Es wird vom
Bestimmten ausgegangen: dies und jenes ist not
wendig, aber wir begreifen die Einheit dieser Momente
nicht; diese fällt in Gott Gott ist also
gleichsam die Gosse, worin alle die Widersprüche
zusammmenlaufen." Hegel über Leibniz.
1.
Der Kampf um die Ausbildung der
Dialektik ist das theoretische Zentral-problem
der klassischen Epoche der deutschen Philosophie und Literatur,
der Epoche von Lessing bis Hegel. Die deutsche Philosophie und
Literatur steht dabei auf den Schultern der
englisch-französischen Entwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts,
tritt das Erbe ihrer Errungenschaften an, entwickelt ihre
Probleme in der Richtung auf Dialektik — idealistische Dialektik
— weiter. Während der Hauptzweig der englisch-französischen
Entwicklung der materialistischen Philosophie von Locke
ausgehend über Holbach-Heivetius wieder nach England, zum
„Utilitarisinus" Benthams führt(1),
entstand in Deutschland eine „siegreiche und' gehaltvolle
Restauration" der Metaphysik des 17. Jahrhunderts, der
Philosophie von Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz.(2)
Das philosophisch Bedeutsame dieser Entwicklung ist die
Herausbildung der dialektischen Keime, Andeutungen, Ansätze der
älteren Philosophie bis zu jenem Gipfelpunkt der idealistischen
Dialektik, die das Lebenswerk Hegels vorstellt. Diese
Entwicklung entfernt sich einerseits immer stärker von den
materialistischen Elementen, die siet als Erbe übernimmt,
obwohl, wie wir sehen werden, diese Entfernung bei vielen
bedeutenden Vertretern der deutschen Entwicklung keineswegs so
eindeutig und hundertprozentig ist, wie dies die bürgerliche
Philosophiegeschichte darzustellen pflegt. Andererseits bildete
sie, freilich in idealistischer (und darum abstrakter und
verzerrter) Form, die „tätige Seite" der Philosophie aus, die
der alte „anschauende" Materialismus vernachlässigt hat,
vernachlässigen mußte.
Wenn wir nun Goethes Stellung in
dieser Entwicklung, wenn auch nur andeutend, bestimmen wollen,
so müssen wir zweierlei berücksichtigen. Erstens die allgemeine
ökonomische Zurückgebliebenheit Deutschlands im Vergleich zu
England und Frankreich, die eine entsprechende politische
Zurückgebliebertheit zur notwendigen Folge hatte Diese
Zurückgebliebenheit verhinderte nicht, wie Engels (Brief an C.
Schmidt, 27. Oktober 1890) schreibt, „daß ökonomisch
zurückgebliebene Länder in der Philosophie doch die erste
Violine spielen können", so Deutschland! in der von uns
behandelten Periode. Diese eigenartige Lage, verursacht durch
die ungleichmäßige Entwicklung, spiegelt sich widerspruchsvoll
sowohl in den Einwirkungen der ökonomisch-politischen
Rückständigkeit, wie in den Konsequenzen, die philosophisch aus
der internationalen Entwicklung der Periode (französische
Revolution, Napoleon, industrielle Entwicklung in England,
Errungenschaften in der Naturwissenschaft usw.) gezogen Wurden.
Zweitens die besondere Problemlage der philosophischen
Zentralfragen, die diese Entwicklung als Erbe übernahm und den eigenen,
klassenmäßig bestimmten Bedürfnissen entsprechend bearbeitete.
Wir müssen uns hier auf die Zentralfragen beschränken und sind
demgemäß gezwungen, die sehr vielseitige (und noch wenig
erforschte) Situation stark vereinfacht darzustellen. Die
deutsche Philosophie dieser Zeit — und mit ihr Goethe — fand
zwei im Grunde entgegengesetzte, in vielen konkreten Fällen
jedoch ineinander übergehende Lösungsversuche des zentralen
dialektischen Problems, der Frage des
Widerspruchs,
vor. Der erste Typus dieses Lösungsversuchs war der der
Antinomie.
Die Widersprüche traten in Natur und Gesellschaft so kraß
hervor, daß es ehrlichen und einigermaßen konsequenten Denkern
immer unmöglicher würde, sie nicht festzustellen. Daraus mußten
nicht immer philosophische Konsequenzen gezogen werden. Es
konnte sehr wohl geschehen, wie es z. B. in der klassischen
Philosophie Englands geschah, daß die anti-nomischen Tatbestände
mit rücksichtsloser Energie herausgearbeitet wurden, ohne aus
ihrer Unvereinbarkeit entsprechende Folgerungen zu ziehen.(3)
Es war aber auch möglich, diese Widersprüche klar
herauszuarbeiten, auf eine philosophische Höhe der Abstraktion
zu erheben und in den ungelösten und als unlösbar aufgefaßten
Antinomien die
Grenze
der menschlichen Erkenntnis zu erblicken; Kants „Kritik der
reinen Vernunft" ist besonders typisch für diesen
Lösungsversuch, wobei hier der
agnostizistische
Charakter der als unlösbar fixierten Widersprüche (Freiheit —
Notwendigkeit usw.) besonders klar hervortritt. Neben dieser
agnostizistischen Seite ist für diesen Typus der Lösungen
besonders charakteristisch, daß diese Auffassung der
Wirklichkeit das Werden, die Geschichte — philosophisch — nicht
zu bewältigen vermag, selbst dann nicht, wenn in
Einzelgesetzmäßigkeiten in Natur oder Geschichte der historische
Charakter entdeckt und energisch hervorgehoben wird (Kants
Astronomie). Der zweite Typus versucht, in irgendeiner Weise zu
der
Einheit der
Widersprüche
vorzustoßen. Dieser Vorstoß geht aber, gerade bei den
folgerichtigen Vertretern dieser Richtung, ins Transzendente,
ins Jenseitige. D. h. es wird von innen das dialektische
Problem
als lösbar anerkannt. Das Zusammengehören der Gegensätze und
die Forderung, diese Zusammengehörigkeit, diese Einheit, dieses
Zusammenfallen der Widersprüche als Problem, ja als zentrales
Problem der Philosophie zu stellen, wird zugegeben. Die Einheit
der Widersprüche wird jedoch — in mystischer Weise — ins
Jenseits, in Gott verlegt. J. G. Hamann, der auf Goethe in
seiner Jugend einen entscheidenden Einfluß ausübte, war
vielleicht der prägnanteste Vertreter dieser Richtung im
damaligen Deutschland, wobei gerade bei ihm auch die alten
Traditionen dieser Tendenz(4)
klar zum Ausdruck kamen. Goethe selbst war zu dieser
Problemstellung auch dadurch vorbereitet, daß er — nach seiner
Rückkehr nach Frankfurt von der Leipziger Universität — sich
eingehend mit der Naturphilosophie der Renaissance,
insbesondere mit deren' mysitischen Abzweigungen (Paracelsus
usw.), befaßte.
Es wäre eine zu große Vereinfachung des Problems, wenn wir die
erste Tendenz, die im französischen Materialismus (wenn auch
freilich nicht mit ihren deutschen Konsequenzen) stark vertreten
war, als progressiv, die zweite als reaktionär bezeichnen
würden. Insbesondere in Deutschland mischen sich sowohl
progressive und reaktionäre Elemente in beiden Richtungen, und
es findet eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen beiden
Tendenzen statt. Dies kommt in
der Frage
Idealismus gegen Materialismus
am deutlichsten zum
Vorschein. Wie bereits hervorgehoben wurde, geht der Hauptstrom
der Entwicklung auf die Dialektik zu in idealistischer
Richtung, u. z. in der Richtung vom Materialismus weg. Die
schwankend-agnostizistische Stellungnahme von Kant in der Frage
des Dinges an sich schlägt bei Fichte in einen klaren
subjektiven Idealismus um, im engsten Zusammenhang mit dem
Versuch, gerade die Lehre von den Antinomien in eine Lehre von
der Einheit der Widersprüche, in eine Dialektik, umzuwandeln.
Andererseits ist die transzendent-dialektische Tendenz, bei
aller „Gotterfülltheit" ihrer letzten Konsequenzen im Kampfe
gegen Agnostizismus, subjektiven Idealismus usw., gezwungen,
sich — wenigstens teilweise und vorübergehend — gewissen
materialistisehen Feststellungen anzunähern. So bekämpft z. B.
Hamann das Mendelssohnsche idealistische Trennen von
„Wahrheitsgründen" und „Bewegungsgründen", ebenso die Kantsche
Trennung von Verstand und Sinnlichkeit.(5)
Ueberhaupt ist ein Zurückgehen auf einen — stellenweise —
materialistisch gefärbten Empirismus für diese ganze Richtung
kennzeichnend. Die Schwierigkeit hierbei, scharfe Grenzen zu
ziehen, wird noch dadurch gesteigert, daß — infolge der
Zurückgebliebenheit Deutschlands — der philosophische Kampf
sich nicht klar zwischen Materialismus und Idealismus abspielt,
sondern solche Probleme in den Mittelpunkt gerückt werden, bei
denen eine ganz klare Frontstellung von vornherein sehr
erschwert ist. Das bezeichnendste — und auch für Goethe selbst
charakteristischste — Problem dieser Art ist der
Pantheismus.
Die von Spinoza übernommene Fragestellung von der Einheit von
Gott und Natur kann ebenso ein Weg zum Materialismus, wie ein
Weg vom Materialismus
weg
sein. Beim späten Lessing war es z. B. ohne Zweifel der erstere,
insbesondere, wo er sich aufs heftigste gegen die idealistische
Konzeption der Priorität des Bewußtseins dem Sein gegenüber
wehrt. „Es gehört", sagt Lessing(6),
„zu den menschlichen Vorurteilen, daß wir den Gedanken als das
Erste und Vornehmste betrachten, und aus ihm alles herleiten
wollen; da doch alle, die Vorstellungen mit einbegriffen, von
höheren Prinzipien abhängt". Allerdings stellt sich sogleich —
sehr charakteristischerweise — heraus, daß dieses „höhere
Prinzip" höher ist, als sowohl Gedanke wie Ausdehnung, Bewegung
(also Materie). Bei Sendling kann man einen umgekehrten Weg
beobachten.
2.
Für Goethes Stellung ist hier eine — mit mehr oder weniger
Schwankungen festgehaltene —
Zwischenstellung
charakteristisch. Er grenzt sich stets mit ziemlicher
Entechiedenheit vom philosophischen Idealismus ab. Diese
Abgrenzung wird von ihm unbekümmert um persönliche Freundschaft
und sachliche Zusammenarbeit stets scharf ausgesprochen. So
stets gegen F. H. Jacobi; so auch gegen Schiller. Goethe faßt z.
B. den Unterschied zwischen seiner und Schillers schöpferischer
Methode so zusammen: „Es ist ein großer Unterschied,
ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im
Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht
Allegorie, wo das
Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt;
die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie..."
(Sprüche in Prosa, IV. Abt.) Aber diese Abgrenzung, dieser
Unwille, den Weg zur Dialektik durch den Idealismus hindurch zu
gehen, bedeutet bei Goethe keineswegs eine entschieden
materialistische Stellungnahme. Zwar sind seine Beziehungen zur
materialistischen Philosophie des 17. bis 18. Jahrhunderts viel
enger, als er es selbst in „Dichtung und Wahrheit" in sehr
entstellter Weise schildert(7),
er ist aber niemals weiter als bis zu einer Zwischenstellung
zwischen Materialismus und Idealismus gekommen. So schreibt er,
nach Entdeckung seines „Naturaufsatzes aus den achtziger Jahren
an den Kanzler Müller: „Weil aber die Materie nie ohne Geist,
der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so
vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich's der
Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen ..." (24. Mai
1828.) Daß es skh dabei um eine Zwischenstellung handelt, zeigt
sich darin, daß Goethe gerade diese Anschauung wiederholt ganz
scharf vom Materialismus abgrenzt. In seiner „Campagne in
Frnkreich" (Abschnitt: Pempelfort, November 1792) nennt er seine
Weltanschauung „Hylozoismus" und sagt von ihr: sie „macht mich
tinempfinidülich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine
tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als
Glaubensbekenntnis aufstellte".
Es handelt sich hierbei für Goethe darum,
zwischen
Materialismus und Idealismus einen Weg zu finden, der ihm
gestattet, seine entwicklungsgeschicht-lAchen Resultate, so weit
es die
unmittelbaren
Forschungsbedürfnisse bedürfen dialektisch zu formulieren, also
sich von den Fesseln des mechanischen Materialismus zu
befreien, ohne deshalb die kühnen und oft verstiegenen
Konstruktionen des Idealismus mitmachen zu müssen. Dieses
Tagesbedürfnis seiner wissenschaftlichen Arbeit steht jedoch
mit seinen dichterischen und weltanschaulichen Bedürfnissen in
engem Zusammenhang. Dichterisch vertritt Goethe — mit
zeitweiligen Schwankungen — eine realistische Linie. Er will
also die Anforderungen des dichterischen Idealismus (Schiller,
Romantik) sich vom Leibe halten. Andererseits grenzt er sich
sehr scharf vom kriecherischen, photographischen Realismus
seiner Zeitgenossen, die bloß die Enge und Zurückgebliebenheilt
des bürgerlichen Lebens in Deutschland w,derspiegeln (Iffland),
ab, ohne aber den kühnen Realismus der französischen und
englischen Bourgeoisie — insbesondere mit vorrückendem Alter —
anders als mit wohlwollendem Interesse zu verfolgen (Diderot,
Balzac usw.). Eine ähnliche Zwischenstellung versucht nun Goethe
auch als Naturforscher einzunehmen. D. h. seine Praxis geht
entschieden auf die Entdeckung von Entwicklungsgesetzen aus
(Zwischenknochen bei Mensch und Tier aus Vorstufe des
Darwinismus usw.), seine Sympathien stehen stets auf der Seite
des allmählichen Eindringens der dialektischen Behandlung der
Naturwissenschaft (Geoffroy de St. Hilaire), auf der Seite der
Ueber-windung des Mechanismus (gegen Linné, gegen Couvier). Er
verfällt dabei nicht in den Fehler der idealistischen
Dialektiker, die, mit Ausnahme von Hegel, auf ihre
mechanistischen Vorgänger unkritisch und unhistorisch herabsehen
(Schelling: „Ich verachte Locke.").
Aber er war bei
laledem
nicht imstande, den Mechanismus in seiner Betrachtungsweise
dialektisch „aufzuheben". Er betrachtete ihn vielmehr als eine
neben
der seinen bestehende, zwar beschränkte, aber trotzdem —
innerhalb bestimmter Grenzen — berechtigte Betrachtungsweise.
Seine Methodologie geht also darauf aus, die Gleichberechtigung
der eigenen Auffassung neben der mechanischen durchzusetzen,
wobei er zumeist die Anschauung vertrat, es handle sich um zwei
„ewig menschliche" Typen, die einander gegenseitig ergänzen
können und im Vermeiden von Fehlern behilflich sein können. „Da
nun beide Vorstellungsweisen ursprünglich sind und sich einander
ewig gegenüberstehen werden, ohne sich zu vereinigen oder
aufzuheben, so hüte man sich ja vor aller Controverse und stelle
seine Ueberzeugungen klar und nackt hin." (Ueber
Naturwissenschaft).
Diese Anschauungsweise macht bei Goethe selbstredend eine lange
Ent» wicklung durch. Anfangs zeigt sie sich rein empiristisch,
weist mit einem gewissen Stolz jede philosophische
Verallgemeinerung zurück. Noch in einem Brief an Schiller (6.
Januar 1798) spricht Goethe von dem „philosophischen
Naturzustande", in dem er sieh befindet und befinden will. Dies
ist aber vor allem seine
Abwehrstellung,
sowohl gegen den Idealismus von Kant—Fichte, wie gegen den
ausgesprochenen Materialismus. Denn sobald die deutsche
Philosophie — mit der „Kritik der Urteilskraft" und vor allem
mit der Naturphilosophie des jungen Schelling — eine für das
Goethesche weltanschauliche Kompromiß angemessene Fundierung
findet, versch'ebt sich seine Stellungnahme sehr stark. Immerhin
schreibt Hegel
noch 1807 (23. Mai)
an Schelling über Goethes Farbenlehre: „.. er hält sich aus Haß
gegen den Gedanken, durch den die anderen die Sache verderben,
ganz ans Empirische, statt über jenen 'hinaus zu der anderen
Seite von diesem, zum Begriffe zu übergehen, welche etwa nur zum
Durchschimmern kommen wird." Dieser Empirismus Goethes ist aber,
wie er selbst sagt, „eine zarte Empirie die sich mit dem
Gegenstand identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie
wird... Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische
schon Theorie" (Sprüche in Prosa, IV. Abt.). Der dialektische
Charakter dieser „zarten Empirie" ist offensichtlich. Sie ist
aber doch nur ein Vorstoß in der Richtung auf Dialektik, der auf
dem halben Wege stehen bleibt. Dieses Stehenbleiben auf dem
halben Wege ist sehr tief in Goethes Wesen verankert. Sein
„Empirismus", auch wenn er in einen Pantehismus weltanschaulich
eingerahmt ist, hat bei ihm eine ähnliche Funktion, wie — seit
dem 17. Jahrhundert — der Agnostizismus, der „verschämte
Materialismus" (wie Engels sagt): alles, was für die
unmittelbare Forschungsarbeit notwendig, ist aus dem
Materialismus, aus den aufkommenden dialektischen Tendenzen
auszuschöpfen, Gott und die Theologie von diesem Gebiete
fernzuhalten — aber auch hier, ohne es auf einen offenen
weltanschaulichen Kampf ankommen zu lassen. Die „Kritik der
Urteilskraft" bietet nun für diese Art von Kompromiß ganz andere
Handhabe als die Vernunftkritik. Ihr Begriff der „anschauenden
Vernunft", bei Kant sehr vorsichtig als „regulative Idee", als
Erkenntnisweise, die dem Menschen versagt ist, gefaßt, gibt eine
Perspektive auf die Zusammengehörigkeit der
antinomischen Pole, ohne sie wirklich in lebendigem
Wechselverhältnis zu er blicken und zugleich, ohne ihre Einheit
in
offen
eingestandene Mystik aufzulösen. Es ist ein „zarter"
Agnostizismus.
3.
Es ist kein Wunder, daß Goethe gerade durch
dieses
Buch in der philosophischen Formulierung seiner
naturwissenschaftlichen Tendenzen bestärkt wurde („Einwirkung
der neuen Philosophie", „Anschauende Urteilskraft").
Insbesondere als Schelling diese Erkenntnisweise mit der
„intellektuellen Anschauung" in den Mittelpunkt der
philosophischen Debatte rückte. Goethe, der keinem
zeitgenössischen Denker näher stand, als gerade Schelling, ist
es dadurch erst möglich geworden, zu seinem ursprünglichen
Ausgangspunkt zurückzukehren:
die
Einheit der Gegensätze, die durch die „intellektuelle
Anschauung"
erfaßt
wird, aus seinen Einzelforschungen organisch herauswachsen zu
lassen, sie als Wesen der Natur zu fassen, die Einheit der
Naturerscheinungen als Bewegung, als „Metamorphose", zu
formulieren, den mystisch-agnostizisti-schen Horizont seiner
Gesamtanschauung philosophisch zu begründen. Es ist hier nicht
möglich, über den „aufrichtigen Jugendgedanken Schellings" (Marx
an Feuerbach. 20. Oktober 1843) ausführlich zu sprechen,
ebensowenig wie die Sympathie und die vielfache Uebereinstimmung
Goethes mit ihm dokumentarisch zu belegen'. Ich verweise bloß
darauf, daß sogar der Plan eines gemeinsamen Gedichts über die
Natur aufgetaucht ist (Goethes Brief an Knebel, 1799, Caroline
an Schelling, 1800 usw.). Denn das für uns Entscheidende, die
Verwandtschaft in der Auffassung der dialektischen Probleme,
ist
zu augenfällig. Der zentrale Punkt bleibt dabei: Anerkennung
der Widersprüche als Grundlage des Aufbaus der Wirklichkeit und
Auffinden eines Punktes, wv diese Widersprüche aufgehoben
werden. Die Weiterführung der „Kritik der Urteilskraft" seitens
des jungen Schelling, die Auffassung der — mystischen —
„intellektuellen Anschauung" als Organ, mit dessen Hilfe ihre
Einheit erblickt wird, hat drei wichtige Folgerungen. Erstens
bedeutet die Aufhebung der Gegensätze das „Auffinden" einer
Sphäre, wo die Gegensätze, die Widersprüche,
ausgelöscht ~
nd;
die Einheit der
Gegensätze ist ihre absolute Identität.(8)
Zweitens ist diese Sphäre der Einheit der Gegensätze von den in
der Wirklichkeit vorgefundenen Widersprüchen durch eine Kluft
getrennt, die nur durch einen Sprung, durch die mystische,
„intellektuelle Anschauung" genommen werden kann; die Einheit
hegt zwar als
(mystischer)
Grund den erscheinenden
Widersprüchen
zugrunde, ist aber mit ihnen nicht vermittelt: die Welt der
Widersprüche und die Welt der Einheit stehen einander noch
immer
schroff
und
unvereinbar gegenüber, die Widersprüche erstarren zu Polaritäten
und die Einheit wird eine
mystische.
Drittens — um für
dieses
mystische „Organ" der Erfassung der Einheit doch einen empirisch
aufweisbaren Beweis zu haben — erhält die
Kunst
die Funktion,
die
Realität der „intellektuellen Anschauung" nachzuweisen.(9)
Es wäre freilich eine starke Uebertreibung, Goethe infolge
seiner Uebereinstimmung mit Schelling in diesen wichtigen
methodologischen Fragen einfach als Schellingianer zu
bezeichnen. Nein. Er vertritt — auf Grundlage dieser
Uebereinstimmungen, die auf seinen alten Tendenzen beruhen —
hier eine ganz
besondere Nuance. Diese abweichende Schattierung beruht darauf,
daß er weltanschaulich den Schellingschen Affirmativen, über
das Wesen des Universums positive Aussagen machenden Mystizismus
in einen mystischen Agnostizismus verwandelt. Die mystische
Einheit der Gegensätze bleibt ein mystischer Horizont seiner
Weltanschauung, die ihm einerseits gestattet, die Schellingsche
Methode der
Konstruktion
nicht mitzumachen, der Empirie näher zu bleiben;
(10)
er nimmt also eine Zwischenstellung zwischen der „Kritik der
Urteilskraft" und Schellings Identitätsphilosophie ein.
Andererseits gestattet diese Zwischenstellung ihm zugleich,
sowohl die immer reaktionärer werdende Entwicklung der
Schellingschen Philosophie nicht mitzumachen, also ihre
materialistischen und dialektischen Ansätze, wenn auch nur als
Ansätze, zu bewahren,(11)
wie seine pantheistische Stellungnahme auch weiterhin gegen die
Religion „versöhnlerisch" zu halten. Es ist zwar ganz richtig,
was Engels über Goethe ausführt: „Goethe hatte nicht gern mit
„Gott" zu tun; das Wort macht ihn unbehaglich, er fühlte sich
nur im Menschlichen heimisch . . ." (Werke II., 428), aber die
daraus folgende „Emanzipation der Kunst aus den Fesseln der
Religion" vollzog er doch nicht nur ohne offenen Kampf gegen
die Religion, sondern sogar mit Duldsamkeit ihr gegenüber,
soweit sie sich nicht in seinen Bereich mischt. Diese Linie ist
bei Goethe durchgehend. So nennt er zur Zeit der eifrigsten
Spinozastudien Spinoza den „allerchristlichsten" Fhilosophen (an
F. J. Jacobi, 9. Juni 1785). So grenzt er im späten Alter die
Gebiete folgendermaßen ab: „Als Dichter und Künstler bin ich
Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher . . . bedarf
ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch,
so ist dafür auch gesorgt" (an Jacobi 6. Januar 1813). Und diese
Duldsamkeit ist kein einfaches „Kompromiß nach außen", sondern
eine logische Folge des Agnostizismus, der in seiner „zarten
Empire" mit mystisch panthe-istischem Horizont steckt. Man lese
bloß das folgende Glaubensbekenntnis Fausts, das sicherhch die
tiefsten Ueberzeugungen von Goethe ausdrückt, mit
der sehr charakteristischen Replik Gretchens, wobei die in
dieser Replik unzweifelhaft verborgene Ironie unsere
Feststellung keineswegs aufhebt:
Margarete: Glaubst du an Gott?
Faust: Mein Liebchen, wer darf sagen:
Ich glaub an Gott?
Magst Priester oder Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint: nur Spott
Ueber den Frager zu sein.
Margarete: So glaubst du nicht?
Faust: Misshör mich nicht, du holdes Angesicht.
Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub ihn.
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: Ich glaub ihn nicht?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht hier unten fest?
Und steigen freundlich blickend
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau ich nicht Aug' in Auge dir,
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir,
Und webt im ewigen Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll' davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn' es dann, wie du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.
Margarete: Das ist alles recht schön und gut;
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,
Nur mit ein bißchen anderen Worten."
4.
Diese Position Goethes bestimmt seine Stellungnahme zur
entwickeltsten Form der dialektischen Methode, zur Philosophie
Hegels. Goethe und Hegel standen einander zeitlebens persönlich
nahe und schätzten einander gegenseitig sehr hoch ein. Und diese
Freundschaft hatte auch eine — übrigens nie ausgesprochene —
Grundlage in der sehr ähnlichen Stellungnahme zu den großen
internationalen Ereignissen ihrer Zeit: zur Periode Napoleons
und seines Sturzes. Beide sahen im napoleonischen' Frankreich
das staatliche und gesellschaftliche Ideal, das ihrer
Klassenposition (der Großbourgeoisie als Führerin einer
gesamitbürgerlichen Bewegung) entsprach; beide lehnten den
deutschen „Freiheitskrieg" mit seinem patriotischen Aufschwung
kühl ab; beide standen im Grunde ablehnend zu den
Restaurationsideologien der Romantik — allerdings nicht ohne daß
sie beide viel aus der Romantik ihrem Denken angeeignet hätten
usw. Jedoch hinter dieser verwandten Grundhaltung ist zugleich
eine scharfe Differenz sichtbar. Goethe lehnte die französische
Revolution leidenschaftlich ab; dadurch wurde Napoleon in
seinen Augen bloß zum Ueberwinder, nicht aber zum Erben der
französischen Revolution; sein Bild erhielt damit etwas
„Irrationales", „Dämonisches", wie Goethe zu sagen pflegte. Bei
Hegel hingegen gehörte die französische Revolution notwendig in
den Stufenbau der Geschichtephitosophie hinein und war
dementsprechend für das ganze System Hegels ein
notwendiges
Moment der Entwicklung; freilich mit der Beschränkung, daß für
den reifen Hegel die französische Revolution' als
Vergangenes
(das in Deutschland nicht zur Gegenwart werden kann) diese Rolle
erhielt.
Immerhin wurde damit die Revolution zum Bestandteil! der
Hegelschen Dialektik. Hier kann freilich nur behauptet und nicht
belegt werden, daß sowohl der Fortschritt der Hegelschen
Dialektik im Vergleich zu allen ihrer Vorgänger, die neue
Fassung der Einheit der Widersprüche als bewegendes Prinzip der
Wirklichkeit (freilich idealistisch: als „Selbstbewegung des
Begriffs"), ihre Durchführung in entscheidenden
Uebergangskategorien (Quantität und Qualität, Auffassung der
Reflexionsbestimmungen, Knotenlinie der Maßverhältnisse usw.),
wie auch seine idealistischen Schranken., die zugleich Schranken
der konsequenten Durchführung der Dialektik sind, aufs engste
mit dieser Auffassung der Revolution zusammenhängen. Aber die
bloße Feststellung der Tatsache genügt, um die Differenz der
Hegelschen Auffassung der Dialektik von
allen
früheren — Goethes mit inbegriffen — klarzulegen. Es kommt nur
noch darauf an, an der Hand einiger Beispiele zu zeigen, wie
diese Differenz bei Goethe zum Ausdruck kam und welche Folgen
sie für seine Gesamtanschauung hatte.
Die klassenmäßig wohlfundierte Freundschaft zwischen Goethe und
Hegel, ihre gegenseitige Diplomatie in ihren Aeußerungen macht
dies etwas schwierig, aber nicht unmöglich. Nach
Veröffentlichung der Hegelschen Logik besitzen wir eine intime
Aeußerung Goethes über einen sehr wesentlichen neuen Punkt
seiner Methode, des Umschlagens der Quantität in Qualität. „Es
ist wohl nicht möglich etwas Monströseres zu sagen. Die ewige
Realität der Natur durch einen schlechten sophistischen Spaß
vernichten zu wollen, scheint mir eines vernünftigen Mannes
unwürdig". (Briefkonzept an Seebeck 28. November 1812.) Wobei
seine Empörung offenbar, wie aus dem von ihm angeführten Zitat
ersichtlich ist, das gewaltsame Umschlägen, das Untergehen der
einen Gestalt durch die andere, an Stelle der rein evolutionären
„Metamorphose" hervorrief. Ganz in derselben Richtung liegt, daß
er, als die Berliner Naturforschende Versammlung (wahrscheinlich
unter dem Einfluß Hegels oder seiner Schüler) seine schönen,
echt dialektischen Verse: „Denn alles muß in Nichts zerfallen,
wenn es im Sein beharren will", in goldenen Buchstaben
ausgesteift hat, sogleich ein Gegengedicht: „Kein Wesen kann zu
Nichts zerfallen" schrieb, um seine eigene „Dummheit" zu
widerlegen. (Gespräch mit Eckermann 12. Februar 1829.) Daß es
sich hier um eine entscheidende Differenz handelt, ist klar. Und
Hegel hat, wenn ihm auch offenbar, infolge von Goethes
Diplomatie dessen schroffe Ablehnung nicht bekannt wurde, sehr
vorsichtig und diplomatisch den springenden Punkt ihrer
Differenz, das
Stehenbleiben
Goethes beim Urphänomen,
verursacht durch die Unfähigkeit, die lebendige, den
Gegenständen innewohnende Einheit der Widersprüche immanent und
nicht mystisch-agnostizistisch, transzendent zu fassen,
hervorgehoben. So schreibt er über das Urphänomen:
„Goethes
Metamorphose
der Pflanzen hat den Anfang eines vernünftigen Gedankens über
die Natur der Pflanzen gemacht, indem sie die Vorstellung aus
der Bemühung um bloße Einzelheiten zum Erkennen der
Einheit
des Lebens gerissen hat. Die
Identität
der Organe ist in der Kategorie der Metamorphose überwiegend;
die bestimmte Differenz und die eigentümliche Funktion der
Glieder, wodurch der Lebensprozeß gesetzt ist, ist aber die
andere notwendige Seite zu jener sub-stanziellen Einheit."
(Enzyklopädie Paragraph 345 Zusatz). Und in einem ausführlichen
Brief an Goethe (24. Februar 1821) versucht er sehr vorsichtig
die Urphänomene als bloße
Uebergangsjormen
zur
dialektischen Erfassung des Gesamtzusammenhanges zu deuten. „In
diesem Zwielichte (nämlich des Ur-phänomens), geistig und
begreiflich durch seine Einfachheit, sichtbar oder greiflich
durch seine Sinnlichkeit, begrüßen einander die beiden Welten":
das dialektische Denken und „das erscheinende Dasein".(12).
Diese Differenz zwischen Goethe und Hegel setzt sich im ganzen
Aufbau beider Systeme und Methoden durch. Sie hat zur Folge, daß
Goethe gerade an der bedeutendtsten Neuerung in der Dialektik
(an dem zweiten Teil der Logik des Wesens) achtlos vorbeiging,
obwohl er gerade dort den Schlüssel zur philosophischen Lösung
vieler Fragen, die ihn sein ganzes Leben lang beschäftigten und
die er nie wirklich zu beantworten imstande war, hätte finden
können. (Ding an sich, Ding und Eigenschaft, „Inneres" und
„Aeußeres" usw.) Aber schon die Ablehnung des „plötzlichen"
Uebergangs von Quantität in Qualität versperrte Goethe den Weg
dazu, die Dialektik des Abstrakten und Konkreten, die Dialektik
von Erscheinung und Wesen usw. zu begreifen. Quantität und
Qualität blieben für Goethe „die zwei Pole des erscheinenden
Daseins", die miteinander nicht dialektisch vermittelt werden
können. Darum müssen für Goethe auch Physik und Mathematik
voneinander getrennt bleiben. „Jene muß in einer entschiedenen
Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden,
frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben einzudringen
suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite tut
und leistet". (Sprüche in Prosa, IV. Abt.) Zur selben Zeit also,
wo Hegel den Versuch unternimmt, die Mathematik als Bestandteil
der Gesamtdialektik aufzufassen, bleibt Goethe bei dieser
genauen Trennung, bei der Verbannung der Mathematik aus der
konkreten Naturforschung, bestenfalls also bei der Anerkennung
der Mathematik
neben
der Naturwissenschaft, unabhängig von ihr, als eines der
zwei
Zweige der Erkenntnis stehen.(13)
Die, wenn auch noch so diplomatisch ausgedrückte, aber dem Wesen
nach scharfe und treffende Kritik Hegels berührt also den
Kernpunkt der Goethe-schen Dialektik: Goethe erkennt den
Widerspruch in den Erscheinungen (und demzufolge auch im Denken)
an, da er aber, aus klassenmäßigen Gründen, einseitig und
ausschließend nur die Evolution, den allmählichen, sprunglosen,
gewaltlosen Uebergang der einen Erscheinung in die andere
anerkennen wollte, mußte er sich gerade vor dem Neuen und
Bahnbrechenden in Hegels Dialektik verschließen
(14).
Das hat aber dann zur Folge, daß er, bei der Feststellung von
einzelnen dialektischen Zusammenhängen in der Natur, bei den
Urphänomenen stehen bleibt und für den Gesamtzusammenhang
entweder die Erkennbarkeit ablehnt oder sich bei seiner
gedanklichen Fassung in Mystik verlert. Wir führen nur ein
charakteristisches Beispiel an:
„Alle
Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung
bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusammen, gehen
ineinander über, sie undulieren von der ersten bis zur letzten.
Daß man sie voneinander trennt, sie einander entgegensetzt, sie
untereinander vermengt, ist unvermeidlich, doch mußte daher in
den Wissenschaften ein grenzenloser Widerstreit entstehen.
Starre scheidende Pedanterie und verflößender Mystizismus
bringen beide gleiches Unheil. Aber jene Tätigkeiten, von der
gemeinsten bis zur höchsten, vom Ziegelstein, der dem Dache
entstürzt bis zum leuchtenden Geistesblitz, der dir aufgeht und
den du mitteilst, reihen sich aneinander. Wir versuchen es
auszusprechen.
Zufällig,
Mechanisch,
Physisch,
Chemisch,
Organisch,
Psychisch,
Ethisch,
Religiös,
Genial.
(Nachträge zur Farbenlehre 31)."
Das ist in seinen Schlußfolgerungen romantischer Mystizismus. Es
ist dabei sehr bezeichnend, daß Goethes Entwicklung der
Stufenfolge, sobald sie zum Menschen kommt,
allen
geschichtlichen Zusammenhängen aus dem Wege geht
und nur den Einzelmenschen in Betracht zieht. Dies ist eine
grundlegende
Schranke Goethes, die sowohl seine Dichtung wie sein Denken
(auch sein Denken über die Natur, wie wir gesehen haben) aufs
stärkste beeinflußte. Er, der scharfäugige Beobachter
dialektischer Zusammenhänge in der Natur, im Einzeimensehen, im
privaten Zusammenleben von Einzelmenschen, auch in der
gesellschaftlichen Grundlage ihres privaten Seins, verschloß
sich Zeit seines Lebens vor der Erkenntnis der Dialektik der
Geschichte, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Er nahm
Gesellschaft und Geschichte ate gegeben hin, mystifizierte —
naturwissenschaftlich" — ein „ewiges Werden", eine Evolution in
sie hinein, mystifizierte auch das Einzelechicksal, sobald' zu
einem Verständnis die Erkenntnis gesellschaftlicher
Zusammenhänge in ihrer Bewegung notwendig gewesen wäre, als
„dämonisch" usw. (Ueber sich selbst, Napoleon, Byron usw., bei
Eckermann, in „Dichtung und Wahrheit"). Bei all seiner
Universalität war ihm die Oekonomie ein Buch mit sieben Siegeln,
und wenn er auch ab und zu das Eindringen des Kapitalismus in
die Landwirtschaft (z. B. in Wilhelm Meisters Lehrjahren) gut
geschildert, so ist all dies nur so weit möglich, als es seinen
evolutionistischen Gesamtrahmen: die friedliche Verschmelzung
von Adel und Bourgeoisie nicht zu sprengen droht. Hegels
Dialektik fußte auf einer — wenn auch idealistisch verzerrten —
gedanklichen Durcharbeitung der französischen Revolution und der
industriellen Revolution in England (Adam Smith, Ricardo). Diese
Entwicklung hat Goethe nicht mitgemacht. Darum mußte er auch
ituv gedanklichen Spiegelbilder ablehnen.
Anmerkungen
1) Vgl. darüber
das glänzende Kapitel: „Kritische Schlacht gegen den
französischen Materialismus" in „Heilige Familie", III. Band der
Gesamtausgabe, 300 ff. und das — bis jetzt leider nur in der
ganz schlechten Ausgabe von J. P. Meyer veröffentlichte —
Kapitel über „Exploitationstheorie'' aus der "deutschen
Ideologie", II, 428 ff.
2) „Heilige Familie", III., 301.
3) Bei Ricardo, sagt Marx, „entwickelt sich das Neue und
Bedeutende mitten im ,Dünger' der Widersprüche''. Theorien über
den Mehrwert, III, 94.
4) Die Naturphilosophie der Renaissance, vor allem Giordano
Bruno, der hierin wiederum, was Hamann nicht wußte, auf Nicolaus
Cusanus zurückging.
5) Vgl. die Rezension Hegels über Hamanns Werke. XVII, 83—85.
6) Jacobis Spinozabüchlein, Ausgabe Fr. Mautner, München, 1912.
S. 70
7) VgL hierüber den Aufsatz von Hubert Röck im „Archiv für
Geschichte der Philosophie", neue Folge, XXX.
8) Vgl. z. B. Schelling: System des transzendentalen Idealismus.
Werk I, III, 600, über Freiheit-Notwendigkeit
9) Schelling a. a. O. 625. Vgl. dazu zahllose Aussprüche
Goethes, z. B. „Das Schöne ist eine Manifestation geheimer
Naturgesetze, die uns ohne diese Erscheinung ewig wären
verborgen gewesen", Sprüche in Prosa, III. Abt.
10) Urphänomen als Letztes, als Grenze unserer positiven
Erkenntnis: „Wenn ich mich an dem Urphänomen beruhige, so ist es
doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer
Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit
resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit
meines bornierten Individuums." (Sprüche in Prosa, IV. Abt.);
„Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das
Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen"
(ebenda) usw.
11) Ich verweise dabei für den jungen Schelling auf das Gedicht
„Epikuräisches Glaubensbekenntnis" von Heinz Widerporst, Werke
L, IV., 546.
12) Es ist für Goethes Zwischenstellung sehr charakteristisch,
daß über dasselbe Urphänomen der subjektive Idealist, Schiller,
so urteilte: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee"
(nämlich im Kantschen Sinne), Goethes Annalen 1794.
13) „Ueber Mathematik und deren Mißbrauch" (1826). Diese
Stellungnahme Goethes ist die genaue Parallele zu seiner
Stelhingnahme zu Linne und Cuvier und hängt mit ihr aufs engste
zusammen, in beiden Fällen handelt es sich um seine Unfähigkeit,
die „Reflexionsbestimmungen" in seine Dialektik ein-zubeziehen.
Er unterscheidet sich dabei freilich stark von der reaktionären
Romantik, die im Kampf gegen den mechanischen Materialismus
einer wüsten Mystik verfallen ist. Die mystischen Elemente sind
allerdings auch bei Goethe vorhanden, und die Art seiner Rettung
vor den ärgsten Konsequenzen geschieht eben auf Grundlage einer
von Grund aus inkonsequenten Stellungnahme.
14) Der rechte Hegelianer Goeschel bemerkt richtig, daß Goethes
Ablehnung des Vulkanismus in der Geologie mit seiner Ablehnung
der Revolution in der Geschichte eng zusammenhängt. (Hegel und
seine Zeit, S. 18—19.)
Editorische
Hinweise
Der Aufsatz wurde
erstveröffentlicht in: Der Marxist, Blätter der Marxistischen
Abenschule, II. Jahrgang Heft 5, Sommer 1932, S. 13-24, OCR-scan
red. trend
|