2013 wurden schon 3.200 bilaterale Handels- und Investitionsabkommen gezählt, 90% von ihnen enthielten so genannte Investor-to-State Dispute Settlements (ISDS), die es Konzernen ermöglichen, Unterzeichnerstaaten in geheimen Tribunalen auf Schadenersatz zu verklagen. Allein Deutschland hat mehr als 140 solcher Abkommen unterzeichnet, und alle enthalten ISDS-Vorschriften. (Conrad Schuhler, TTIP muss verhindert werden – und wir können das auch. In: ISW-Report Nr. 97: Wirtschafts-Nato TTIP STOP!, S. 4) Während bei der WTO nur Staaten gegen Staaten klagen können, wurden mit den bilateralen Abkommen die globalen Konzerne zu dominanten Subjekten des Völkerrechts gemacht. In 27 % aller 739 Streitfälle obsiegten die Konzerne mit ihren Klagen auf Schadenersatz für staatliche Maßnahmen u.a. zum Umweltschutz oder zur Besserstellung der Arbeitskräfte. (Peter Nunnenkamp, Wie gefährlich sind internationale Schiedsgerichte wirklich?) Wie viele staatliche Maßnahmen aus Furcht vor Schadenersatzklagen unterbleiben, kann nicht gemessen werden. Aber ohne Zweifel ist die Schadenersatz-Drohung über der globalen Wirtschaft höchst wirksam im Sinn der neoliberalen globalen Elite.

Wir erleben einen globalen Kapitalismus, der gekennzeichnet ist durch 1) eine transnationale Verzahnung von Produktion und Märkten, und 2) durch eine weitgehende Entdemokratisierung zugunsten einer vom globalen Kapital benannten und bezahlten „kosmopolitischen“ Expertenkaste. Dabei macht es, Existenz und Funktionieren des globalen Kapitalismus betreffend, keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Staat privatkapitalistisch oder staatskapitalistisch geführt wird. Die chinesische KP nennt ihr System „sozialistische Marktwirtschaft“. Deng Xiaoping sagte seinerzeit: Es spielt keine Rolle, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, solange sie Mäuse fängt, ist sie bereits eine gute Katze. Mit Mäusefangen meinte Deng, einen möglichst optimalen Mehrwert zu erzielen, einen Überschuss des Outputs über die Inputs an Löhnen und Sachinvestitionen. Das Mäusefangen gelingt China seit vielen Jahren offenbar besser als dem Westen. Grundlage des Wachstums ist ein rapide wachsender privater Sektor – er soll mittlerweile gut 70 % des Inlandsprodukts herstellen. Unter „absoluter Kontrolle des Staates“ stehen die Sektoren der Energie, der Öl- und  Petrochemie, der Telekommunikation, der Luft- und Schifffahrt und der Rüstung. Wie auch immer im Inneren das Produkt erstellt und verteilt wird, als Teilnehmer am globalen System richtet sich China wie alle anderen an den Maximen des neoliberalen Weltsystems aus.     

Editorische Hinweise

Wir spiegelten den Text von der ISW-Website.
Dieser Text ist eine Vorarbeit zum isw-Report Nr. 109 „Die Krise des globalen Kapitals – und jetzt wohin?“, der Anfang Juli 2017 erscheinen wird.