Lucio Magri – „Der Schneider von Ulm“.
Eine mögliche Geschichte der KPI
 
Buchempfehlung von Ulrich Leicht

07/2015

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„Der Schneider von Ulm“ hält für linke Gesellschaftskritiker mehr als der ungewöhnliche Titel des Buches erahnen lässt. Dieser ist angelehnt an eine Parabel von Bertolt Brecht. Aus seiner „Einleitung“ zu dem Buch wird deutlich, warum Luzio Magri dieses Brecht’sche Gedicht als Titel wählte. Er berichtet:

„Auf einer der überfüllten Versammlungen, auf der es um die Namensänderung der KPI ging, wurde Pietro Ingrao [einer der einflussreichsten und theoretischen Köpfe der Kommunistischen Partei Italiens; er wurde am 30. März diesen jahres1 100 Jahre alt (der Verf.)] von einem Genossen die Frage gestellt: ‚Glaubst du wirklich, dass, nach allem was geschehen ist und noch geschieht, eine große, demokratische Massenpartei, wie wir sie gewesen sind und noch immer sind und die wir erneuern und stärken wollen, um sie an die Regierung zu bringen, mit dem Wort kommunistisch noch definiert werden kann?‘ Ingrao, der ausführlich die Gründe für seine von Occhetto abweichende Meinung dargelegt und einen anderen Weg vorgeschlagen hatte, antwortete halb scherzhaft mit dem Gedicht von Bertolt Brecht: Der Schneider von Ulm. Jener Handwerker, der von der Idee besessen war, einen Apparat zu konstruieren, der dem Menschen das Fliegen erlaubte, ging in der Überzeugung, dass sein Werk gelungen war, eines Tages zum Bischof und sagte ihm: ‚Hier, ich kann fliegen‘. Der Bischof führte ihn auf den Kirchturm und forderte ihn auf, das zu beweisen. Der Schneider sprang und zerschellte natürlich auf dem Pflaster. Einige Jahrhunderte später, so der Kommentar von Brecht, gelang es den Menschen wirklich zu fliegen.

Ich stand dabei und fand die Antwort von Ingrao so scharfsinnig wie berechtigt. Wie viel Zeit, wie viele blutige Kämpfe, wie viele Fortschritte und wie viele Niederlagen hatte das kapitalistische System gebraucht in einem Westeuropa, das ursprünglich rückständiger und barbarischer war als andere Regionen der Welt -, um am Ende eine bis dahin unbekannte ökonomische Effizienz zu erreichen, sich neue, offenere politische Institutionen zu geben und eine rationalere Kultur? War nicht der Liberalismus über Jahrhunderte hinweg gekennzeichnet durch unvereinbare Widersprüche zwischen feierlich beteuerten Idealen (die allen gemeinsame, menschliche Natur, die Gedanken- und Redefreiheit, die vom Volk übertragene Souveränität) und einer Praxis, die diese Ideale ständig widerlegte (Sklaverei, Kolonialherrschaft, Vertreibung der Bauern vom Gemeindeland, Religionskriege)? Widersprüche in der Sache, aber im Denken legitimiert: dass an der Freiheit nur teilhaben könne und solle, wer aufgrund von Besitz und Bildung, ja aufgrund von Hautfarbe und Rasse die Voraussetzungen dafür besaß, von dieser Freiheit einen klugen Gebrauch zu machen; und damit war die Vorstellung verbunden, dass Besitz ein absolutes und unveräußerliches Recht sei und keinem allgemeinen Wahlrecht unterliege. Alles Widersprüche, die nicht nur die erste Phase eines geschichtlichen Zyklus belasteten, sondern in unterschiedlichen Formen wieder neu entstanden und nur aufgrund des Auftretens neuer gesellschaftlicher Subjekte und deren Opfer sowie von Kräften, die jenem System und jenem Denken entgegentraten, sich allmählich zurückbildeten. Wenn also die reale Geschichte der kapitalistischen Moderne weder linear noch eindeutig progressiv, vielmehr dramatisch und kostspielig gewesen ist, warum sollte es dann nicht auch der Prozess ihrer Überwindung sein? Das ist der Sinn des Lehrgedichts vom Schneider von Ulm.“


Lucio Magri hat auf den weiteren mehr als 400 Seiten seines Buches mit seinen Darlegungen, Analysen und auch Ausblicken auf eine „mögliche Geschichte der Kommunisten Italiens“ eine Menge beizusteuern zu der Frage, ob der, nach seinen ersten manchmal vielversprechenden Anläufen deformierte bzw. gescheiterte Kommunismus, zukünftig dennoch obsiegen könnte.

Dabei kann er sich auf die Erfahrungen eines reichen politisch-gesellschaftskritischen Engagements stützen.

Lucio Magri (1932 – 2011), Journalist und Politiker, mit Wurzeln im fragmentierten linken Jugend- und Arbeiterflügel der nach dem Kriege in seiner Heimatregion Bergamo dominierenden Democrazia Christiana (DC), trat in den 1950er Jahren der Kommunistischen Partei Italiens bei. 1969 wurde er zusammen mit Rossana Rossanda, Valentino Parlato, Luciana Castellina und anderen, u.a. wegen der Solidarisierung mit dem Prager Frühling und der Herausgabe der bekannten reformkommunistischen Tageszeitung „il manifesto“, eben des berüchtigten „Bruchs der Parteidisziplin“ aus der KPI ausgeschlossen. Magri und seine Gesinnungsgenossen gaben nicht klein bei, sammelten Kräfte um eine neu geschaffene „Partei der proletarische Einheit“ (PdUP), von Anfang an als eine „provisorische“, eine Erneuerung anstrebende und die vielfältigen linken Kräfte zusammenführende kommunistische Formation gedacht, deren Generalsekretär er u.a. war. 1984 löste sich diese Partei auch wieder in der KPI auf. Dem Niedergang und der endgültigen Auflösung der alten KPI im Jahre 1991 trat Magri im Weiteren nicht als konservative sondern innovative Speerspitze entgegen und gehörte zu den Protagonisten und Initiatoren des Projekts der kommunistischen Neugründung (Partito della Rifondazione Comunista – PRC). Schließlich zog er sich nach wenigen Jahren von diesen Aktivitäten wie auch von seinem politischen Engagement im Parlament zurück. Zwar blieb er nicht untätig und wirkte noch einmal in den Jahren 1999 bis 2003 an dem Journal „La rivista del manifesto“ in zweiter Folge mit, wo Mitglieder der ersten „Manifesto“ –Gruppe und damals in der PCI verbliebene Genossen wie Petro Ingrao oder Aldo Tortorella zusammen publizierten.

Letztlich aber zweifelte er immer mehr, sich weiter erfolgreich an einer Wiedergeburt der Linken beteiligen zu können. „Es wird geschehen, aber es wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen und darin kann ich meine Rolle nicht finden.“

Nur gut, das er diese seine Rolle zumindest in der Weise doch noch fand, dass er uns seine politischen Erfahrungen in dem schließlich 2009 erschienenen Buch „Il sarto di Ulm„ aufgeschrieben hat.
„Ein substanzielles Werk, keine Autobiografie, vielmehr eine Erforschung des italienischen Kommunismus, nicht ohne Berücksichtigung seines internationalen Hintergrundes, eine gedankenvolle Reflexion, vielleicht die einzige, die über die größte Kommunistische Partei im Westen, über die Gründe ihrer Erfolge und ihres schließlichen Endes geschrieben worden ist.“

So das Urteil seiner jahrzehntelangen Mitstreiterin Luciana Castellina, die für das nun 2015 in deutscher Übersetzung beim Argument-Verlag herausgegebene Buch eine biografische Einleitung zu dem „kritischen und leidenschaftlichen Beobachter“ Lucio Magri beigesteuert hat.

Eine hilfreiche und interessante Hinführung zu Magris politischem Wirken und einen Überblick über die Themen der 22 Abschnitte des Buches bringt das Vorwort eines langjährigen Kenners der Entwicklung Italiens und seiner Linken, dem in Urbino lebenden deutschen Soziologen Peter Kammerer.

Zu Beginn zitiert er die brisante im 7. Kapitel – „Der Fall Italien“ – von Lucio Magris aufgeworfene und im Buch dann ausführlich erörterte Frage: „‘Wie war es möglich, dass eine Kraft wie die KPI, die in den 60er Jahren zur Reife gelangt war und sich im Aufstieg befand, die ein eigenständiges, ambitioniertes Projekt verfolgte, nach jahrelangen Erfolgen zu verfallen begann und sich am Ende selbst auflöste?‘ Denn das Ende der größten kommunistischen Partei des Westens im Februar 1991 war rasch und ruhmlos. Mit ihr verschwand nicht einfach eine politische Partei. Ein ganzes Erbe an sozialen und kulturellen Erfahrungen, an pragmatischer Klugheit und utopischer Energie wurde verschleudert“ (S. XV)

Am Ende seines Vorworts an die deutschen Leser macht uns Kammerer mit Aussagen aus einer der letzten öffentlichen Äußerungen Magris bekannt, die ein Jahr nach seinem Tode 2012 publiziert wurden (Lucio Magri, Alla ricerca di un altro comunismo, hgg. v. Luciana Castellina, Famiano Crucianelli, Aldo Garzia, Mailand 2012, 109.): „War zum Zeitpunkt dieser Erkenntnis [1981] die KPI noch eine ‚andere‘ Partei und wäre sie fähig gewesen, sich und die italienische Politik zu erneuern? Lucio Magri, damals Parteisekretär einer kleinen Linkspartei, der PdUP, glaubte an diese Möglichkeit. In seinem letzten Interview schildert er die Gründe für die Rückkehr der PdUP in die KPI, die ‚mit der Wende Berlinguers wichtige Punkte korrigierte, die 1969 zum Ausschluss der Manifesto-Gruppe geführt hatten. Die moralische Frage, die Auseinandersetzung bei FIAT und das Referendum zur scala mobile, der Bruch mit der Sowjetunion, die internationale Lage und die Abrüstung, die Begegnung mit Brandt, Palme und Kreisky, der neue Feminismus sind alles Kapitel einer strategischen Wende, die unsere Wiederbegegnung mit der KPI möglich machten. Berlinguer verfügte über eine sehr große Zustimmung in der Partei und in der italienischen Gesellschaft, war aber in der Führungsgruppe in der Minderheit und nach seinem Tod begann schon auf dem Parteitag von 1986 eine Abkehr von seiner Linie.‘
Die ‚Wende‘ Berlinguers, von der Parteiführung nicht mitgetragen, vom Parteivolk weitgehend als bloß moralischer Appell missverstanden, war eine noble Illusion. Auch der kurz nach dem Tod Berlinguers vollzogene Wiedereintritt Magris, der in die Parteiführung der KPI kooptiert wurde, erwies sich als Illusion. Die Nachfolger Berlinguers, Natta und Occhetto, verfügten zwar über einen großen, dem Amt und dem Charisma eines kommunistischen Parteisekretärs geschuldeten Handlungsspielraum. Wie dieser sich im Taktieren und in Intrigen erschöpfte, beschreibt das Schlusskapitel von Der Schneider von Ulm. In ihm fragt Magri auch ‚nach dem Anfang vom Ende der KP!‘ und nennt die Jahre 1979 (Ende des Historischen Kompromisses), 1984 (Tod Berlinguers) und natürlich 1989, als der Parteisekretär Occhetto einen Namenswechsel der Partei vorschlug. Man könnte oder sollte auch weiter zurückgehen: 1976, als Berlinguer sich ohne sichtbare Gegenleistung für fast vier Jahre den Christdemokraten anvertraute, Ende der 60er Jahre, als die Partei die Hegemonie über die Bewegungen verlor usw. Diese und andere Wendepunkte ‚wirkten nacheinander auf die schlecht diagnostizierte und ebenso schlecht behandelte Krankheit‘ (Magri) der Partei. Wahrscheinlich war deren politische Triebkraft bereits in den 70er Jahren erloschen. Als Magri 1984 m die Partei zurückkehrte, war sie ein toter Stern, dessen Licht aber noch zu sehen war.
Wir haben bei der Lektüre dieses Buches einen eigenen Weg eingeschlagen auf der Suche nach den inneren Gründen für die Auflösung der Kommunistischen Partei Italiens. Die Politik der italienischen Parteien, insbesondere der Christdemokraten, die wirtschaftliche Situation und die internationale Lage haben wir dabei weitgehend außer Acht gelassen. Lucio Magri liefert dazu reichlich Material, das er eingehend interpretiert. Jeder Leser kann sich durch diese Fülle einen eigenen Lesepfad bahnen. Er wird dabei etwas von dem Schmerz spüren, der Magri dazu getrieben hat, dieses Buch zu schreiben. Es ging ihm darum, die Erfahrung und Analyse der Niederlage nicht auch in den Händen der Sieger zu lassen. Sondern sie für die Besiegten zu bewahren.“ (Seiten XXII-XXIII)

Und auf diesem „Lesepfad“ begegnet uns ein besonderes Vermächtnis Lucio Magris, ein fast 30 Jahre altes Dokument, ein im Anhang des Buches abgedrucktes, in der Auseinandersetzung um die Neuausrichtung der italienischen Kommunisten formuliertes Manifest mit dem Titel: „Eine neue Kommunistische Identität“, aus dem wir hier auf LabourNet Germany eine Leseprobe abdrucken .

Magri selbst schreibt dazu: „Die Enttäuschung darüber [das Ende der KPI – der Verf.] werde ich nicht los, denn die Realität der Geschichte muss anerkannt werden, wie sie ist. Aber in diesem Fall sei der Versuch gestattet, sich eine >kontrafaktische Geschichte< vorzustellen, eine Geschichte, wie sie hätte sein können. Kontrafaktische Geschichte ist kein Spiel mit den Erfahrungen späterer Zeiten. Sie muss sich mit der jeweiligen Situation und den bereits wirksamen Ideen befassen, sodass man sich hypothetisch vorstellen kann, was hätte geschehen können, aber nicht geschah.
So ist es an diesem Punkt legitim, noch einmal die Frage zu stellen, ob in den 1980er Jahren noch eine Möglichkeit für die KPI bestand, den Zusammenbruch zu vermeiden. Besaß sie noch ein ungenutztes und nunmehr nutzbares kulturelles Erbe (ich meine damit das Gramsci Genom), auf das sie zurückgreifen konnte? Waren die Widersprüche und Kräfte damals reif genug (ich meine die bereits vor sich gehende neoliberale Globalisierung), um sie als Hebel zu nutzen und statt der Liquidierung eine kommunistische Neugründung in Angriff zu nehmen? Ich denke ja. Um nicht wie ein Verrückter oder ein Visionär dazustehen, greife ich zu einem kleinen Hilfsmittel: Ich füge diesem Buch als Anhang den Hauptteil eines Papiers von 1987 bei, an dem ich nichts geändert habe. Es ist kein persönlicher Text, sondern sollte als Grundlage für einen kollektiven Antrag dienen, den wir auf dem XVIII. Parteitag als Alternative zu Occhettos Vorschlag einbringen wollten. Zwei Jahre später wurde das Papier noch einmal hervorgeholt und in die Plattform eingefügt, die die Generalversammlung der Nein-Front – ein Drittel der KPI – diskutierte und beschloss. Danach verschwand es wieder in einer Schublade. Da lag es sicher gut, denn zwanzig Jahre später kommt es zumindest mir kaum gealtert vor.“ (S. 404)

Die Leseprobe wird verdeutlichen, das Magris Darlegungen nicht nur von historischem sondern durchaus auch von aktuellem Interesse und von Bedeutung für linkes Engagement heute sein können.

Lucio Magri
Der Schneider von Ulm
Eine mögliche Geschichte der KPI

Argument Verlag

Berliner Beiträge zur kritischen Theorie Band 15
460 Seiten • Gebunden mit Lesebändchen • ISBN 978-3-86754-106-0 •

46 € [D]

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Rezension vom Autor für diese Ausgabe. Sie wurde erstveröffentlicht bei labournet.de

Ein Auszug aus dem 21. Kapitel des Buches „Das Ende der KPI“, zur sogenannten „Wende von Bologna“ findet sich online auf der homepage der „Jungen Welt“ vom 22.12.2014 (nur im Abo)

Für den Herbst ist eine Veranstaltung mit Peter Kammerer zu Magris Buch vom RL-Club in Dortmund vorgesehen. Wir erinnern zu gegebener Zeit daran.

Der Autor, Ulrich Leicht, Rentner, Industriebuchbinder, langjähriger BR-Vorsitzender, gesellschaftskritischer Aktivist in der IG-Druck, IG Medien, zuletzt ver.di und bei der Gewerkschaftslinken; u.a. Vorstandsmitglied bei Labournet.de, InkriT-fellow und Mitglied im Berliner Verein zu Förderung der MEGA-Edition e.V.