Präsidentschaftswahlen in Ägypten
Doppelte Niederlage für die Revolution

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 27. Juni 2012

07-2012

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Die Wahl von Mohammed Mursi, dem Kandidaten der „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (FJP), der Wahlplattform der Moslembruderschaft (MB), ist eine Niederlage für die ägyptische Revolution. Sie weder eine partielle Verteidigung noch das kleinere Übel gegenüber einem Sieg für Achmed Schafiq, des Kandidaten des Obersten Militärrats (SCAF).

Wofür steht die Moslembruderschaft?

Mursi und die Moslembruderschaft sind keine Herausforderung oder gar eine Alternative zur Militärjunta, die derzeit Ägypten regiert. Die MB ist kein geringeres, sondern nur ein anderes Übel. Mit 190.000 Mitgliedern und einem weit verzweigten Netz von Wohltätigkeits- und Bildungseinrichtungen, über die sie ihre WählerInnen mobilisieren konnten, und ihrer grundsätzlich konservativen, prokapitalistischen und sozial reaktionären Politik ist die FJP kein ungefährlicherer Feind der Arbeiterklasse und der revolutionären Jugend als der abgewirtschaftete und diskreditierte, aber immer noch mächtige SCAF.

In etlichen Fragen haben Mursi und die MB andere Interessen als die alte Regierung. Aber gegenüber den Wünschen der ägyptischen Jugend nach Demokratie, Arbeitsplätzen, einer anständigen Ausbildung und jenen der GewerkschafterInnen nach Lohnerhöhung und besseren Arbeitsbedingungen sowie den Bestrebungen der Frauen nach Gleichheit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit sind sich Moslembruderschaft und Militärrat einig in ihrer Ablehnung. In seiner ersten Rede an die Nation lobte Mursi die Revolution vom 25. Januar, aber auch den SCAF.

Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MENA kam der Präsident am Tag nach der Verkündigung seines Wahlsiegs mit Feldmarschall Hussein Tantawi und dem stellvertretenden Vorsitzenden Generalleutnant Sami Anan und einer Reihe weiterer Militärratsmitglieder zusammen. Mursi hat dem SCAF offenbar „seinen aufrichtigen Respekt für dessen kluge Leitung des Landes in der letzten Zeit gezollt, für den Schutz Ägyptens vor vielen Gefahren und für die Achtung des freien Willens des großartigen ägyptischen Volkes“. Zudem hat er das SCAF „für seine Durchführung des Wahlvorgangs mit der äußersten Transparenz“ gelobt, „die es zu einem Modell für Demokratie und Fairness gemacht haben.“

Wer diesen Mann als eine Schranke für die Macht des Militärrats ansieht, zu seiner Wahl aufruft oder seinen Sieg feiert, gibt sich und andere einer furchtbaren Selbsttäuschung preis.

Natürlich ist es zunächst notwendig, den unmittelbaren Feind zu bekämpfen. Solange Tantawi und die Überbleibsel der Mubarak-Herrschaft Panzer, Gewehre, Gefangenenlager und Folterkammern kontrollieren, in denen noch viele HeldInnen der Revolution schmachten, sind sie die größte Gefahr. Wenn der SCAF es gewagt hätte, Schafiq zum Wahlsieger auszurufen, oder wenn er einen Militärputsch zum Sturz von Mursi organisieren würde, müssten RevolutionärInnen auch mit den AktivistInnen und AnhängerInnen der MB kämpfen, um die alten Machthaber zu bezwingen. Aber sie könnten und sollten dies tun, ohne für Mursi zu stimmen, ohne ihn in irgendeiner Art politisch zu unterstützen oder Vertrauen in ihn oder seine Regierung zu setzen. RevolutionärInnen würden allein die demokratischen Errungenschaften der Revolution vom 25. Januar, oder was der Militärrat davon noch übrig gelassen hat, schützen.

Misstrauen der Bevölkerung

Mit 51,7% gegen Schafiqs 48,3% (wenn diese Zahlen stimmen) weiß Mursi keineswegs die Mehrheit der ägyptischen Wahlbevölkerung hinter sich. Es gab nämlich massive Stimmenthaltungen von 53,8% im ersten Wahlgang und 48,1% im zweiten. Und das Misstrauen der Bevölkerung ist wohlbegründet.

Mursis Sieg war keinen Deut wünschenswerter als einer für Schafiq. Der Wille der Mehrheit derjenigen, die gewählt hatten, durfte jedoch nicht durch eine Wahlkommission, die kein demokratisches Mandat hat, beiseite geschoben werden. Schafiq, der frühere Luftwaffenchef und Mubaraks letzter Premierminister, war der Kandidat des Militärs und stand für dessen Kontrolle über den gewaltigen Apparat von Korruption, Illegalität und Repression.

Hischam Fuad von den „Revolutionären Sozialisten Ägyptens“ sagte: „Falls Schafiq die Wahl gewonnen hätte, würde dies eine tiefe Demoralisierung ausgelöst haben.“ Stimmt das? Würde ein solch offensichtlicher Betrug nach der Auflösung des Parlaments wirklich die Jugend und ArbeiterInnen, die die Revolution gemacht haben, einschüchtern können? In den vergangenen anderthalb Jahren haben sie weit ärgere Rückschläge hinnehmen müssen. Es ist also wahrscheinlicher, dass eine Wahlfälschung eher eine noch stärkere Entladung des Zorns hervorgerufen hätte und auch die MB-Jugend sowie radikalere liberale und islamistische Kreise erfasst hätte.

Im Gegensatz dazu waren die Augen der Bruderschaftsführer auf die Präsidentschaft gerichtet, statt den kalten Putsch des Militärs zu beachten. Sie hielten ihre Gefolgschaft von Aktionen auf der Straße zurück und mobilisierten sie erst, als ihnen auch das Präsidentenamt streitig gemacht wurde. Selbst dann beschränkten sie sich auf Aufrufe zur Besetzung des Tahrir-Platzes. So bedeutsam der Platz als Sinnbild der Revolution auch sein mag - es war letztlich nicht die Platz-Besetzung, die Mubarak verjagte, sondern eine wachsende Streikwelle und der Ausbruch eines Aufstands der Bevölkerung in Kairo, Suez und den Industriezentren des Nildeltas.

Wenn die Wahlkommission Schafiq zum Sieger erklärt hätte, würde dies die Massen ermuntert statt entmutigt haben. Tantawi und Mursi wussten dies. Es hätte den Führern des MB und den salafistischen Parteien wie Al-Nur unmöglich gemacht, ihre Basis von der Teilnahme an einer erneuten Welle von Streiks und Demonstrationen abzuhalten. Wie im Januar 2011 würden sich die Generäle nicht auf ihre Truppen verlassen können, das Feuer auf die eigenen Leute zu eröffnen.

Mursi ist keineswegs eine Herausforderung für Feldmarschall Hussein Tantawi und den SCAF. Sie haben immer noch die Kontrolle über die Verfassungsgebung und verletzen damit elementar alle demokratischen Grundsätze. Ihr Oberstes Gericht hat die Befugnis, in die Neuwahlen des Parlaments einzugreifen. Mursi ist praktisch in seinem Präsidentenpalast gefangen, ein Vogel, der ein Loblied auf die Militärs aus einem goldenen Käfig zwitschert.

Die Führung der MB war schon unter Mubarak eine geduldete Opposition. Die Aktivisten der MB hingegen wurden eingekerkert und gefoltert. Der unbewegliche Charakter der Spitze wurde deutlich, als sie die Disqualifikation ihres zunächst aufgestellten Präsidentschaftskandidaten Khairat al-Schater, ein millionenschwerer Geschäftsmann und eigentliches Oberhaupt der Organisation, schluckte. Mursi dagegen ist ein zuverlässiger Wasserträger.

Mursis Sieg war nicht das Resultat einer freien und fairen Wahl, er hat jedoch weit mehr ‚echte’ Stimmen bekommen als Schafiq. Noch weniger war es das Ergebnis der Mobilisierungen auf dem Tahrir-Platz. Sie spielten hierbei nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wurde eine Woche lang hinter den Kulissen zwischen MB und SCAF gefeilscht. Der wirkliche MB-Chef Khairat al-Schater traf SCAF-Generäle, und Mohamed El Baradei, der frühere Vorsitzende der Internationalen Atomenergiebehörde, mimte den Vermittler. Die Generäle setzten sich durch. Mursi konnte nur unter einschränkenden Auflagen und im Rahmen des pseudo-legalen Verfassungsputsches in die Präsidentensuite einziehen.

Mehr Macht für das Militär

Der Staatsstreich nahm die Form einer Abänderung der Verfassungserklärung an, die am 30. März 2011 zurückverwiesen, vom SCAF diktiert und von der MB akzeptiert worden war. Nun zogen Tantawi und Co. die Fesseln fester, z.T. weil die MB einige ihrer früheren Versprechen - Parlament, Verfassunggebende Versammlung und Präsidentenamt nicht zu dominieren - gebrochen hatte. Mit dieser Änderung festigte der Militärrat seine rechtliche wie tatsächliche Kontrolle über das politische Leben in Ägypten. Obwohl der SCAF versprochen hatte, die Macht am 30. 6. 12 feierlich zu übergeben, begrenzt ihre Verfassungsänderung die Befugnisse des Präsidenten und beansprucht alle gesetzgeberische Macht, die Kontrolle über die Niederlegung der Verfassung und über den Staatshaushalt für den SCAF - zumindest, bis ein neues Parlament gewählt ist. Ihre Kontrolle ist umfassend:

- Artikel 53 erweitert den ökonomischen und politischen Einfluss des Militärs, Artikel 53b des Erlasses erlaubt der Armee die Niederschlagung von Massenprotesten, die die Autorität der Generalität angreifen. “Wenn das Land von inneren Unruhen erschüttert wird, die den Einsatz von Streitkräften erfordern, kann der Präsident einen Beschluss herbeiführen, sie mit Billigung der SCAF zusammenzulegen, um die Sicherheit aufrecht zu erhalten und das öffentliche Eigentum zu verteidigen.“

- Artikel 60b gestattet den Generälen, über die Zusammensetzung der Verfassunggebenden Versammlung zu entscheiden und den Entwurf einer neuen Verfassung zu kontrollieren. Darin ist niedergelegt, dass „die benannten SCAF-Mitglieder verantwortlich für die Beschlüsse zu allen Fragen der Streitkräfte sind einschließlich der Ernennung ihrer Führer und der Erweiterung von deren Amtsbefugnissen. Die gegenwärtige Leitung des SCAF ist befugt, als Oberbefehlshaber der Streitkräfte und des Verteidigungsministeriums zu handeln, bis eine neue Verfassung ausgearbeitet worden ist.“

- Artikel 53/1 besagt: „der Präsident kann nur mit Billigung des Obersten Militärrats eine Kriegserklärung abgeben“.

Neue Lage

Die Lage für die Militanten in der neuen Gewerkschaftsbewegung und die jungen RevolutionärInnen, die wiederholt die Plätze besetzt haben, ist schwierig. Der große Optimismus von vor anderthalb Jahren, als viele glaubten, gesiegt zu haben, ist gewichen. Die heutigen Schwierigkeiten sind die Folge des unvollständigen Charakters der Januarrevolution und der folgenden Einbeziehung von Liberalen, der MB und selbst einigen jungen RevolutionärInnen in den „Demokratisierungsprozess“ seitens der Armee.

Dies hat sich schnell in eine Verhandlungsposse zwischen betrügerischen ‚Repräsentanten’ der Revolution, darunter die MB, und offenen Vertretern der Konterrevolution, die SCAF, verwandelt. Die Bruderschaft und die Liberalen haben beide nach ihren Wünschen gehandelt, als sei die Revolution vorüber.

Die jungen RevolutionärInnen waren außerstande, sich in einer revolutionär-sozialistischen Partei zusammenzuschließen und sich tief in der Arbeiterklasse zu verankern. Dass die Revolution keinen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen hervorgebracht hat, ist ein Maßstab, wie weit sie noch von ihren Zielen entfernt ist.

In Wirklichkeit gab es weder eine demokratische Verfassung noch eine legitime Justiz. Statt die Mörder der alten Regierung vor Bevölkerungstribunale zu stellen und für ihre Verbrechen abzuurteilen, wurden RevolutionärInnen zu Tausenden bestraft. Die Revolution hatte nicht triumphiert. Gleichermaßen konnte es keine freien und fairen Wahlen geben, zumal die ganze Registrierung der Kandidaten fest in Händen der korrupten alten Herrschaft lag. Entweder die Revolution schafft eine neue Gesetzlichkeit und fegt die alte Ordnung hinweg, oder sie kann (noch) nicht siegreich sein. Die falschen RevolutionärInnen spielten bewusst oder unbewusst Tantawi und dem SCAF mit ihrem schwindlerischen Konstitutionalismus in die Hände.

Die Revolution permanent machen!

Die Folgen sind der lebende Beweis, dass nur die Arbeiterklasse durch Massenaktionen und Gewinnung der Mannschaftsgrade der Armee und durch die Machtübernahme die grundlegendsten demokratischen Aufgaben vollenden kann. Nichtsdestotrotz ist die Revolution noch keineswegs besiegt. Die fortgesetzten Spaltungen zwischen zivilen und militärischen Kräften der Konterrevolution können der Arbeiterklasse und der Jugend Gelegenheit geben, als unabhängige Kraft aufzutreten. Viele der brennenden Fragen sind demokratischer Art: der Militärrat muss von der Macht verjagt werden, alle Richter, Polizeichefs und Spitzenbürokraten der alten Herrschaft müssen hinaus gesäubert werden, die Arbeiter- und revolutionären Jugendorganisationen müssen beauftragt werden, Wahlen für eine souveräne Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, statt das islamistisch dominierte Parlament wieder herzustellen.

Dazu ist eine revolutionäre Arbeiterpartei notwendig, die eine Strategie hat, um den ungebrochenen Zusammenhang zwischen den demokratischen Aufgaben und den sozialistischen Zielen der Revolution auszudrücken.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel von:

ARBEITERMACHT-INFOMAIL
Nummer 630
4. Juli 2012


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