Politökonomische Aspekte der Großen Proletarischen Kulturrevolution in China

von
Walter Aschmoneit

07/2016

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Seit über einem Jahrhundert kämpfen die arbeitenden Klassen -das Proletariat und seine Verbündeten - gegen die ausbeutenden Klassen, die Bourgeoisie und andere Reaktionäre, um sich von dem Joch der Ausbeutung zu befreien und die Ausbeutung über­haupt abzuschaffen. Die Große Proletarische Kulturrevolution ist die jüngste Etappe in diesem Kampf, den das chinesische Volk bereits seit Jahrzehnten führt. Aber warum Kampf? Ha­ben die chinesischen Revolutionäre 1949 nicht die Volksrepu­blik gegründet, haben sie nicht die Landwirtschaft kollektiviert, die Industrie verstaatlicht und die vormals anarchische Wirt­schaft planmäßig organisiert und nach den Bedürfnissen der breiten Volksmassen ausgerichtet? Alle diese Siege sind errungen worden; es gibt kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr (außer den Privatparzellen auf dem Lande, deren Fläche weniger als fünf Prozent der Gesamtanbaufläche beträgt), und die ausbeutenden Klassen sind im wesentlichen gestürzt worden. Warum gibt es also noch Klassen und Klassenkampf, wenn die Diktatur des Proletariats errichtet ist?

Mit der Verstaatlichung der Industrie hat die Arbeiterklasse fürs erste die Machtfrage in diesem Bereich für sich entschieden: durch den staatlichen Plan ist es möglich, Spekulation, Hortung von Rohstoffen und profitorientierten Vertrieb der Produkte zu unterbinden; mit der Überwachung der alten Direktoren und Spezialisten durch den Betriebsparteiausschuß sind der Willkür der Betriebsleitung Grenzen gesetzt; mit der Kontrolle von un­ten durch die Gewerkschaften in den fünfziger Jahren können die Arbeiter ihre Interessen mehr und mehr durchsetzen. Doch es genügt nicht, auf die alten Posten nach und nach neue Leute zu setzen, selbst wenn sie das volle Vertrauen der Arbeiter ge­nießen: was ändert sich für einen Dreher, wenn der Mann mit der Stoppuhr hinter seinem Rücken ein rotes Halstuch trägt? Die Kontroll-Mechanismen, die Betriebs-Hierarchie, die Kom­petenzabgrenzung in der Produktion usw., die Form des »Be­triebs« selbst als Produktionseinheit sind im Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital ausgebildet worden, unter der Herr­schaft der Kapitalistenklasse. Die technischen Neuerungen und Erfindungen, die in der Produktion zur Anwendung kommen, tragen den Stempel der Profitmaximierung: der Arbeiter ist Lückenbüßer der Maschine. (Man zeichne die Geschichte der in­dustriellen Neuerungen nach: besonders in Zeiten zugespitzter Klassenkämpfe setzt die Bourgeoisie neue Techniken und Me­thoden ein, um die Arbeiterklasse niederzuhalten, sie einzu­schüchtern, die Reservearmee zu vergrößern.) Diese Formen der Produktivkraft der Arbeit (der Verbindung von Arbeiter, Pro­duktionsmittel und bearbeitetem Stoff) sind typischerweise ka­pitalistisch und arbeiterfeindlich. Die Trennung der unmittelba­ren Produzenten von den Produktionsmitteln ist das grundle­gende Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise. Die ver­schiedenen Tätigkeiten im Betrieb möglichst zu vereinzeln, zu parzellieren und mit Taylor-, Refa-, MTM- und anderen Syste­men kontrollierbar zu machen, verschärft die Ausbeutung: eine differenzierte »Arbeitsplatz«-Bewertung auf dieser Grundlage spaltet die Arbeiterschaft, erweitert die Manipulationsmöglich­keit des Unternehmers und sichert seine Macht. Unmittelbar nach Errichtung der Diktatur des Proletariats wer­den zwar die krassesten Erscheinungsformen des kapitalistischen Betriebs ausgemerzt: die Macht der Betriebsleitung, die Arbeiter rauszuschmeißen, Hungerlohn zu zahlen, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen aufzuwingen. Doch die neuen Kader (oder Funktionäre: gemeint sind alle Personen mit irgendwelchen Lei­tungsfunktionen), die an die Stelle der alten Betriebsleitung rücken, sehen sich nun vor einer doppelten Aufgabe: einmal stehen sie dafür gerade, daß die Produktion läuft, daß die Gesellschaft die benötigten Güter auch bekommt. Und zweitens müssen sie ihre Leitungsaufgaben so wahrnehmen, daß die Arbeiter diese Funktionen Schritt für Schritt selbst übernehmen können. Wenn die sozialistische Betriebsleitung dagegen die Notwendigkeit »zu produzieren, produzieren und nochmals produzieren« einseitig betont, so verhält sie sich nicht viel anders als ein kapitalisti­scher Unternehmer.

All das gilt auch für die Kader in überbetrieblichen Organen (Kreis, administrative Region, Provinz, Zentrale). Diese Kader haben ebenfalls zwei Aufgaben-, einmal die Planar­beit gut zu verrichten, damit sich nicht unter der Hand Schwarzmarkt Verhältnisse einschleichen; und zweitens ihre Ar­beit in der Weise zu verrichten, daß sich die Koordination der Produktionseinheiten zu einer Koordination von Belegschaften, zu einem Austausch von Arbeiten, zur assoziierten Arbeit ent­wickelt.

Erfüllen diese überbetrieblichen Planorgane nur die erste Auf­gabe, so handeln sie nach bewährter bürokratischer und letzten Endes kapitalistischer Manier: von der Werkstatt einer Produk­tionsbrigade, der Reparaturstätte einer Volkskommune, der Mo­toren- und Traktorenstation eines Kreises, der Traktorenfa­brik einer Provinz bis zum zentral geleiteten Kombinat für schwere Landmaschinen wird so alles - der »Übersicht und Effi­zienz« halber - in einem Trust zusammengefaßt, nachdem man sich die Management-Methoden aus dem imperialistischen Ame­rika geholt hat. Daneben gibt es einen anderen Trust, der eben­falls von der Basis bis zur Zentrale die Ersatzteilproduktion für Landmaschinen verwaltet (so der Versuch des Industrieministers Bo Yi-bo im Jahre 1964).

In dieser Weise wird die Produktion in Branchen zerstückelt, sektorial aufgeteilt und straff zentralisiert. Die Produktion nach den Bedürfnissen der Massen tritt zunehmend in den Hin­tergrund. Man betrachte den Instanzenweg, den eine Volkskom­mune beschreiten mußte, um kurz vor der Ernte ein notwendi­ges Ersatzteil zu beschaffen, oder die gleiche Umständlichkeit, wenn die Textilfabrik eines Kreises neue Webstühle brauchte. Bei dieser Form der sektoral-zentralisierten Produktion tritt als bestimmendes Kontrollmittel der monetäre Kalkül in den Vorder­grund. Die Einzelbetriebe richten ihre Wirtschaftsführung nach dem Gewinn aus, und die gesellschaftliche Bedarfsproduktion wird tendenziell nur in profitablen Bereichen aufrechterhalten. So beginnt der kapitalistische Weg im überbetrieblichen Be­reich.

Die Kader, die den kapitalistischen Weg gehen, treiben die Ar­beiter nur zur Produktion an, vernebeln die Hirne der Massen mit den Schlagworten »Effizienz«, »Rationalität« und »Sach­zwang«, mit Begriffen, die scheinbar an keine Klasse gebunden sind, im Grunde aber in der bürgerlichen Ideologie wurzeln. Sie vergeben »materielle Anreize« als Trostpflaster für politisch ohnmächtige Produzenten. Sie sagen »der Kommunismus ist eine Sache des Uberflusses, man muß erst die Produktivkräfte ent­wickeln«. Diese Parole reduziert die Emanzipation der Arbei­terklasse auf eine »gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Produktion« (wie ehedem Dühring), ohne daß der Charakter der Arbeit radikal verändert und sie zu einem Lebensbedürfnis der Menschen würde. Diese Kader, die sich von den Massen ge­löst haben, informieren sich tendenziell zu einer neuen Staats­bourgeoisie.

Der Kampf der revolutionären Kräfte gegen diese Reaktion ist ein Klassenkampf unter der Diktatur des Proletariats; ein Kampf um die Macht in jenen Bereichen, die von der Bourgeoi­sie noch gehalten werden. Dieser Kampf brach in der Kulturre­volution offen aus, wurde aber schon lange vorher geführt. Wel­cher Weg ist einzuschlagen? Sollte man den »Sachzwängen« nachlaufen, oder die Politik an die erste Stelle setzen, sollte man sich auf eine Handvoll »gebildeter Spezialisten« verlassen oder die Initiative der Massen voll entwickeln?

Einen ersten Angriff auf solche Bastionen der Bourgeoisie führ­ten die arbeitenden Massen im Großen Sprung; in einer Dreijah­resfrist sollten einige wesentliche materielle und institutionelle Voraussetzungen (ländliche Industrialisierung, Volkskommu­nen) geschaffen werden, um den weiteren Aufbau des Sozialis­mus auf dieser Grundlage zu festigen. Die Entfaltung der Mas­seninitiative in diesen Jahren 1958/59 war das Hauptmerkmal der neuformulierten Generallinie. Einige rechte Elemente der chinesischen KP mißtrauten zutiefst den Massen und widersetz­ten sich dieser Politik; nach den unbestreitbaren Erfolgen (Was­serregulierungsbauten, Infrastruktur, industrielle Kleinbetriebe auf dem Lande, eine Unzahl von technischen Erfindungen, gi­gantische Aufforstung, Ansteigen der Produktivität in allen Be­reichen ...) schwenkten dieselben Elemente um und verfolgten eine »ultra-linke« Taktik: mit der Devise »Spontaneität ist al­les, Organisation ist nichts« verwirrten sie einen Teil der Mas­sen. Die Position der rechten Elemente erfuhr eine unerwartete Hilfestellung durch langanhaltende, schwere Naturkatastro­phen, denn dadurch wurden die arbeitenden Massen bei ihrer Produktionsschlacht in die Defensive gedrängt. Der Abzug der sowjetischen Techniker (mit allen Blaupausen) und die Einstel­lung der sowjetischen Lieferungen an Ausrüstungsgütern trug ebenfalls dazu bei, daß die Konservativen mehr und mehr Ober­wasser bekamen. Sie meinten, ihre ursprüngliche Kritik sei be­stätigt worden.

Von nun an verschärfte sich der Kampf zwischen der revolutio­nären und der revisionistischen Linie, und die Fronten wurden immer klarer; doch zunächst behielten die rechten Elemente die Oberhand in der Innenpolitik: auf dem Land wurden das Kol­lektiv-Eigentum untergraben und die Privat-Parzellen erwei­tert; die Familie wurde als Bewertungseinheit festgelegt und nicht mehr die Produktionsgruppe; die private Anstellung von Arbeitskräften wurde erlaubt; mit Privatkrediten konnte wie­der Wucher betrieben werden. Die Gesamtverantwortlichkeit der Volkskommuneorgane wurde aufgebrochen. Die Bereiche der Erziehung, des Handels, der medizinischen Versorgung und der kleinindustriellen Produktion kamen unter die Alleinver­antwortlichkeit der jeweiligen Kreis-Ämter. Die kleinen Indu­striebetriebe wurden entweder geschlossen (nur die profitablen konnten weiterarbeiten) oder den jeweiligen höheren Industrie-Büros unterstellt.

In der Industrie wurde das kollektive Leitungssystem zu Gun­sten des »Ein-Mann«-Prinzips abgeschafft. Bei Konflikten mit dem Parteiausschuß behielt der Betriebsdirektor die Oberhand. Die Arbeitsorganisation wurde genauestens nach der Betriebs­ordnung von Magnitogorsk vorgeschrieben. Die 170 Abschnitte mußten von den Arbeitern auswendig gelernt werden. Ein aus­geklügeltes Prämiensystem (über 70 Arten) spaltete die Arbei­terklasse. Die Gewerkschaften waren Befehlsempfänger der Be­triebsleitungen und sollten die Arbeiter zur Produktion antrei­ben. Die Produktion wurde am Profit orientiert. Staatlichen Aufträgen mit geringer Stückzahl, großem Arbeitsaufwand und geringem Profit wichen einige Betriebsleitungen aus. Das aus den Erfahrungen des Großen Sprunges gewonnene »ge­stufte System koordinierter Pläne« (jede Ebene - vom Kreis bis zur Provinz - stellte einen Gesamtplan auf, stimmte die ver­schiedenen Produktionssparten in ihrem Bereich untereinander ab und reichte diese koordinierten Pläne der nächsthöheren In­stanz weiter) wurde von den Tendenzen zur Trustbildung un­tergraben. Im technischen Bereich mißachteten die rechten Ele­mente die Initiative und die Ideen der Massen und übernahmen ungeprüft die »moderne« Maschinerie aus dem Ausland. Im Erziehungsbereich wurden die Schulen geschlossen, die im Großen Sprung gegründet worden waren und die politisch ak­tive und fachlich qualifizierte Schüler (»rot und fachkundig«) aus den Reihen der Arbeiter und Bauern heranbildeten. In den alten Schulen wurden die Aufnahmebedingungen verschärft, so daß Kinder aus »gebildeten« Kreisen mehr und mehr die Arbei­terkinder verdrängten. Der Lehrstoff war scholastisch und hatte wenig Bezug zu den Problemen in den Fabriken und Volkskom­munen. Er wurde zudem in autoritärer Manier eingepaukt. Ri­gorose Prüfungsbestimmungen sollten die Arbeiterkinder aussie­ben. (Z. B. waren in den Oberschulen von Peking und Shanghai 60 Prozent der Schüler Bürgerkinder.) Ähnliche Bestrebungen wurden von der Bourgeoisie auch in anderen Bereichen verfolgt (Medizin, Handel usw.). Es waren allerdings nur Bestrebungen, die auf erbitterten Widerstand der revolutionären Kräfte unter Führung Mao Tsetungs stießen.

Der offene Kampf brach in einem Bereich aus, in dem die Ge­gensätze am heftigsten aufeinanderprallten: im Erziehungswe­sen. Warum? Im Ausbildungswesen hatten nach der Befreiung unverhältnismäßig viele bürgerliche Intellektuelle Unterschlupf gefunden. Angesichts der Notsituation war dies nicht verwun­derlich; es herrschte Mangel an Fachkräften, und das Analpha­betentum war noch weit verbreitet. In diesem Bereich war auch die ideologische Verwandtschaft und die politische Verschwäge­rung der alten Bourgeoisie mit den neuen revisionistischen Ele­menten am augenfälligsten. In Fabriken und Volkskommunen hätten sie mit den erfahrenen, revolutionären Arbeitern und Bauern nicht in der Weise umspringen können wie mit unerfah­renen Jugendlichen. Doch die extreme Unterdrückung provo­zierte nur den offenen Kampf, und ihre Stärke veranlaßte die Arbeiter- und Bauernschüler nur zum organisierten Widerstand. Ideologisch hatten sich die reaktionären »Autoritäten« bereits zu sehr entlarvt, um in offenen Auseinandersetzungen ihre Poli­tik rechtfertigen zu können.

Es waren insbesondere die Jugendlichen aus den Reihen der Ar­beiter und Bauern, die sich zu den »Rote-Garden«-Organisatio-nen zuammenschlossen. In den Fabriken bildeten jene Jungar­beiter die Vorhut, die durch das bürgerlich-elitäre Prüfungssy­stem von den Schulen gejagt worden waren. Unmittelbar nach dem Ausbruch des offenen Kampfes in Form von Wandzeitun­gen und Debatten (bewaffnete Auseinandersetzungen waren strikt untersagt) stellte sich Mao hinter die jungen Revolutionä­re: Rebellion gegen die Machthaber, die den kapitalistischen Weg gehen, ist gerechtfertigt. Die jungen Rotgardisten schöpf­ten ihr Selbstvertrauen und ihren Mut aus dem Studium der re­volutionären Erfahrungen der Kommunistischen Partei Chinas, die Mao in seinen Werken zusammengefaßt hat. Sie verglichen diese Erfahrungen mit den Praktiken der bürgerlich-revisionisti­schen Elemente und kritisierten schonungslos die arbeiterfeind­liche Politik in allen Bereichen.

Der Gegenschlag der Reaktionäre ließ nicht auf sich warten: die rechte Führungsclique entsandte »Arbeitsgruppen« an die Basis, um die große politisch-ideologische Kritik in kleinen akademi­schen Zirkeldiskussionen zu entschärfen und so der Bloßstellung zu entgehen. Zu diesem Zeitpunkt, im August 1966, faßte das Zentralkomitee der KPCh die Erfahrungen der Kämpfe der letzten Jahre zusammen und gab der revolutionären Bewegung ihre Richtung: unmittelbares Ziel der proletarischen Revolutio­näre sei es, die Macht besonders auf zentraler und Provinzebene zu erobern. Damit würden die bürgerlichen Elemente auf der unteren Ebene ihren organisatorischen Rückhalt verlieren, sie würden isoliert und könnten einzeln leichter angegriffen werden.

Die bürgerlichen Elemente waren nun gezwungen, Rückzugsge­fechte zu führen. »Sie schwenkten rote Fahnen, um der Roten Fahne Widerstand zu leisten«. Sie stellten z. B. konterrevolutio­näre »Rote-Garde«-Organisationen auf die Beine, um die politi­sche Kritik in Studentenstreitereien umzumünzen. Sie versuchten durch eine ökonomistische Politik, die Arbeiter gegen die revo­lutionären Schüler und Studenten aufzuwiegeln: mit weiteren Prämien sollten die Arbeiter davon abgehalten werden, die Fra­ge nach der Macht im Betrieb und nach der Macht ihrer Klasse im Staat zu stellen.

Die Entscheidung fiel in Shanghai, als nach erbitterten Ausein­andersetzungen die revolutionäre Linie siegte. Denn wer zahlte den Arbeitern die Stillhalteprämie? Es war jene Handvoll Ka­der, die die Arbeiter bislang von der Führung des Betriebes aus­geschlossen hatte. Mit welcher Rechtfertigung herrschten diese Kader willkürlich im Betrieb? Sie sagten, die Massen seien unge­bildet, nur sie selber besäßen den Überblick, die Erfahrung, das Wissen. Und woher bezogen sie das Wissen? Aus jenen Schulen und Universitäten, die von den bürgerlichen Elementen be­herrscht wurden. Und waren es dagegen nicht jene revolutionä­ren Schüler und Studenten, die Schluß machen wollten mit der bürgerlich-elitären Erziehung? War dieser Kampf der Schüler und Studenten nicht der gleiche Kampf wie der der Arbeiter­schaft? Die Folge war das Bündnis der Rotgardisten mit den re­volutionären Arbeitern, das sich immer mehr festigte und erwei­terte. Die Taktik der Rechten scheiterte, und ihre konterrevolu­tionären Praktiken isolierten sie von den Massen. Damit war die rechte Führungsgruppe im wesentlichen ausgeschaltet. Vor den revolutionären Kräften stand nun die Aufgabe, auf Provinz- und unterer Ebene die Macht zu übernehmen. Um von der Kritik, die sich auf sie konzentriert hatte, abzulenken, be­sann sich die Rechte auf die Parole »alle Kader sind im Grun­de schlecht«. Damit wollten sie in der Menge guter Kader unter­tauchen und in der dadurch erzeugten pseudorevolutionären Brandung alle Koordinations- und Leitungssysteme zerschlagen. Im folgenden Chaos - so dachten sie - würden sich die »Ex­perten« schon wieder durchsetzen. Diese Taktik war den revolu­tionären Kräften allerdings aus dem Großen Sprung 1958 und aus der Erziehungsbewegung 1964/65 schon bekannt. Die Eini­gung der revolutionären Massen verzögerte sich daher nur. Die Bildung proletarischer Machtorgane, der Revolutionsausschüsse, war nicht mehr aufzuhalten. Diese Revolutionsausschüsse setzen sich aus Vertretern der revolutionären Massenorganisationen, aus revolutionären Kadern und Vertretern der Volksbefreiungs­armee zusammen (die Armee hatte schon vor der Kulturrevolu­tion eine tiefgehende Revolutionierungskampagne durchgeführt, in der sie sich noch enger mit den Bauern- und Arbeitermassen in produktiver Arbeit verbunden und ihre innere Organisation demokratisiert hatte).

Nach der breiten ideologischen Kritik und der politischen Machtübernahme der revolutionären Kräfte trat die Kulturre­volution in eine neue Etappe ein: auf der Tagesordnung stand nun, jene Strukturen umzugestalten, die aus der alten Gesell­schaft übernommen worden waren. Es galt die Basiseinheiten (wie Schulen/Universitäten, Industrie-Betriebe, Handelsorgani­sationen etc.) zu revolutionieren. Auf dem Lande bestand die Aufgabe darin, die Volkskommune als sozial-ökonomische Ein­heit wieder voll zur Geltung zu bringen.

Was heißt Revolutionierung? Eine Grundeinheit revolutionieren heißt, daß die große Masse der bisher von der Macht ausgeschlos­senen Schüler, Bauern und Arbeiter die Macht der bürgerlichen Minderheit im Leitungspersonal übernimmt, daß die große Mehr­heit die Arbeit in den Einheiten nach ihrem proletarischen Klasseninteresse gestaltet, daß die Strukturen der Trennung (von Betrieb zu Betrieb und von Bereichen untereinander wie Pro­duktion, Erziehung, Handel, medizinische Versorgung) aufge­brochen werden, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Tätig­keiten sich zur assoziierten Arbeit entwickeln. Richtungsweisend in dieser Revolutionierung ist die Erfahrung der revolutionären Massen, von Mao zusammengefaßt in der Weisung vom 7. Mai 1966 (abgedruckt in diesem Band, S. 97).

Die Revolutionierung in den Schulen stieß auf große Schwierig­keiten. Die revolutionären Schüler, Lehrer und Angestellten konnten wohl das Lehrprogramm verkürzen und die Unter­richtsmethoden demokratisieren. Aber das Hauptproblem be­stand darin, die Erziehung mit der Produktion, die Schüler mit den Arbeitern eng zu verbinden. So zogen Arbeitergruppen in die Schulen und Universitäten und leiteten die inhaltliche und organisatorische Umgestaltung an. Die Verwaltung wurde ver­einfacht, die Schulen wurden Fabriken zugeordnet und gründe­ten selbst Kleinbetriebe, um praktisch zu lernen und zu produ­zieren. Die einzelnen technischen und naturwissenschaftlichen Fächer wurden zusammengefaßt und die physikalischen, mecha­nischen, chemischen Gesetze an einem geschlossenen Produk­tionsobjekt (Bau von Radios in Schulbetrieben, Produktion von Kunstdünger in petrochemischen Werken usw.) studiert und gleich in der Produktion angewandt. Laboratorien in techni­schen Universitäten errichteten Produktionsstätten und stellten Prototypen her. Durch die Führung der Arbeiter eröffnete sich diese breite Perspektive in der Revolutionierung des ehemals bürgerlichen Schultyps.

Die Revolutionierung der Industriebetriebe orientierte sich be-140 sonders an dem Beispiel der Erdölarbeiter von Daqing, die seit 1961 aus eigener Kraft ein Erdölfeld aufbauten, und an den Er­fahrungen der Metaller von Anshan aus dem Großen Sprung, zusammengefaßt in der von Mao formulierten »Betriebsord­nung von Anshan« vom 22. März i960 (abgedruckt in diesem Band S. 70). Das Schaubild zeigt die neue Betriebsstruktur. Der Parteiausschuß hat die politische Leitung über den Revolu­tionsausschuß. Der Revolutionsausschuß erledigt die Leitungs­aufgaben, nachdem der gesamte Verwaltungsapparat auf das notwendigste Personal verkürzt wurde. Jeweils ein Drittel des Revolutionsausschusses hat im engeren Sinne die Verwaltungs­arbeit zu leisten, das zweite Drittel arbeitet in der Produktion, und das dritte unternimmt Untersuchungen in allen Bereichen. Diese drei Teile des Revolutionsausschusses wechseln sich be­ständig ab in den drei Tätigkeiten. Die Arbeiterverwaltungs­gruppen haben die ehemals ökonomistische Gewerkschaftsorga­nisation abgelöst und bilden politische Kontroll- und Verbin­dungsorgane, die von der Arbeiterschaft unter Ausschluß von Kadern und Technikern gewählt werden. Diese Arbeiterverwal­tungsgruppen haben sich teilweise schon auf regionaler Ebene vereinigt und sind dabei, eine politische Gewerkschaft neuen Typs zu bilden. Die Dreierverbindungen im technischen Bereich sind ständige Organe, wechseln aber ihre Zusammensetzung je nach Aufgabenstellung. Die Hauptkraft in den Dreierverbindun­gen bilden jedoch immer die Arbeiter.

Alle Organe werden von der Basis gewählt, Vertreter können auf der Stelle abgewählt werden, aber man zieht die Methode vor, »die Krankheit zu heilen, um den Patienten zu retten«, d. h., die Fehler des betreffenden Vertreters in Massendiskussio­nen aufzuzeigen, damit er sie berichtigen, später vermeiden und damit seinen Arbeitsstil verbessern kann. Die Kader arbeiten re­gelmäßig in der Produktion. So wird die enge Verbindung der Vertretungsorgane mit der Belegschaft gewährleistet und die Diktatur des Proletariats im industriellen Bereich verstärkt. Die Revolutionierung der Produktionseinheiten verändert nicht nur die innere Organisation, sondern hebt tendenziell die Tren­nung der Produktionsbetriebe untereinander und zu anderen Bereichen auf (Handel, Landwirtschaft, Erziehung). Arbeiter in Textilfabriken stellen Webstühle her, die ihren besonderen An­forderungen gerecht werden; denn wer weiß besser, wie ein Webstuhl funktionieren muß, als jene, die täglich daran arbei­ten? Wenn die Arbeiter beginnen, ihre Produktionsmittel selbst herzustellen, vereinigen sie sich in einer mehrere Betriebe umfas­senden Dreierverbindung und organisieren die planmäßige »so­zialistische Kooperation« mit den Kollegen aus einer Webstuhl-fabrik, Kadern der Planungsinstanzen und Arbeitern aus den materialliefernden Betrieben. Überschüssige Lagervorräte geben sie an Brudereinheiten ab, die sie brauchen. Rohstoffe werden nur für eine Produktionswoche gelagert. Diese Maßnahme intensiviert die Verbindungen zu anderen Betrieben.

Die Arbeiter ver­werten alle festen, flüssigen und gasförmigen Abfallstoffe: aus Zuckerrohr werden außer dem Hauptprodukt Zucker noch über 20 andere Produkte gewonnen, wie Papier, Alkohol, medizini­sche Fabrikate u. a.. Petrochemische Werke reinigen ihre Abfälle zu flüssigem Kunstdünger, der auf die Felder der umliegenden Volkskommunen geleitet wird. Eisenhütten verarbeiten die Kohleschlacken zu Ziegeln für die landwirtschaftliche Kanali­sation. Diese vielfach verzweigte Verarbeitung, »die integrale Nutzung«, wird in den meisten Fällen von Klein- und Kleinst­betrieben geleitet, die mit den »Abfällen« aus verschiedenen Großbetrieben eine neue Produktion entwickeln. So werden die Barrieren zwischen den verschiedenen Branchen und Sektoren der industriellen Produktion niedergerissen, die verschiedenen Betriebe »organisch« mit einander verbunden und direkt auf die landwirtschaftliche Produktion bezogen.

Die sozialistische Kooperation, der Austausch von Arbeiten, wirkt wiederum direkt zurück auf die innere Struktur eines Be­triebes und treibt die Revolutionierung voran. Gemüseverkäufe­rinnen von Verkaufsgenossenschaften gehen in Konservenfabri­ken arbeiten und diskutieren mit den Arbeitern ihre Vorschläge zu Qualitätsverbesserungen. Und die Arbeiter gehen an die Ver­kaufsstände, um mit den Kunden über ihre Produkte zu disku­tieren, und greifen Anregungen auf. Dadurch werden das büro­kratische System der Qualitätskontrolle, die Kontrolleure, die den Arbeitern im Nacken saßen, abgeschafft. Und das Ziel, Qualitätsprodukte herzustellen, wird in der assoziierten Arbeit von den Werktätigen selbst erreicht.

Die Revolutionierung der Betriebe und die sozialistische Koope­ration verschiedener Betriebe und Bereiche miteinander haben notgedrungen das Plansystem der sektoralen Zentralisierung ge­sprengt. Die Basiseinheiten (Betrieb, Schule, Verkaufsgenossen­schaften, Krankenhäuser) eines Kreises oder einer Stadt werden vom Revolutionsausschuß dieser Ebene untereinander koordi­niert und in einem Plan zusammengefaßt. Dabei sollen die Pro­bleme möglichst aus eigener Kraft gelöst werden. Ungleichge­wichte in der Wirtschaftsstruktur werden dann von der nächst­höheren Ebene - der administrativen Region - im regionalen Maßstab ausgewogen. Die gleiche Koordination und Gesamtpla­nung wird auf den nächsthöheren Stufen der Provinz und der Zentrale geleistet. So bleibt dieses gestufte System koordinierter Pläne für die unmittelbaren Produzenten überschaubar. Dieses System war in seinen Grundzügen von den Arbeitern und Bau­ern schon im Großen Sprung erkämpft worden. Während der Kulturrevolution haben sie dieses Plansystem wieder gefestigt und weiter ausgebaut.

Quelle: Walter Aschmoneit, Politökonomische Aspekte der Großen Proletarischen Kulturrevolution in China, in: Bettelheim u.a. China 1972, Westberlin 1972, S. 133-143