Die
Psychoanalyse übt heute einen Einfluß aus, der
wahrscheinlich größer ist als der jeder anderen Lehre
oder Schule, die zur Bildung unseres
„Kollektivbewußtseins" beiträgt. Seitdem Marx
seinen gewaltigen Versuch unternahm, die geschichtliche
Entwicklung zu begreifen, war sein wichtigster
bürgerlicher Gegenspieler, was ich „Psychologismus"
nennen möchte. Obwohl dieser „Psychologismus" in
verschiedenen Formen auftrat und verschiedene Gestalt
annahm, stützte er sich von jeher auf zwei Pfeiler:
Erstens wurde der gesellschaftliche Prozeß auf das
Verhalten des Einzelnen zurückgeführt, zweitens
betrachtete man den Einzelnen als ein Wesen, das von
psychischen Kräften beherrscht wurde, die angeblich tief
in der „menschlichen Natur" eingebettet liegen — einer
Natur, die selbst wiederum einen im wesentlichen festen
biologischen Aufbau hat.Allmählich wurde diese
Auffassung aber angesichts weitreichender tatsächlicher
Veränderungen und des ständig wachsenden Wissens um die
Geschichte und den Menschen immer unhaltbarer, und der
herkömmliche „Psychologismus" wurde in den Hintergrund
gedrängt. Was seinen Platz einnahm, war eine neue Abart
des „Psychologismus": eine Mischung aus Freudscher
Psychoanalyse und quasi-Marxscher Soziologie — eine
Lehre, die ich „Sozialpsychologismus" nennen möchte.
Dieser Debütant auf der ideologischen Bühne
unterscheidet sich von seinem verblichenen Vorgänger
dadurch, daß er freimütig zugibt, das Individuum sei
keineswegs Herr seiner selbst, sondern unterliege
gesellschaftlichen Einflüssen, in gewisser Weise werde
es von der gesellschaftlichen Umwelt geformt, in der es
aufwächst. Entscheidend ist hierbei jedoch, daß die
Gesellschaft als „Umgebung" angesehen wird: als Familie,
Berufsschicht, als Beziehungen zu Rassen, der
Wohngemeinschaft und ähnlichem.
Wir müssen uns die Auswirkungen beider Standpunkte
vor Augen führen. Wenn, wie im ersten Fall, die
„menschliche Natur" den geschichtlichen Werdegang
bestimmt und diese „menschliche Natur" unveränderlich
ist, dann müssen alle Versuche, eine umwälzende
Veränderung des menschlichen Charakters und der
Grundlagen der Gesellschaftsordnung herbeizuführen, von
vornherein zum Scheitern verurteilt sein. In diesem
Falle können wir sogleich alle Hoffnung auf eine
Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den
Menschen, ohne Ungerechtigkeit und ohne Krieg begraben,
weil all dies — Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Krieg —
eine unvermeidliche Wirkung der ewigen Eigenschaften des
Menschen-Tieres sind. Eingeschlossen in seine ewige
„Natur" wäre dann der Mensch in alle Ewigkeit dazu
verdammt, seine Erbsünde abzubüßen. Niemals könnte er
eine freie Entwicklung in einer Gesellschaft erstreben,
die von Mensch-
lichkeit und Vernunft geleitet wird. Man braucht kaum
hinzuzufügen, daß aus solchen Voraussetzungen eine
konservative oder tatsächlich reaktionäre Haltung
gegenüber allen brennenden Fragen unserer Zeit folgt,
eine Haltung, die nach dem Herzen des konservativen
Teils der herrschenden Klasse ist.
Der „Sozialpsychologismus" führt zu anderen
Schlüssen. Denn die Behauptung, daß die menschliche
Entwicklung von der gesellschaftlichen „Umwelt" bestimmt
wird und von den Beziehungen zwischen den Menschen, von
den familiären Verhältnissen usw. abhängt, läßt
offensichtlich den Schluß zu, daß die entsprechenden
„Anpassungsmaßnahmen" in der herrschenden Umgebung
bedeutsame Verbesserungen im menschlichen Leben bewirken
körinen. Größere Gemeinsamkeit und mehr Liebe, mehr
Schulen und Krankenhäuser, mehr Genossenschaften und
Familienberatungsstellen wären dann die richtige Antwort
auf das menschliche Dilemma in unserer Gesellschaft.
Wie jede Ideologie sind jedoch weder „Psychologismus"
noch „Sozialpsychologismus" reine Halluzinationen, die
in keinerlei Beziehung zur wirklichen Welt stehen. Eine
jede von ihnen spiegelt, wenn auch auf verzerrte,
ideologische Weise, eine Seite der tatsächlichen
Seinsverhältnisse des Menschen in der kapitalistischen
Gesellschaft wider. Durch Verkündung einer lauttönenden
Lüge — der Lüge von der souveränen Macht des Individuums
in unserer Gesellschaft — spiegelt der Psychologismus
die Verlassenheit, Beziehungslosigkeit und
Kraftlosigkeit des Menschen im Kapitalismus wider und
kommt so der Wahrheit bedeutend näher als das seichte
liberale effekthascherische Schlagwort, das behauptet,
wir selbst hätten unser Leben in unserer Hand und
könnten es formen. In diesem Sinn erfaßt der
„Psychologismus", der das Prinzip des homo homini lupus
(der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) zur ewigen
Wahrheit erhebt und den Menschen als eine von Natur aus
selbstsüchtige aggressive Monade betrachtet, die
unbarmherzig um einen Platz auf dem Markt kämpft, mehr
von der kapitalistischen Wirklichkeit als jene Theorie,
die uns glauben machen möchte, daß man den Charakter des
kapitalistischen Menschen durch scheinheilige Predigten
über Liebe, Produktivität und die Bruderschaft der
Menschen ändern könne. Wenn Ausbeutung, Ungerechtigkeit
und Krieg den Charakter der Menschen seit Jahrhunderten
formen, ist es offenbar viel zutreffender, den so
geschaffenen Charakter als einen gewaltigen Felsblock zu
betrachten, der nicht lo leicht von der Stelle gerückt
oder verändert werden kann, als mit den oberflächlichen
Weltverbesserern die menschliche Haltung durch
rührendere Predigten, Bundeserzie-hungsbeihilfen, durch
die Erweiterung der Nahrungsmittelgesetzgebung oder die
Wahl eines demokratischen Präsidenten ändern zu wollen.
Auch der „Sozialpsychologismus" spiegelt wichtige
Seiten unserer Gesellschaft wider. Wenn er die Schrecken
unserer Kultur, den erbärmlichen Zustand unseres
Erziehungssystems, das Elend unserer Städte enthüllt und
das schauderhafte „Klima" schildert, in dem
Puertoricaner, Mexikaner und arbeitslose Weiße in
Amerika leben, kommt der „Sozialpsychologismus" der
Wirklichkeit des Kapitalismus näher als die begeisterten
Lobredner des freien und ungehinderten privaten
Unternehmertums. Da er aber gleichzeitig diese
gesellschaftlichen Verhältnisse auf „unseren" Mangel an
Aufklärung, „unsere" Unfähigkeit, sinnvoll zu handeln,
auf die Macht der „Konvention" und ähnliche psychische
Umstände zurückführt, drückt sich in ihm auch die
Weigerung aus, die Ursachen dieses Übels zu sehen. Und
dies ist es, was den wesentlichen und wirklich
entscheidenden Grundzug der herrschenden Ideologie
ausmacht. Überdies ist der Sozialpsychologismus, der all
diese Krankheiten durch die verschiedenartigsten
„Anpassungen" heilen will, mit dem Geist der
Manipulation verbunden, in dem das Großkapital
Problemen, die in den Betrieben auftauchen, durch
Methoden wie der Einrichtung von Erholungsstätten für
die Arbeiter oder Aufwendung größerer Geldmittel für die
Marktforschung und Reklame oder durch die Einführung
einer neuen Luxusmode begegnet. So wird der
Sozialpsychologismus zu einer der wichtigsten Richtungen
— wenn nicht der wichtigsten Richtung überhaupt
—, in der Ideologie des Monopolkapitalismus, die danach
trachtet, die schreiendsten Unsinnigkeiten, die
augenscheinlichsten Ungerechtigkeiten des
kapitalistischen Systems auszumerzen, um seine
Grundlagen zu erhalten und zu festigen.
Wenn man jedoch die ideologische Natur des
Psychologismus und des Sozialpsychologismus enthüllt,
ist nur ein Teil des Nötigen getan. Aber auch diese
Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn man die
Unterschiede zwischen beiden Lehren klar versteht und
diese ideologische Entwicklung sorgfältig als eine
Widerspiegelung der Veränderungen der ihr zugrunde
liegenden ökonomischen, sozialen und politischen
Wirklichkeit selbst untersucht. Der Marxismus hat sich
jedoch dieser Aufgabe, wie es bei den meisten Problemen
der Fall ist, die mit dem Monopolkapitalismus und seiner
Entwicklung auftauchen, nur halbherzig gewidmet. Da sie
zwischen dem altmodischen Psychologismus und seiner
modernen, spitzfindigeren Abart nicht unterschieden,
suchten die Marxisten im Westen wie auch in der
Sowjetunion diese neuere Strömung mit Argumenten zu
widerlegen, die für die ältere, inzwischen
zurückgedrängte Richtung gelten. Man war freilich hierzu
versucht, denn es bereitet wenig Mühe, die bekannten
Argumente vorzubringen: Sie sind alle in den Werken von
Marx und Engels und in den Schriften
späterer Marxisten leicht verfügbar.
Schwerer wiegt jedoch, daß eine andere Aufgabe bisher
unbeachtet blieb. Das ist die Trennung der Spreu vom
Weizen, die Herauslösung der echten wissenschaftlichen
Einsichten aus der ideologischen Flut des
Sozialpsychologismus, auch wenn sie darin untergegangen
sein mögen. Für die Entwicklung des Marxismus ist nichts
wesentlicher als die Klärung und die Aufnahme
wissenschaftlicher Fortschritte, wie sie die bürgerliche
Wissenschaft erreicht, wenn sie von der rücksichtslosen
Enthüllung und Entwurzelung ihrer vielfältigen
ideologischen Zusätze begleitet ist.
So haben die Marxisten gegenüber der Psychoanalyse —
einer Lehre, auf die sich der Sozialpsychologismus im
wesentlichen stützt und die sich von früheren Theorien,
die dem Psychologismus zugrunde liegen, beträchtlich
unterscheidet — den Standpunkt vertreten, daß all dies
nichts anderes sei als Ideologie, die jedes
wissenschaftlichen Inhalts entbehre. Diese Haltung
beruhte zum großen Teil auf der Annahme, daß Freuds
beharrliche Beschäftigung rrflt den irrationalen
Ursachen des menschlichen Verhaltens gleichbedeutend mit
der Glorizifierung der Irrationalität, mit ihrer
Erhebung auf den Stand einer endgültigen,
unerklärlichen, unwandelbaren Determinanten menschlicher
Aktivität sei. Wäre dies Freuds Ansicht gewesen,
so gäbe es in der Tat nicht mehr viel, das ihn von den
zahlreichen Philosophen des Romantizismus und des
Existenzialismus unterschiede. Und doch wird der
Hauptteil seiner Arbeit, wenn er auch in dieser Richtung
starke Neigung hatte, die vor allem in seinen letzten
Schriften zum Ausdruck kamen, von ganz anderen Absichten
geleitet. Nachdem er erkannte — was gar nicht diskutiert
zu werden braucht —, daß die Irrationalität einen großen
Teil des menschlichen Verhaltens beherrscht, widmete
Freud sein Lebenswerk dem Versuch eines rationalen
Verständnisses der irrationalen Beweggründe. Weit davon
entfernt, die Irrationalität für eine elementare
Erscheinung zu halten, die wissenschaftlicher Analyse
völlig unzugänglich ist, versuchte Freud, eine
umfassende Theorie zu entwickeln, die eine rationale
Erklärung irrationaler Triebe ermöglicht.
Um es vorwegzunehmen, dieses weitgesteckte Ziel blieb
außer Reichweite. Trotzdem gelangte Freud weiter
als jeder andere vor ihm und — ich darf es hinzufügen —
jeder nach ihm, wenn es ihm auch nicht gelang, eine
zufriedenstellende Erklärung für das menschliche
Verhalten zu geben. Wie in der bürgerlichen Kultur der
Marxismus Erbe und Beschützer alles Wertvollen und
Fortschrittlichen ist, obliegt es dem Marxismus heute,
Freuds Arbeit an dem Punkt wiederaufzunehmen, an
dem Freud sie verlassen hat, um seine Einsichten
für die Erarbeitung einer rationalen Theorie des
menschlichen Verhaltens und der menschlichen Betätigung
auf gute Weise zu nutzen.
Ich behaupte, daß nur der Marxismus diese Aufgabe
erfüllen kann. Denn die marxistische Theorie der
sozialen Triebkräfte wirft ein helles Licht auf die
Faktoren, die das menschliche Verhalten im
Grundsätzlichen bestimmen. Dazu ist es nötig, einige der
zentralen — wenngleich auch vernachlässigten — Marxschen
Gedankengänge wiederaufzunehmen. Da meine These in der
gebotenen Kürze nicht genügend begründet werden kann,
möchte ich versuchen, meine Bemerkungen in eine
„Telegrammstil-Fassung" zu bringen.
Für die Betrachtung des Menschen in Marxscher Sicht
ist es wichtig, daß es für Marxisten eine ewige,
unveränderliche „menschliche Natur" nicht gibt.
Abgesehen von dem, was man als die biotische
Unveränderliche bezeichnen könnte, ist der Charakter des
Menschen Produkt der Gesellschaftsordnung, in die er
hineingeboren wurde, in der er aufwächst und deren Luft
er sein ganzes Leben hindurch atmet; er ist ihr Ergebnis
und tatsächlich eine ihrer wichtigsten
Erscheinungsweisen. Dabei muß man sich vor Augen halten,
daß das, was in der Marxschen Theorie als
„Gesellschaftsordnung" bezeichnet wird, bestenfalls ein
entfernter Verwandter der „Gesellschaft" ist, wie sie
der Sozialpsychologismus versteht. Der
Sozialpsychologismus bemüht sich, wie wir gesehen haben,
um die „Umgebung", die „zwischenmenschlichen
Beziehungen" und um andere Seiten jener Erscheinungen,
die zusammen die Oberfläche des gesellschaftlichen Seins
ausmachen. Der Marxismus dagegen schließt in den Begriff
der Gesellschaftsordnung die Form der sozialen
Herrschaft der betreffenden Zeit und den
Entwicklungsstand ein, den Produktivkräfte,
Produktionsweise und Produktionsverhältnisse erreicht
haben. All das bildet zusammen die Grundstruktur der
bestehenden sozialen Organisation.
Veränderungen der Gesellschaftsordnung (in der
Marxschen Bedeutung des Wortes) brauchen, tiefgreifend
und umwälzend wie sie stets sind, Jahrhunderte, um zu
reifen. Nur wenige haben sich im Laufe der Geschichte
vollzogen. So sind auch die Veränderungen der
menschlichen Natur nur sehr allmählich vor sich
gegangen. Während diese Veränderungen in weiter
historischer Sicht ungeheure Ausmaße annehmen, spielten
sie doch im Leben ganzer Generationen nur eine
verschwindend geringe Rolle. Es wäre indessen ein
Trugschluß, wollte man von der Langsamkeit des Wandels
im menschlichen Charakter auf seine völlige
Unwandelbarkeit schließen. Dieser Irrtum führt zum
Psychologismus und zum Glauben an die dauernde
Gleichartigkeit der menschlichen Art. Umgekehrt ist es
nicht weniger trügerisch, wenn man aus der Tatsache, daß
sich überhaupt ein Wandel vollzieht, seine Schnelligkeit
bestimmen wollte. Dieser Irrtum führt wiederum zum
Sozialpsychologismus und zu der Illusion, man könne das
menschliche Wesen durch „gutes Zureden" oder durch
einige „soziale Reparaturen" innerhalb der bestehenden
Gesellschaftsordnung wiederherstellen.
Eine ernst zu nehmende Untersuchung muß das
menschliche Verhalten in seinem weitgespannten
tatsächlichen Zusammenhang betrachten, in dem
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung den Inhalt der
entsprechenden geschichtlichen Epochen bestimmen und
ihnen das Gesicht geben. So kann sich auch die
Erforschung des menschlichen Charakters nicht auf leere
Verallgemeinerungen wie den „Menschen im allgemeinen"
stützen oder bedeutende Einsichten von einer noch so
sorgfältigen Untersuchung eines unterstellten konkreten
Gegenstandes, etwa des „Gewerkschaftsmannes", des
„Handelskammer-Managers" oder des „Herrn im grauen
Flanellanzug" erwarten.
Der tatsächliche Gegenstand unserer Untersuchung muß
heute das menschliche Wesen sein, das mit bestimmten
ererbten Charaktermerkmalen auf die Welt kommt und als
Glied einer Klasse der kapitalistischen Gesellschaft
oder — genauer -- der höchstentwickelten Stufe der
kapitalistischen Gesellschaft, des Monopolkapitalismus,
aufwächst. Abgesehen von der biologischen Seite muß eine
solche Untersuchung also zunächst das Verständnis der
wesentlichen Umstände, die die menschliche Existenz
unter der herrschenden Gesellschaftsordnung bestimmen,
zum Ziel haben. Besonders fällt dabei die
außerordentliche Ausdehnung der gesellschaftlichen
Produktivkräfte ins Auge.
Auf der Grundlage einer geradezu unwahrscheinlichen
Unterwerfung der Natur (einschließlich der menschlichen
Natur) durch die Gesellschaft bewirkte dieses Wachstum
der Produktivität eine ungewöhnlich gesteigerte
Rationalität des Produktionsprozesses und auch des
geistigen Antlitzes des modernen Menschen. Es entspricht
der kapitalistischen Ordnung — und es ist tatsächlich
einer ihrer auffallendsten Züge —, daß diese
Fortentwicklung der Rationalität auf verschlungene und
widersprüchliche Weise vor sich gegangen ist. Es war in
erster Linie ein Fortschreiten einer Teil-Rationalität,
die auf bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen
Gefüges beschränkt blieb. So hat die Leistung
industrieller und landwirtschaftlicher Unternehmen, die
Rationalität ihrer Führung, ihrer Kosten-, Preis- und
Gewinnrechnungen und ihrer Bemühungen, den Markt zu
beeinflussen, ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Aber
das Anwachsen einer teilweisen Rationalität war nicht
von dem entsprechenden Wachstum der Rationalität als
Ganzem, der Total-Rationalität in Aufbau und Wirkung der
Gesellschaft begleitet. Diese Rationalität hat sich
tatsächlich verringert; das MißVerhältnis zwischen
Total- und Teil-Rationalität tritt immer stärker hervor.
Man wird sich dessen erst voll bewußt, wenn man an den
Gegensatz zwischen der automatisierten, elektronisch
kontrollierten Fabrik und der Wirtschaft als Ganzem mit
ihren Millionen von Arbeitslosen und weiteren Millionen
nutzlos beschäftigten Menschen denkt; wenn man die
Sorgfalt in Betracht zieht, mit der überflüssiges Chrom
an unpraktischen Autos angebracht wird, wenn man sich
vergegenwärtigt, daß ein aufs beste ausgebildetes
Personal die wirksamsten Methoden zur Herstellung einer
neuen Seife in palastartigen Bürotürmen austüfteln wird,
die nach dem letzten Wort der Wissenschaft neben
schmutzigen Slums errichtet werden, in denen vielköpfige
Familien in einem einzigen verwahrlosten Raum hausen.
Aber am furchtbarsten tut sich der Abgrund auf, der die
Teile vom Ganzen trennt, wenn man die atemberaubende
Produktivkraft, die im Atom beschlossen liegt, und das
Elend, die menschliche Verkommenheit vergleicht, die das
Dasein eines großen Teils der Menschheit in den
unterentwickelten Ländern vergiftet.
Der Hauptgrund für diese offenbare Spaltung zwischen
Teil- und Total-Rationalität, zwischen dem immer mehr
hervortretenden „Wissen, wie" und dem immer geringeren
„Wissen, was", ist die Entfremdung des Menschen von
seinen Produktionsmitteln, eine Entfremdung, die sich in
der Geschichte des Kapitalismus immer mehr ausgeprägt
hat und die in seiner gegenwärtigen monopolistischen
Phase noch gewichtiger wird. Zweifellos hat die
Konzentration der Produktionsmittel in den Händen einer
kleinen Gruppe von Oligarchen, die ruhig und „rationell"
über ihre Unternehmerreiche herrschen und die niemandem
als sich selbst und ihrem unveränderlichen Auftrag, den
Profit zu erhöhen, verantwortlich sind, zur Erhebung des
Produktionsapparates zu einer Macht jenseits des
Individuums und über das Individuum geführt. Diese Macht
beherrscht das Dasein des einzelnen, ist einer Kontrolle
durch ihn jedoch ganz unzugänglich. Zu keiner Zeit in
der Geschichte hat die Verfügungsgewalt über die
Produktivkräfte eine so maßlose allgegenwärtige Gewalt
über Leben und Tod von Millionen Männern, Frauen und
Kindern verliehen.
Das Tückischste und zugleich Unheilvollste an dieser
überwältigenden Macht der vergegenständlichten
Produktionsverhältnisse aber ist, daß sie das seelische
Leben des einzelnen entscheidend zu bestimmen vermag.
Denn der Konflikt zwischen ganzheitlicher und teilweiser
Rationalität gibt nicht nur der ganzen kapitalistischen
Kultur den Grundton, sondern dringt auch tief in das
Wesen des Menschen ein, der in den allgegenwärtigen
Institutionen, Werten und Gewohnheiten, die diese Kultur
ausmachen, erzogen und von ihnen geformt wird. Die
Bedürfnisse des Produktionsprozesses verlangen nach
der Entwicklung immer besser ausgebildeten,
intelligenteren „Menschenmaterials". Um seinen
Lebensunterhalt am Fließband, im Büro oder beim Verkauf
in modernen Unternehmen zu verdienen, muß man mehr
Intelligenz und Fähigkeiten besitzen, als sie ein
früheres Stadium der kapitalistischen .Entwicklung
erforderte. Ein Großteil der Arbeit, 'die früher von
Autorität, Tradition und Intuition bestimmt wurde,
gründet sich heute auf festgelegte Abläufe und genaue
Messungen. Diese rationalisierten, „vernünftigen"
Anstrengungen dienen jedoch einem völlig irrationalen,
unvernünftigen Ziel; der Arbeiter hat nichts mehr mit
dem Ergebnis des Produktionsprozesses zu tun, in dem er
eine verschwindend kleine Rolle spielt, und dieses
Ergebnis ist für ihn ohne Sinn und Bedeutung; es kann
seine Tätigkeit weder durch das Wissen um das Ziel noch
durch den Stolz auf seine Leistung zu irgendeiner
Bedeutung erheben.
Dieser sich unaufhörlich wiederholende Zusammenprall
zwischen dem, was man „geringstmöglichen Sinn" und
„größtmöglichen Wahnsinn" nennen könnte, ist jedoch nur
eine Seite der Sache. Die andere — und wichtigere — ist
der große Einfluß, den der Mangel von ganzheitlicher
Rationalität auf die Entwicklungsweise und das Wesen der
Teil-Rationalität hat. Hier muß eingeschränkt werden,
was oben über die Leistungen der „Teil-Rationalität"
gesagt wurde. Denn die Vernunft ist unteilbar, und die
Unvernunft des Ganzen kann nicht mit der Vernünftigkeit
im einzelnen harmonieren. Das eine bedroht ständig das
andere, und ihre Feindschaft findet in einem der
schärfsten Widersprüche des kapitalistischen Systems
ihren Ausdruck. Wie die Irrationalität des Ganzen
ständig aufrechterhalten werden muß, wenn Ausbeutung,
Verschwendung und Vorrechte, wenn, mit einem Wort, der
Kapitalismus am Leben bleiben soll, wird die
Rationalität in einzelnen Bereichen der Gesellschaft
durch das Streben nach Profit und die Erfordernisse der
Konkurrenz verstärkt.
So schreitet die Teil-Rationalität — wenn auch
unsicher und unregelmäßig — ständig voran, aber dieser
Fortschritt wird von der Irrationalität der
Gesellschaftsordnung verbogen und entstellt. Er ist also
alles andere als gleichmäßig. Einiges bedeutet einen
echten Fortschritt für das rationale Verständnis der
Welt und für die Entwicklung der Produktivkräfte. Das
gilt für vieles, was im Bereich der Mathematik und
Naturwissenschaft und auch auf einigen Gebieten der
Geschichtsforschung geleistet worden ist. Auf anderen
Gebieten jedoch ist das, was sich als größere
Rationalität kundgibt, nichts anderes als die
Erweiterung und Propagierung des geschäftsmäßigen
„Wissen, wie", der „Vernunft" des kapitalistischen
Marktes. Die geistige Leistung, die sich an der
Marktbeziehung orientiert, richtet sich auf die
Manipulation im Interesse der großen kapitalistischen
Unternehmen. Was sie fördert, ist die „praktische
Intelligenz", die Fähigkeit, das Beste aus einer
bestimmten Marktlage herauszuholen, jeden Vorteil im
Kampf aller gegen alle so gut wie irgend möglich zu
nutzen. Auf diese Weise wurden Physik und Chemie zu
einem großen Teil in den Dienst von Krieg und Zerstörung
gestellt; viele mathematische und statistische
Begabungen wurden in Werkzeuge der monopolistischen
Marktkontrolle und Profiterhöhung verwandelt; die
Psychologie verkaufte sich als Gehilfin der
„Motivforschung" und der Betriebsführung; die Biologie
wurde zur Zofe des „Make-up", Kunst, Sprache, Farbe und
Ton wurden zu Werbemitteln erniedrigt.
Unter solchen Umständen verkrüppelt die menschliche
Vernunft unweigerlich, und ihre Fortentwicklung wird in
eine Richtung gedrängt, die keine Beziehung mehr zu
Bedürfnissen der Gesunderhaltung des Menschen, zu
menschlichem Glück und Fortschritt hat. Der Zwang, alles
als gegeben hinzunehmen, wird zu einer Fessel der
menschlichen Fähigkeit zu denken und zu verstehen. Die
niederdrückende und erstickende Wirkung dieser Fessel
wächst mit der Unvernunft des Hingenommenen.
Die Tatsache, daß man den Kapitalismus für
selbstverständlich hielt, als er eine im wesentlichen
fortschrittliche Gesellschaftsordnung war, störte die
Entwicklung der Teil-Rationalität wenig (oder förderte
sie sogar). Wenn man dagegen die Herrschaft des
Monopolkapitals mit all der Verschwendung und der
Zerstörung, die sie im Gefolge hat, ungeprüft als
Bestandteil der natürlichen Ordnung der Dinge zu
betrachten hat, so kann in einer solchen Zwangsjacke die
Vernunft nur noch ersticken. Auf diese Weise wird der
Widerspruch von Teil-und Total-Rationalität durch den
nicht weniger heftigen Kampf zwischen der Vernunft und
ihrer Abwertung, der den Bereich der teilweisen
Rationalität selbst beherrscht, zusätzlich kompliziert
und bt'astet.
Dies hat zahlreiche Folgen, von denen hier nur zwei
verdeutlicht werden sollen. Erstens verdichtet sich die
Rationalität, wie sie unter diesen Umständen besteht, zu
einem System von Regeln, Verhaltens- und Denkweisen, das
nicht nur den menschlichen Erfordernissen nicht gerecht
wird, sondern zu einem furchtbaren Hindernis für die
menschliche Entwicklung, zu einer Gefahr für das
Weiterleben der Menschheit wird. Da die bürgerliche
Rationalität immer mehr zur Rationalität der
Herrschsucht, der Ausbeutung und des Krieges wird, lehnt
sich der einfache Mann gegen diese Zerstörung all seiner
Hoffnungen auf Frieden, Glück und Freiheit auf. Da er
jedoch mit einem „gesunden Menschenverstand" begabt ist,
der ihm von der bürgerlichen Kultur mit allen Mitteln
eingebleut wird und dessen hauptsächliches Gebot die
selbstverständliche Anerkennung der kapitalistischen
Rationalität ist, kann er es kaum vermeiden, die
Vernünftigkeit des Kaufens, Verkaufens und des
Profit-Machens der Vernunft schlechthin gleichzusetzen.
Seine Auflehnung gegen die kapitalistische Rationalität,
gegen die Rationalität der Märkte und Profite, wird so
zur Revolte gegen die Vernunft selbst. Dies alles macht
ihn zu einer leichten Beute der Irrationalität.
Irrationaütät und Aggressivität sind daher in unseren
Zeiten nicht Erscheinungen des unveränderlichen
menschlichen Instinkts, in ihnen drückt sich auch nicht
eine „natürliche" Ablehnung der Vernunft aus. In erster
Linie sind sie in unserer Zeit ein Reflex der Weigerung,
die Rationalität des Kapitalismus als geheiligt und
unverletzlich hinzunehmen. In ihnen kommt der Protest
gegen die Verstümmelung und Abwertung der Vernunft um
der kapitalistischen Herrschaft willen zum Ausdruck.
Dieser Aufschrei gegen die bürgerliche Rationalität wird
ebenso wie ihre Gleichsetzung mit der Vernunft
hervorragend in Dostojewskis „Idiot" beschrieben.
Wenn er „die Vernunft ausspeit" und sich voller Zorn
dagegen verwehrt, daß zwei mal zwei vier sein soll, gibt
dies die Lage des Irrationalismus trefflich wieder. Wir
sehen hier die Haltung des „Idioten" von einer Seite,
die man nicht aus den Augen verlieren sollte: der
„Idiot", so irrational und „verrückt" er auch sein mag,
hat im Grunde völlig recht, wenn er „die Vernunft
ausspeit", wenn er sich weigert, sich der Logik von
Zwei-mal-zwei-gleich-vier zu beugen. Denn diese Logik
ist die Logik des kapitalistischen Marktes, der
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Logik
der Privilegien, der Unsicherheit und des Krieges. Seine
Verachtung für diese Rationalität, seine Auflehnung
gegen den „gesunden Menschenverstand" der menschlichen
Misere ist eine irrationale Reaktion auf eine
verderbliche Gesellschaftsordnung. Es ist die einzige
Reaktion, die einem isolierten und hilflosen Einzelwesen
bleibt, das unfähig ist, die Kräfte zu verstehen, von
denen es zermalmt wird, und daher nicht wirksam gegen
sie angehen kann. Diese Reaktion ist die Neurose.
Zweitens beruhte die Entwicklung der Produktivkräfte
und der gleichzeitige Fortschritt der Rationalität auf
einer ungeheuren Ausdehnung der menschlichen Herrschaft
über die Natur. Die Folge war zunächst, daß mehr Güter
erzeugt und mehr Dienstleistungen in Anspruch genommen
wurden, daß sich der allgemeine Gesundheitszustand
besserte und die Bildung wuchs. Hinzu kam eine
Verminderung der körperlichen Anstrengungen. Dieser
Fortschritt aber wurde nicht nur durch die
Ausdehnung'der menschlichen Herrschaft über die
Erscheinungen und Kräfte der Außenwelt erreicht; er
beruhte auch auf einer vielleicht noch tiefer gehenden
Unterwerfung der Natur des Menschen selbst. Diese
Unterwerfung hat zwei, wenn auch in engem Zusammenhang
stehende, Seiten.
In der vorkapitalistischen Zeit schloß sie die
Entstehung und Weiterentwicklung der Ausbeutung des
Menschen durch den Menschen ein. Die Ausbeuterklassen
entzogen den beherrschten Bevölkerungsschichten
Mehrprodukt und benutzten dies, ihre bevorrechtete
Stellung in der Gesellschaft zu sichern. Einen kleineren
oder größeren Teil dieses Mehrprodukts legten sie in
Produktionsmitteln an oder benutzten ihn zur
Unterhaltung militärischer, religiösen oder kultureller
Einrichtungen. Der Ausdruck „Mehrprodukt" ist, auf diese
Zeit angewandt, freilich reine Beschönigung. Da die
Produktivität nur sehr langsam stieg, war der Zustand
noch nicht erreicht, in dem der Verbrauch der
herrschenden Klasse, ihre Aufwendungen für produktive
Investitionen und für religiöse, militärische und andere
Zwecke sich auf eine ausreichende Menge von Waren und
Dienstleistungen für das Volk stützen konnte. Nackte
Gewalt und ein ausgeklügeltes System politischen Zwangs
spielten schon von jeher eine große Rolle bei der
Gewinnung der nötigen Mittel. Aber trotzdem hätte keines
von beiden diese Aufgabe erfüllen können, wären nicht
religiöse, rechtliche und moralische — mit einem Wort:
ideologische — Vorstellungen entstanden und propagiert
worden, die die Raffgier der herrschenden Klassen
rechtfertigten und im Laufe der Jahrhunderte zu einem
weitgeknüpften Netz von Gedanken, Überzeugungen, Ängsten
und Hoffnungen wurden, die das Volk zwangen, die Rechte
seiner Herren zu achten und ihre Forderungen
anzuerkennen.
Mit der kapitalistischen Ordnung wurde ein neues
Kapitel eröffnet. Nun mußte der Mensch eine weitere
„Anpassung" durchmachen. Den Eigenschaften, die
beispielsweise in den Holzfällern und Wasserträgern
alter Zeiten geweckt würden, mußte ein neues, überaus
wichtiges Kennzeichen hinzugefügt werden, das der
Rationalität. Denn nun genügte es nicht mehr, ein
gehorsamer und selbstloser Sklave oder ein grausamer und
habgieriger Gutsbesitzer zu sein; was nun verlangt
wurde, war ein fleißiger, gelehriger, tüchtiger und
zuverlässiger Arbeiter in einem den Profit
hochtreibenden, im Wettlauf um den Markt gleichsam bis
zur Stromlinienform rationalisierten kapitalistischen
Unternehmen. Dies brachte die wahrscheinlich
einschneidendste Umwandlung mit sich, die die
„menschliche Natur" bis jetzt erfahren hatte. Wenn der
Mensch in der früheren Geschichte durch Ausbeutung und
Herrschaft unterwürfig geworden war, verlangte der
Grundsatz der kapitalistischen Ordnung, daß er zu
rechnen und mit Voraussicht und Überlegung zu handeln
lerne. Was von seiner elementaren Gefühlsbetontheit und
Ursprünglichkeit Übriggeblieben war, nachdem ihn
jahrhundertelang die Peitsche seiner Herren züchtigte,
geriet nun unter den viel systematischeren, viel
nachhaltigeren Druck des hart und genau kalkulierenden
Marktes.
Da es ohne Zweckdenken unmöglich wäre, in der
kapitalistischen Gesellschaft zu bestehen, wurde
jederlei Spontaneität bald nicht nur im
Produktionsablauf als störend empfunden, sondern auch
als Gefahr für die Stabilität der klassenbeherrschten
und ausbeuterischen Gesellschaftsordnung überhaupt
gefürchtet. Vom ersten Anfang der kapitalistischen Ära
an wurde die Spontaneität in jeder Weise wirtschaftlich
bestraft und gesellschaftlich verächtlich gemacht. Die
Heftigkeit dieses Angriffs wurde noch von dem Apparat
der bürgerlichen Ideologie und Kultur übertroffen, die
so Gegensätzliches wie christliche Religion und
Militaristische Philosophie in sich vereinigen.
In der heutigen monopolistischen Phase des
Kapitalismus hat sich diese Attacke erweitert und
verstärkt. So wie die menschlichen Beziehungen in den
großen Unternehmen notwendigerweise darauf abgestimmt
wurden, „sich Freunde zu machen" und „Menschen zu
beeinflussen", so hat man aus der Liebe ein
wissenschaftlich approbiertes Mittel zur medizinisch
angeratenen sexuellen Befriedigung gemacht, während man
Schönheit mit den genauen Maßen der Miß Amerika
gleichsetzt und Natur, Musik, Literatur und Kunst danach
bewertet, ob sie der „Entspannung" dienen. Nicht, daß
dieser Feldzug gegen die Spontaneität jemals geplant
oder von einem Komitee kapitalistischer Weiser geführt
worden wäre, obwohl die professionellen Marx-Gegner,
deren Ignoranz dem Marxismus gegenüber nur noch von
ihrer Unfähigkeit, ihn zu begreifen, übertroffen wird,
dem Marxismus eine solche Ansicht seit jeher
unterschieben. Da Ausbreitung des Zweckdenkens und
Abwertung der Spontaneität vielmehr alles andere als
vorbedachte gutgeplante Kriegslisten der herrschenden
Klasse sind, die man darauf berechnet hat, Wünsche und
Bestrebungen der unteren Bevölkerungsschicht zu
unterdrücken, üben sie ihre Wirkung auch auf die
Angehörigen der herrschenden Klasse selbst aus und
machen sie im Laufe der Zeit zu den unglücklichen
Wohltätigkeitsempfängern einer unglücklichen
Gesellschaft.
Das Teuflische an der Sache scheint mit zu sein, daß
das auf den Markt gerichtete Zweckdenken und die vom
Markt beeinflußte Unterdrückung der Spontaneität, die
Privilegierte wie Nicht-Privilegierte den Erfordernissen
des kapitalistischen Marktes gleichermaßen „anpaßt",
alles, was Freud, und vor ihm Marx und
Engels, als die Quellen des menschlichen Glückes
bezeichneten, völlig zerstören: die Freiheit der
individueüen Entwicklung und die Fähigkeit zu genießen.
Indem sie die Empfindungsfähigkeit des einzelnen mit
einem strengen Tabu belasten und das, was davon
übrigbleibt, in Aggressivität umsetzen, die allein auf
das Ziel gerichtet ist, Erfolg zu haben und die Gegner
im Konkurrenzkampf aus dem Felde zu schlagen, erzeugen
sie eine „Affektverkrüppelung" und verursachen eine
Erscheinung, die Marx als „Entfremdung des
Menschen von sich selbst" in ihren richtigen
theoretischen Zusammenhang gebracht hat. Diese
Entfremdung des Menschen von sich selbst — die
Verstümmelung des Individuums, die Unterjochung seiner
Natur unter die Erfordernisse des kapitalistischen
Unternehmens, die tödliche Verwundung seiner
Spontaneität und die Verbildung seiner Persönlichkeit zu
einem selbstsüchtigen, berechnenden Teilnehmer am
Lebensprozeß der kapitalistischen Gesellschaft — ergibt
den Rahmen, in dem sich die seelische Gestalt des
Menschen bildet.
Nur innerhalb dieses Rahmens lassen sich die Ursachen
der seelischen Störungen in unserer Zeit erkennen, und
nur so kann ich eine Möglichkeit ihres tatsächlichen
Verständnisses sehen. Der Psychoanalyse war es nicht
gegeben, zu diesem Verständnis zu gelangen.
Daß Freud sexuelle Abnormitäten als die
Hauptursache für seelische Störungen erkannte, bedeutet
gewiß einen Fortschritt im psychologischen Denken
selbst. Was Freuds Theorie jedoch — trotz aller
gegenteiligen Behauptungen -nicht zu geben vermag, ist
eine befriedigende Erklärung der sexuellen Verirrungen
selbst. Freud war sich dieser Schwäche seiner
Lehre sogar bewußt, aber er war bei dem Versuch, diese
so bedeutsame Lücke zu füllen, wenig erfolgreich. Er zog
sich zum Psychologismus oder zum Sozialpsychologismus
zurück: Entweder wich er auf den Standpunkt aus, daß die
menschliche Natur und die innerfamiliären Beziehungen,
wie sie in der Ödipusfigur symbolisiert werden,
gleichermaßen unveränderlich seien, oder er nahm seine
Zuflucht zu oberflächlichen Hinweisen auf die
Kindererziehung und die sexuelle Aufklärung. Von keiner
dieser Seiten aus konnte er dem zentralen Problem
beikommen, dem sich die Psychologie gegenwärtig
gegenübersieht: der Frage, welche Rolle die mehr oder
weniger unveränderlichen biotischen Faktoren bei der
Bildung der seelischen Struktur des Menschen spielen,
und der Frage nach dem tiefgehenden Einfluß, den die
Entfremdung des Menschen in der Gesellschaft des
Monopolkapitalismus auf die menschliche Seele hat.
Marxisten haben — beeindruckt von den Leistungen
Pawlows und seiner Schule — ihre ganze
Aufmerksamkeit der biologischen Seite der Sache
zugewandt und neigen dazu — und das ist widersprüchlich
genug —, an Marx' revolutionärem Beitrag zur
Psychologie, der Soziologie der Psyche, vorüberzugehen.
Während die Bedeutung der psychologischen Faktoren
für das menschliche Verhalten gar nicht diskutiert zu
werden braucht, muß man doch erkennen, in welchem Maße
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus
und die Entfremdung, die sie herbeiführen, das seelische
und auch das körperliche Verhalten des Menschen in der
kapitalistischen Ära formen. Denn es ist unmöglich, die
sexuellen Verirrungen ohne die vom Kapitalismus
verursachte Schrumpfung der Spontaneität zu erklären.
Die schwindende Fähigkeit, sexuelle Befriedigung jeder
Art zu erfahren, bleibt ohne das vorn Kapitalismus
geförderte Zweckdenken, die Selbstsucht und die
Aggressivität unverständlich. Ich würde sogar bis zu der
Behauptung gehen, daß die menschliche Aktivität in
unserer Gesellschaft nur als Ergebnis einer
dialektischen Wechselbeziehung zwischen biotischen
Kräften und dem Wirken der Gesetzmäßigkeiten des
Monopolkapitalismus zu verstehen ist, wobei diese die
biotischen Kräfte beherrschen, unterjochen und leiten.
Es ist von weitreichender Bedeutung, die
Wechselbeziehungen zwischen diesen bestimmenden Kräften
des menschlichen Seins im Kapitalismus zu erkennen, weil
die gewaltige Dynamik der Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnung auf den Drehpunkt deutet, von dem
aus, wenn die Zeit reif ist, die Geschichte ihren Lauf
ändern und die Entwicklung des Menschen sich zu einer
vollkommeneren Verwirklichung seiner psychischen,
emotioneilen und rationalen Fähigkeiten wenden wird.
Weder in Beruhigungspillen noch in der „sozialen
Anpassung" findet sich die Hebelkraft, die dies
vollbringen könnte, man gewinnt sie auch nicht, indem
man Liebe zur Produktivität predigt. Sie muß in der
Errichtung einer vernünftigeren, menschlicheren
Gesellschaft und in der Beseitigung einer
Gesellschaftsordnung gefunden werden, die auf Herrschaft
und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gegründet
ist. Die Erwartung allerdings, daß man das
jahrhundertealte Erbe des Kapitalismus in einer
verhältnismäßig kurzen — wenn auch ereignisreichen —
Übergangszeit beseitigen könnte, spiegelt nur die
Haltung des Sozialpsychologismus wider, und diese ist
hier ebenso trügerisch wie in anderen Fällen. So ist es
kein Zufall, daß viele, die sich den Ansichten des
Sozialpsychologismus anschließen, zu den strengsten
Kritikern der schon bestehenden sozialistischen
Gesellschaftsordnungen gehören. Sie verurteilen die
Sowjetunion und sogar China, weil diese die Entfremdung
des Menschen noch nicht aufgehoben und den
sozialistischen Menschen noch nicht geschaffen haben.
Forderungen nach Unmöglichem zu erheben, ist jedoch
nicht besser, als gar nichts zu fordern. Die sofortige
Verwirklichung von Wandlungen zu verlangen, die sich nur
langsam auf der Grundlage tiefgreifender Veränderungen
und nur durch die Teilnahme am Kampf für eine bessere
Gesellschaft einstellen können, ist gleichbedeutend mit
der Desertion vom Kampffeld selbst.
Am Schluß dieser Darlegungen möchte ich noch
bemerken, daß dies alles nicht heißen soll, es könnte
für Kranke keine Möglichkeiten geben, eine Erleichterung
durch die jederzeit zugänglichen Mittel psychiatrischer
Behandlung zu finden. Die häufig getroffene
Feststellung, daß der Grad des Erfolges der
Psychotherapie meist von der psychologischen Schule, zu
der sich der Therapeut bekennt, unabhängig ist und viel
eher von dem Können und der Persönlichkeit des Arztes
und der Aufmerksamkeit abhängt, die er dem Patienten
widmet, deutet darauf hin, daß eine gutfundierte
Theorie, die der psychotherapeutischen Praxis zugrunde
liegt, überhaupt fehlt. Darüber hinaus scheint der
verhältnismäßig große Erfolg der Psychotherapie bei der
Behandlung einzelner Symptome nervöser Störungen und die
allgemein zugegebene Erfolglosigkeit von Bemühungen um
die Heilung von Charakterneurosen die schon eingangs
dargelegte Ansicht zu bestätigen, daß die Erscheinungen,
die der Charakterneurose zugrunde liegen, der Behandlung
in individuellem Bereich unzugänglich sind. Wenn man
darauf beharrt, Charakterstrukturen im individuellen
Bereich ändern und ein gesundes, gutfunktionierendes und
glückliches Individuum „produzieren" zu wollen, so
stellt dies in sich selbst schon eine Ideologie dar.
Diese reißt Individuum und Gesellschaft auseinander und
übergeht das Wirken der Entfremdung des Menschen im
Kapitalismus. Sie verhüllt die schmerzliche, aber
unvermeidliche Wahrheit, daß die Krankheit der
Gesellschaft, in der der Mensch lebt, der Heilung der
menschlichen Seele Grenzen setzt.