24. März 1981
»Aufstehen, das Fraenkelufer wird geräumt!« Es ist 7 Uhr
morgens, die ganze Besetzerbande des Hauses Potsdamer
Straße 130 ist in Aufruhr. Um halb 8 sind wir am
Fraenkelufer in Kreuzberg. Ungefrühstückt, mit
verklebten Augen sehen wir uns den Polizeiketten
gegenüber, die die Gegend rund um die drei besetzten
Häuser weiträumig abgesperrt haben. Ohnmächtig, wütend,
hilflos umschleichen fröstelnd 500 über Telefonkette
Alarmierte den Ort des Geschehens, versuchen, wenigstens
einen Blick zu erhäschen auf das, was sich direkt vor
den Häusern abspielt. Wir stehen in kleinen Gruppen,
reden gedämpft über die »Scheiße, die da abgeht« und
»die Bullenschweine - diesmal sogar mit Hunden«,
begrüßen Bekannte. Es ist aussichtslos, sich im Moment
auch nur auf ein Scharmützel mit ihnen einzulassen.
Am nächsten Morgen steht in den Zeitungen, was
passierte: 850 Polizisten, Räumtrupps, Panzerwagen,
Wasserwerfer, Sondereinsatz-Kommandos (SEK) waren vor
den drei besetzten Häusern am Fraenkelufer 46-50
aufgefahren. 26 Besetzer wurden widerstandslos aus den
Häusern geschleift, nachdem eine auf einen Caterpillar
montierte Ramme die Türen eingedrückt hatte. Das ganze
war als staatsanwaltliche Durchsuchung deklariert. Die
Besetzer hätten Steine auf vorbeifahrende
Polizeifahrzeuge geworfen, Baumaterial gestohlen und
eine kriminelle Vereinigung (§ 129) gebildet. Als dann
»zufällig« Beauftragte und Bauarbeiter der
Hauseigentümerin (GSW, städtischer Sanierungsträger)
auftauchten, übergab der Staatsanwalt ihnen die
Schlüssel. Die Habseligkeiten der Besetzer
transportierte die Polizei »zu ihrem Schütze« ab. Als
der Großteil der Besetzer nach erkennungsdienstlicher
Behandlung von der Polizei wieder entlassen worden war,
hatten die Bautrupps bereits die Fenster ausgehängt, die
Räume vollends unbewohnbar gemacht, Eingänge und Fenster
vermauert. Ein Besetzer blieb in Haft. Die
Ermittlungsverfahren gegen alle 26 laufen noch. Vielen
Besetzern wurde an diesem Tag deutlich vor Augen
geführt: »Wir können jedes Haus räumen, wenn wir
wollen.«
»Um fünf am Görlitzer Bahnhof« heißt die Parole am
Kotti, dem Kottbusser Tor, wo wir uns langsam sammeln,
um dann in die U-Bahn zu steigen und die Kunde nach
Hause zu tragen. Beim Frühstück diskutieren wir über die
Räumung und Aktionen am Abend. Ein paar kommen vom
Schöneberger Besetzerrat. Sie wollen das Kreisbüro der
Zehlendorfer SPD besetzen. Ich fahre mit, als
Lokalreporter der Tageszeitung.
Die beiden Mittvierziger im SPD-Büro sind
überfordert. Eine ältere Dame von der Arbeiterwohlfahrt
hatte sich gleich in ihrem Büro eingesperrt, als die
»Chaoten« kamen. Die hatten in der Eile das Transparent
verwechselt: »Solidarität mit den Hungerstreikenden«
steht nun auf dem Laken, das sie zum Fenster raushängen.
»Ist ja auch nicht falsch«, meint einer, den ich noch
aus Soziologie-Seminaren kenne. Der Bürovorsteher
telefoniert hektisch mit der Zentrale. Was die Besetzer
denn überhaupt wollten, will man dort wissen. Die 30
sind sich nicht so sicher. »Protestieren gegen die
Räumung« natürlich, aber jetzt konkret? Nach kurzer
Diskussion einigen sie sich darauf, mit einem
»verantwortlichen Politiker« sprechen und eine
Pressekonferenz abhalten zu wollen. Eine kurze Erklärung
wird an dpa durchtelefoniert. Im Sitzungsraum wird die
Ahnengalerie sozialdemokratischer Bürgermeister blau und
rot besprüht. Auch Heinrich Albertz bleibt nicht
verschont. Man raucht HB, die der Bürovorsteher als
Zeichen seiner Dialogbereitschaft verteilt, und liest
nochmals die eigene Erklärung durch, die er
freundlicherweise kopiert hat.
»Die Bullen kommen!« Vor der Tür steht der wenige
Wochen zuvor wegen des Garski-Skandals geschaßte
Ex-Senator Riebschläger mit etwa 200 Polizisten im
Kampfanzug. Nach seinem Rücktritt ist er in den Vorstand
der landeseigenen Wohnungsbaukreditanstalt
zurückgekehrt, wo er jetzt noch mehr verdient als im
Rathaus. Wütend zerknüllt er das Transparent. Wenn die
Besetzer nicht in zehn Minuten verschwunden seien, werde
geräumt und festgenommen. »Ohne deine Zigarre glauben
wir dir gar nix!« rufen die Besetzer aus dem Fenster.
Doch die Stimmung ist nicht nach Heldentod. Tücher und
Plastiktüten werden vor's Gesicht gebunden, und singend
zieht der Trupp von dannen. »Geht doch zurück nach
Westdeutschland, wo ihr herkommt!« ruft ihnen ein
aufgebrachter Sozialdemokrat hinterher.
Im Rathaus Kreuzberg das gleiche Bild. Zwanzig Freaks
und Punks im großen Sitzungssaal. Sie fordern: »Hier und
jetzt eine ganze Abendschausendung der Besetzer für die
Bevölkerung.« Etwa 300 Polizisten haben das Haus
umstellt. Der Bürgermeister Schulz ist nervös und zu
keinerlei Diskussion bereit: »Drei Minuten, meine
Herren, sonst lasse ich räumen!« Der Abschnittleiter
Schulze, der den Polizeieinsatz leitet, nimmt den Fall
gelassener: »Seid doch vernünftig, Jungs. Euren Spaß
habt ihr gehabt, nun geht mal wieder nach Hause!« Er
kennt viele der Besetzer bereits von anderen
Zusammentreffen. Vor dem Rathaus werden die Abziehenden
von der Presse empfangen. Sie stellen sich vor der
Kamera in Pose und verlesen eine Protesterklärung. »Das
gibts doch nicht, das gibts doch gar nicht«, zischt
einer der Polizisten, der unfreiwillig als Kulisse für
den Auftritt dient, und schlägt wütend den Knüppel in
die Hand.
Auch in Tiergarten und Neukölln werden die Rathäuser
von »alternativen Durchsuchungen« heimgesucht.
Gegen 17 Uhr sammeln sich zwei- bis dreitausend am
Görlitzer Bahnhof. Ein bunter Haufe: manche ganz in
schwarz, mit Helm und Lederjacke, Tuch vor dem Gesicht,
daneben eine Frau mit einem Baby auf dem Arm, bunt
geschminkte Gesichter. Transparente sind keine zu sehen.
Wir haken uns unter, laufen dicht gedrängt, links und
rechts von Polizeiketten eingezwängt. »Eins, zwei, drei,
laßt die Leute frei!« und »Bullen verpißt euch, keiner
vermißt euch!« Neue phantasievolle Parolen kommen heute
nicht auf. Die Stimmung ist aggressiv. Eine Musik-Kombo
spielt: »Ge-ge-ge gegen Spekulanten, ge-ge-ge gegen die
Banken. . .« Auch bei den Polizisten löst die Musik ein
wenig die Spannung; sie lächeln halb spöttisch, halb
erleichtert. Zwischendurch rennt der Demonstrationszug
immer wieder ein Stück: »Hopp, hopp, hopp!« rufen wir
den Polizisten zu, die mitrennen müssen. Aus den
besetzten Häusern am Rande der Strecke dröhnt laute
Musik von Ton Steine Scherben. Aber nicht nur aus
besetzten Häusern winken uns Leute zu. In der
Gneisenaustraße, nach einer guten Stunde Marsch, gibt es
die ersten Rempeleien, die Blicke werden entschlossener.
Es ist dunkel geworden.
Plötzlich bricht ein Polizist zusammen, er blutet.
Wie es dazu kam, wurde nie geklärt. Die Polizeiversion
lautet, ein Demonstrant habe unvermittelt mit einem
Besenstiel auf den Behelmten eingeschlagen. Die
wahrscheinlichere Version ist, daß der Polizist beim
Rennen schlicht einen Baum übersehen hatte, an dem er
dann niedersank. Wie auch immer, es war der Funke im
Pulverfaß. Die Polizei geht zum Angriff über, prügelt
wild mit ihren langen Holzknüppeln auf die dicht
gedrängten Demonstranten ein. Panik bricht aus. Steine
fliegen. Verletzte liegen am Boden, oft umringt von
einer Gruppe Polizisten, die auf die am Boden Liegenden
einschlagen. Die Leute flüchten in Hauseingänge und
Hinterhöfe, Tränengasschwaden wehen die Straße herunter.
Eine von Gästen und Flüchtenden völlig überfüllte Kneipe
wird gestürmt, einzelne werden weggeschleppt. In
Hofeinfahrten werden Verletzte, meist mit blutenden
Köpfen, notdürftig verarztet und getröstet. Sirenen und
Blaulicht verbreiten eine nervöse Hektik, durch ein
Megafon heißt es immer wieder: »Bitte räumen Sie die
Straße!« Aber keiner weiß wohin, überall knüppelnde
Polizeihorden. In kleinen Gruppen schlagen sie auf
einzelne ein. Wenn sie auf die Demonstranten zustürmen,
trommeln sie mit ihren Knüppeln auf die
Plexiglas-Schilde.
Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Die
Kontrahenten lecken ihre Wunden. Derartige Angriffe auf
geschlossene Demonstrantengruppen sind selten. Beide
Seiten fürchten sie wegen der hohen Verluste.
In der Nacht haben die Besetzer die
Auseinandersetzung in der Hand. Kleine Gruppen an
verschiedenen Kreuzungen der Gneisenaustraße blockieren
immer wieder den Verkehr, indem sie sich einfach auf die
Straße stellen. Es bilden sich lange, hupende
Autoschlangen, bis zehn Polizeiwannen auf der Kreuzung
auftauchen. Wenn die Polizisten aus den Fahrzeugen
springen, rennen die Demonstranten davon. Die
nachstürmenden Polizisten müssen immer wieder vor
Pflastersteinen in Deckung gehen. Kaum haben sie die
Kreuzung freigemacht und sich wieder zurückgezogen,
beginnt das Spielchen von neuem. Vielleicht zwanzigmal
an diesem lauen Abend.
Die Stimmung auf der Straße ist bestens. Fast wie
eine Stehparty, ich treffe Krethi und Plethi: die Leute
aus meinem Haus, Kollegen von anderen Zeitungen und vom
SFB. Letzterem wirft später ein Bulle mit voller Wucht
einen Stein in die Eier. Eine /o-Jährige beschimpft die
vorbeihastenden Polizisten: »Geht nach Hause, ihr
Senatskosaken!« Die Besucher einer Pizzeria an der Ecke
registrieren aufmerksam die Treffer auf beiden Seiten.
Ihre Favoriten sind an diesem Abend die Besetzer.
Mittendurch fährt ein bärtiger Mittdreißiger mit einem
Schild auf dem Autodach: »Wer Gewalt lehrt, wird Gewalt
ernten - die Grünen: gewaltfrei, sozial, ökologisch.«
Alle lachen über den »Spinner«. Ein Sympathisant aus dem
Süden versteht die Welt nicht mehr: man hatte ihn in
seinem Lodenmantel für einen »Zivi« gehalten. Drei
14-Jährige sitzen auf dem Mittelstreifen, vielleicht
zehn Meter von den soeben aufgefahrenen Einsatzwagen
entfernt, zünden sich einen Joint an, ihre Augen
glänzen: »Geile action heut abend, wa«, ich darf auch
mal ziehen. Dann klopfen die Bullen wieder auf ihre
Schilde, die drei flitzen davon. Ein Polizist schliddert
bäuchlings auf mich zu. Er hat den Randstein übersehen
und schaut mich verzweifelt an. Er ist vielleicht
neunzehn, er tut mir leid.
Ein junges Mädchen hat mittlerweile schon wieder die
Autos gestoppt, Türkenkinder springen lachend um einen
Besoffenen herum, der auf die Autos zutorkelt. Ein Punk
mit Irokesenschnitt geht nach Hause: »Langsam wird's
langweilig«, erklärt er mir in reinstem Sächsisch. Gegen
halb eins lohnt es sich nicht mehr: kaum noch Autos. Die
Szene verlagert sich langsam in die anliegenden Kneipen.
Wir trinken noch ein Bier in der »Osteria«. Die
Spontikneipe ist brechend voll. Jeder erzählt einen
Schwank vom Abend. Johann hat eins auf den Kopf
bekommen, den Presseausweis haben ihm die Polizisten
einfach aus der Hand geschlagen. Als sich sein
Begleiter, den sie ebenfalls in die Mangel nahmen, als
Pressereferent der Polizei ausweist, steht die Kohorte
stramm. Wir lachen, nehmen abwechselnd Benedict in den
Arm, den es heute gleich zweimal erwischt hat. Das
TMZ-Interview mit Innensenator Dahrendorf am nächsten
Morgen werden wir absagen - zur »Strafe« für das, was er
sich heute geleistet hat.
»Jetzt reichts«, meint ein schmächtiges Mädchen neben
mir, »jetzt gibts einfach nur noch Putz!«
Günter von den »Drei Tornados« hat einen neuen Spruch
erfunden: »After action - satisfaction!«
Bei den Auseinandersetzungen an diesem Tag wurden
etwa 150 Demonstranten und Passanten verletzt. Am
häufigsten waren Kopfplatzwunden, Gehirnerschütterungen,
Schürfungen und Prellungen, aber auch Arm- und
Kieferbrüche. Auch die Polizei meldete 56 Verletzte, von
denen jedoch nur drei ambulant behandelt werden mußten.
Von den 19 Festgenommenen in dieser Nacht blieben fünf
in Haft.
In sämtlichen Stadtteilen gingen in der Nacht
Scheiben von Banken, Kaufhäusern und anderen Geschäften
zu Bruch.
.................
Im Besetzerrat
Früher fand der Besetzerrat immer in dem zuletzt
besetzten Haus statt. Aber irgendwann, als praktisch
täglich ein neues Haus besetzt wurde, ging der Überblick
verloren. Seither tagt man jeden Sonntag um 5 im
»Kukuck«, dem »Kunst und Kultur Centrum Kreuzberg«. Das
riesige Haus aus der Gründerzeit steht zwischen
Neubauten und den Ruinen des Anhalter Bahnhofs, als
hätten Krieg und Sanierung nur vergessen, es abzuholen.
Gegenüber, wo heute das »Autodrom« für 20 Mark die
Stunde Fahren ohne Führerschein anbietet, war einst das
Hauptquartier der Gestapo. 300 Meter weiter ist der
Checkpoint Charlie, und wieder 300 Meter weiter prangt
Springers trotziges Hochhaus an der Mauer, um den
Brüdern und Schwestern im Osten von unserer Freiheit zu
künden.
Auf der Straße vor dem Eingang zum »Kukuck« steht:
»Sag nein zum Salat!« und »Freizeit für alle!« Die 30
Meter hohe Brandmauer des Gebäudes ist neuerdings bunt
bemalt: Drei Anarcho-Männchen mit schwarzen Kapuzen
wärmen sich, teuflisch lachend, an einem Feuer, in dem
sie die zu ihnen passenden runden Bomben schmieden und
aus dem Blasen mit Anti-AKW-Zeichen, dem unvermeidlichen
A im Kreis und anderen Symbolen des Widerstands
aufsteigen. Über ihnen ragt ein Baum, der nach oben als
Besetzerblitz im Kreis noch über das Dach des Hauses
hinausschießt. Die Farbe für diese Anarcho-Idylle hat
übrigens das »Netzwerk« bezahlt, und das Gerüst für das
Werk lieferte der »Kommunistische Bund
Westdeutschlands«. Jetzt lachen die drei Anarchisten
jedenfalls über den Platz, der einstmals zu den
nobelsten in ganz Europa gehörte. Und wenn sie wieder
übermalt werden sollten, wird das mehr auffallen, als
daß man die Bewohner des Hauses rausgetragen hat.
Im vierten Stock des dritten Quergebäudes haben sich
knapp 200 Freaks und Punks auf dem Linoleumboden eines
völlig kahlen Raumes niedergelassen, um Rat zu halten.
Das oberste Organ einer Bewegung, die seit über einem
halben Jahr die Stadt in Atem hält, stellt man sich
möglicherweise etwas anders vor.
Babygeschrei übertönt das Stimmengewirr, Hunde
bellen, die Luft ist trüb vom Zigarettenqualm. Eine
Tagesordnung gibt es nicht. Irgendwann fängt einer mit
irgendwas an. »Halt doch mal das Maul da hinten!« -
»Lauter, man versteht hier nix!« - »Dann seid doch mal
leiser, ey!« Bis das Baby das nächste Mal brüllt, kann
ein Mädchen in schwarzer Ledermontur ihr Anliegen
vortragen. Es geht um einen offenen Brief an den Senat.
Forderungen zur Sanierungspolitik und zur Legalisierung
der besetzten Häuser sollen darin stehen. »Wir müssen
der Öffentlichkeit klar machen, was wir wollen.« -
»Scheiß Öffentlichkeit!« nölt ein Skin-Head am Fenster.
»Du hast ja 'n Kopfschuß! Ohne die Öffentlichkeit sind
wir aufgeschmissen, da räumen die uns doch locker ab.« -
»In meinen Augen sind das Verhandlungen. Wenn wir den
Senats-Typen einen Brief schreiben, dann heißt das doch,
daß wir sie anerkennen!« Ein Typ in Lederjacke
unterdrückt mühsam seinen studentischen Code: »Was
soll'n det, schließlich sind die 20 ooo Bullen da, ob du
sie anerkennst oder nicht. Es geht doch darum, die
Senats-Wichser unter Druck zu setzen, indem wir ganz
klar sagen, so und so. Damit die uns nicht einfach in
die Chaoten-Schublade stecken können, verstehste.« -
»Kein Dialog mit der Macht!« - »Genau, ey, da steht nur
was von Sanierung und Legalisierung. Aber die Leute
sitzen immer noch im Knast.« Mit Handheben kommt man
hier nicht zu Wort. Es kommt darauf an, den richtigen
Moment abzupassen und dann laut genug zu brüllen.
Trotzdem kommen viele zu Wort, einige öfter, aber wer zu
oft oder zu lange redet, kriegt Zunder. Theoretiker
haben keine Chance hier, es kommt vor allem auf die
Power an, mit der die Argumente vorgetragen werden.
»Ich wollt nochmal was sagen zu dem, was die
Verhandlungs-Votze da grad abgelassen hat. Wir ham
gesagt, bevor die Leute nicht raus sind, gibt's keine
Verhandlungen und basta. Du mußt endlich mal checken,
daß das einzige, wovor die Schweine echt Schiß haben,
Putz ist. Wenn die erst mal was zu quatschen haben mit
uns, dann ziehn sie uns doch immer über'n Tisch.« »Das
ist doch Scheiße, das so gegeneinander auszuspielen,
Mann. Putz und Porno allein bringt's auch nicht. Weil,
militärisch kriegen die uns schließlich doch klein. Aber
wenn die Senats-Ärsche merken, daß da viele det jut
finden, was wir machen, und auch hinter unseren
Forderungen stehn, dann kriegen sie Schiß um ihre
Posten. Und das bringt im Endeffekt auch den Gefangenen
mehr, als immer nur >1, 2, 3 laßt die Leute frei< und
weiter mischt.« Irgendwann wird man sich einig. Der
Brief soll nicht an den Senat, sondern an die
Bevölkerung gerichtet werden. Außerdem soll es nicht
»Forderungen« heißen, sondern »Zielvorstellungen«. Ein
paar Leute, die die meisten kennen, werden das nochmal
so formulieren. Einig ist man sich, wenn die, die
dagegen sind, nichts mehr sagen und irgendwie alle das
Gefühl haben, daß der Vorschlag von der Mehrheit
getragen wird. Abstimmungen gibt es nicht, hat es noch
nie gegeben. »Wir diskutieren so lange, bis wir uns
einig sind«, heißt die Devise, und wenn man sich nicht
einig wird, läßt man's halt. »Hey, wartet doch mal, ich
komm auch mit!« Es herrscht Aufbruchstim-mung. »Leute,
bevor alle abhauen, hab ich noch was Wichtiges
anzusagen!« Termine, Aktionen, Infos werden an den Mann
gebracht. »Wir ham übrigens gestern 'n Haus besetzt in
Zehlendorf. Heut abend ist Fete!« - »Wo is die Fete?« -
»In 'n Südstaaten irgendwo, mußte mal die Frau mit dem
Poncho fragen.« - »Morgen abend ist
Öffentlichkeits-Ausschuß im Besetza-Eck!« -»Fährt hier
einer nach Schöneberg?«
Im Cafe und im Hof wird Manöverkritik gehalten. Es
gibt Quark und Kuchen, Kaffee und 'nen Joint. Ȁtzend,
ey, diese Anwichserei immer.« Macht nix, nächsten
Sonntag geht es weiter.
Anmerkung: Die hier angeführten Zitate stammen
aus meiner persönlichen Erinnerung an Sitzungen des
Besetzerrates im Februar und März 81. Sie sind
tendenziös ausgewählt und zusammengezogen, um eine
bestimmte Form der Auseinandersetzung deutlich zu
machen, insofern im strengen Sinne nicht authentisch.
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Utopien ?
»Wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum
Kämpfen.« Ich weiß nicht, ob diese Weisheit aus der
Ökologie-Szene stimmt. Mut und Kraft zu Straßenkämpfen
haben meiner Erfahrung nach jedenfalls vor allem jene,
die mit Träumen von einer besseren Welt nicht sehr viel
anfangen können. »Zum Schluß wollte ich noch wissen, wie
du denkst, daß es weitergeht, worauf du hoffst«,
erläuterte ich kürzlich einem Interviewpartner mein
Anliegen. Er wollte meine Fragen im voraus wissen und
schrieb sie auf einen Zettel. »Ja, ja, versteh schon«,
brummte er und notierte: »7. No futu-re«.
Wer unter den Besetzern auf die Suche nach einem
neuen Gesellschaftsentwurf geht, nach Vorstellungen von
oder Synonymen für Sozialismus oder Kommunismus, wird
bestenfalls verstaubte Bruchstücke aus vorangegangenen
Bewegungen finden, kaum Originäres. Auch die Anarchie,
von der zuweilen die Rede ist, stellt sich bei genauerem
Nachfragen als negative Definition heraus: die
Abwesenheit von Herrschaft, aber nicht eine Form
gesellschaftlicher Organisation.
Im Grunde genommen lohnt es sich ja auch gar nicht,
solchen Hirngespinsten nachzujagen. Denn »daß das nicht
die Revolution ist, was wir hier machen, und daß die
hier in Deutschland auch so schnell nicht kommt, ist ja
arschklar«. Arschklar ist auch, daß keine gemeinsame
Ideologie, kein gemeinsamer Kampf für hehre zukünftige
Ziele die Bewegung vorantreiben -oder behindern.
Dementsprechend gibt es auch keine exegetischen
Diskussionen über die Korrektheit dieser oder jener
Aktion und Verhaltensweise. Durchaus widersprüchliche
Grundeinstellungen können so nebeneinander und
miteinander vereinbar sein, und zwar nicht nur auf der
Basis eines »Minimalkonsenses«, auf dem man sich zur
»Aktionseinheit zusammengeschlossen« hätte.
In Westberlin gibt es Häuser, die von Feministinnen
besetzt sind, Anti-AKW-Gruppen sind zusammengezogen,
eine Gruppe von Jungdemokraten hat ebenso ein Haus
besetzt wie eine Gruppe von »Antifa's«, die sich dem
antiimperialistischen Kampf an der Seite der RAF
verschrieben haben. Es gibt ein »Tuntenhaus« von
offensiven Schwulen, AL-Gruppen haben ebenso Häuser
zusammen besetzt wie eine Gruppe von Mitgliedern und
Sympathisanten der SEW. Andere Besetzergruppen haben
sich in kirchlichen Jugendgruppen zusammengefunden, und
auch die Rockergruppe »Phoenix« hat ihren Sitz
neuerdings in einem besetzten Haus (»aber nix mit
Kommune und so!«).
Die wenigsten Besetzergruppen lassen sich derart
präzise politisch einordnen; die meisten sind bunt
gemischt, genauso wie ihre Hoffnungen und Träume, ihre
Perspektiven und Utopien.
Natürlich gibt es auch gemeinsame Utopien: konkrete.
Allein die Tatsache, daß im Sommer 1981 mehr als 160
Häuser besetzt sein würden, wäre ein Jahr zuvor als
utopisch abgetan worden.
In Häusern, die schon länger besetzt sind, werden
auch weitergehende Utopien sichtbar: die vielbeschworene
autonome Selbstverwaltung nimmt Konturen an. Auch wenn
dieser Begriff für viele in der Szene bereits eine Art
Schimpfwort, synonym für »spießig«, geworden ist, lassen
sich diese konkreten Utopien am besten als »alternativ«
beschreiben. Das beginnt mit den neuen Formen, zusammen
zu wohnen und teilweise auch zu arbeiten, die über die
konventionelle Klein-WG weit hinausgehen. Da entstehen
Werkstätten, teils für den Eigenbedarf, teils auch, um
ein kleines Gewerbe zu betreiben. Spielplätze und
Grünflächen werden in Hinterhöfen angelegt,
Kindertagesstätten und Gemeinschaftsküchen eingerichtet.
Food-coops kaufen - im Idealfall von der befreundeten
Landkommune - billigere und gesündere Lebensmittel. Wer
seinen Wehwehchen mit Tee und Massage nicht mehr
beikommt, geht vielleicht zu den Kreuzberger
Barfußärzten im »Heilehaus«. All dies entwickelt sich
freilich nicht erst, seit Häuser besetzt werden. Durch
die Hausbesetzungen haben sich nur diesbezügliche
Möglichkeiten und Erfordernisse rapide erweitert, sind
Freiräume entstanden, in denen sich auch solche Versuche
realisieren lassen, die unter »normalen« Bedingungen
beispielsweise vom Zwang, die Miete aufzubringen oder
überhaupt einen Ort zu finden, von vornherein erstickt
worden wären. Wer in den allenthalben aufblühenden
Idyllen die ersten Ansätze einer dezentralisierten,
nach-industriellen ökosozialistischen Zukunft sieht, mag
dies tun. Von ihren Betreibern wird er, bislang
zumindest, nur als einer ihrer vielen Interpreten
hingenommen werden.
Und wie siehst du die Zukunft? Die Auskunft eines
Besetzers, er sei es eigentlich nicht gewohnt, sehr viel
weiter als eine Woche im voraus zu planen, ist nicht
untypisch. Dann gibt es natürlich auch die Zukunft, die
sich als die Alternative zwischen Atomkrieg und
Computer-Staat darstellt. Diese Zukunft heißt
Widerstand. »Die Besetzungen sind nur eine Kampfform. Es
hat vor den Hausbesetzungen Widerstand gegeben, und es
wird danach Widerstand geben, sollten die Häuser
abgeräumt werden«, schreibt ein Mitglied des Kreuzberger
Besetzerrats. Diese Zukunft heißt vielleicht auch Knast.
Wenn ich mir die Zukunft unseres Hauses vorstelle,
ganz realistisch und pragmatisch, wird mir schlecht. Ich
will hier leben, mit den Leuten zusammen. Es ist
machbar. Die Vertragsentwürfe liegen sozusagen in der
Schublade. Eine Abtretung des Hauses wäre finanzierbar
und politisch durchsetzbar: auf dem Verhandlungswege.
Aber um welchen Preis? Was geschieht mit unseren
Nachbarn? Vielleicht kommen sie in ein Heim, vielleicht
in den Knast. Bestenfalls setzt man ihnen einen
Sozialarbeiter vor die Nase.
Manchmal stelle ich mir vor, wie in drei Jahren für
das durch Besetzung erworbene Wohnrecht in einem
selbstverwalteten Haus Abstandszahlungen gefordert
werden. Unser Haus sieht aus wie »Schöner Wohnen«,
untereinander verfeindete Wohngruppen versuchen, sich
gegenseitig rauszuekeln, das Plenum wird zur
Eigentümer-Versammlung und findet alle halbe Jahr beim
Notar statt. Irgendwo steckt diese ganze
Besitzermentalität ja vielleicht doch noch in uns drin.
Man wird älter, nicht wahr? Vielleicht diskutiert man
besorgt im Vorgarten über die Jugendbanden, die
neuerdings das Viertel unsicher machen. »Ich habe
gehört, der Sowieso, mit dem wir 81 da und da mal ein
Haus besetzt haben, ist auch dabei.« - »Wirklich? Na,
der war ja schon damals immer so chaotisch drauf!« Ein
Albtraum, gegen den wir nicht versichert sind.
Editorische Hinweise
Der
auszugsweise Text wurde entnommen aus: Kursbuch 65,
Hrg von Karl Markus Michel und Tilman Spengler,
Westberlin Oktober 1981 / OCR-scan red. trend
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