Der bewegende letzte Freitag – Berlin, den 29.6.2012
Ein Bericht von drei Veranstaltungen

von Anne Seeck

07-2012

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Polittermin Nr.1: 12-15.30 Uhr "Kritisches Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln".

Überhaupt dort hinzugehen, war schon ein schwieriges Unterfangen. Weil dort Sabine Werth, Gründerin der Berliner Tafel, angekündigt war, wurde schon meine Ankündigung auf einer Mailingliste scharf kritisiert. Sie kam aus Krankheitsgründen nicht, trotzdem gibt es kein Pardon. Sabine Werth ist nun mal Haßobjekt in der Erwerbslosenszene. Das hat Gründe. Die Tafeln arbeiten mit McKinsey zusammen, verantwortlich für Arbeitsplatzabbau und beteiligt an der Hartz IV- Reform. Oder zum Beispiel mit Lidl, berüchtigt für prekäre Arbeitsverhältnisse. Schirmherrin der Tafeln ist Ursula von der Leyen...

Aber: 2013 werden von den Herrschenden 20 Jahre Tafeln gefeiert. Dem wollen die Initiatoren des

Aktionsbündnisses Stefan Selke und Peter Grottian etwas entgegensetzen. Ende April 2013 ist eine Aktionswoche geplant. Dafür wurde auf dem Treffen ein Brainstorming gemacht, das viele gute Ideen hervorbrachte. Dort können Sponsoren und Spender thematisiert werden, dort kann der Zusammenhang von Sanktionen und Tafeln („Geh doch zur Tafel“) dargestellt werden usw.

Wer Ideen hat bzw. mitmachen möchte, wende sich an das Aktionsbündnis: http://aktionsbuendnis20.de/

Hier ein Artikel zur Vertafelung der Gesellschaft: http://www.trend.infopartisan.net/trd0910/t080910.html

Polittermin Nr.2: 16-17.30 Uhr: „Stoppt den Fiskalpakt!“

Vor dem Reichstag tummelten sich paar Hundert Menschen, viel zu wenig angesichts des Durchpeitschens dieses Paktes. Die NaturFreunde, ATTAC , ver.di-Berlin/Brandenburg und andere hatten zu der Protestaktion aufgerufen. Auf der Kundgebung sprachen u.a. die stellvertretende Linkspartei-Vorsitzende Sahra Wagenknecht, der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Hans-Christian Ströbele, Gewerkschafter, ein Vertreter von attac etc. Sogar der Chef der Berliner Linken Klaus Lederer...In der Nacht hätten die Abgeordneten von der EU massenhaft neue Papiere bekommen, die sie für die Entscheidungsfindung gar nicht mehr lesen könnten. Ab 17 Uhr tagte der Ältestenrat, ob die Abstimmung überhaupt stattfinden könnte. Das war der Stand, als die Kundgebung später aufgelöst wurde. Inzwischen ist der Fiskalpakt im Schnelldurchlauf durchgepeitscht. In beiden Parlamentskammern wurde die notwendige Zweidrittel-Mehrheit klar erreicht. Im Bundestag votierten nur die gesamte Linksfraktion und einzelne Abgeordnete anderer Fraktionen - auch von Union und FDP - mit Nein. Im Bundesrat stimmten 15 von 16 Bundesländern für die Verträge, nur das von SPD und Linken regierte Brandenburg war nicht dafür. Die Linksfraktion und andere Kläger wollen die Verträge in Karlsruhe (Bundesverfassungsgericht) stoppen. Bis zu einer Entscheidung liegt die deutsche Ratifizierung auf Eis.

Hier ein Aufruf gegen den Fiskalpakt: http://demokratie-statt-fiskalpakt.org/

Polittermin Nr.3: 20.15-23.15 Uhr „Macht aus dem Staat Schopskasalat“

Eine Veranstaltung der Naturfreunde. Diskussion, Lesung und Bildershow zu Lebensalltag, Herrschaftssystem und Rebellion während der letzten Zonenjahre und in den Anfangsjahren des sich wiedervereinigenden Deutschlands

Mit:
* Cornelia Mareth, Leipzig, aktiv in der DDR-Punksszene, später im Conne Island, Mitherausgeberin von “Haare auf Krawall – Jugendsubkultur in Leipzig 1980-91”
* Lutz Boede, Potsdam, als Jugendlicher im DDR-Knast, später Mitbegründer Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär, VVN BdA Brandenburg
http://www.naturfreundejugend-berlin.de/node/501

Diese Veranstaltung war sehr interessant. Ich habe leider nicht mitgeschrieben, aber die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und man wird sie sich im Internet anhören können. Das würde ich jedem Westlinken raten.

Nur einige Anmerkungen:

Auch auf der Veranstaltung wurde deutlich, dass eine Annäherung zwischen Ost- und Westlinken nach der „Wende“ sehr schwierig war. M.E. liegt das an kulturellen und sozialen Unterschieden. Während man es im Westen hauptsächlich mit einer studentischen und Akademikerlinken, oftmals aus der Mittelschicht, zu tun hat, die ein jahrelanges Studium vorweisen können, war die Ost- Subkultur eher proletarisch geprägt. Wer in der DDR eine abweichende Lebensweise hatte, konnte meistens nicht studieren. Die DDR war eine fordistische, tayloristische Industriegesellschaft, die Arbeitsverhältnisse waren ähnlich entfremdet wie im Westen. Allerdings konnten DDR- Bürger die Arbeitsdisziplin unterlaufen. Zudem gab es eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit in den Betrieben, d.h. es waren zu viele Arbeitskräfte vorhanden. Das sozialistische Kollektiv wurde bedeutsam. Die Subkultur versuchte diesem Kollektivdruck zu entgehen- durch eher individualisierte Jobs wie Pförtner, Friedhofsarbeiter, Volkssolidarität etc. Oder sie fertigten selbst Produkte wie Ohrringe und Lampenschirme und verkauften diese. Das heißt aber auch, dass viele zu Nachwendezeiten keine gute Qualifikation nachweisen konnten, wenn sie nicht noch im Westen studierten, was eine ganze Reihe taten. Trotzdem waren die Anfangsschwierigkeiten oftmals groß.

In Leipzig lernte die Subkultur den „Mob“ auf den Montagsdemos kennen. Aber schon vorher wurden die Punks mit Sprüchen „Unter Hitler hätten sie euch vergast.“ von den Normalos begrüßt. M.E. lag das auch an der autoritären Gesellschaft, in der eine Partei die Avantgarde war, die autoritär der Mehrheit ein System überstülpte. Das waren also die „sozialistischen Persönlichkeiten“. Und trotzdem habe ich eine Hoffnung, auch viele Ossis haben dazugelernt. Menschen können Lernprozesse mitmachen, so in den Kämpfen gegen Hartz IV, Prekarisierung oder Verdrängung. Die Mieterkämpfe sind ein gutes Beispiel dafür, ich habe Mieterversammlungen in Neukölln erlebt, wo der Querschnitt der Bevölkerung anwesend war, das was die Linke selten erreicht. Die Welt ist nicht mehr so einfach. Früher grenzten wir uns von den Spießern ab. Die Spießer von damals sind heute häufig von Prekarität, Arbeitslosigkeit und Verdrängung betroffen. Die Subkultur ist zum Marktsegment verkommen, viele sind bestens in den Verwertungsprozeß integriert, sie sehen aber aus, als ob gleich die Revolution ausbrechen würde. Wie jemand aussieht, hat keine politische Bedeutung mehr. Es bleibt die Hoffnung auf das rebellische Subjekt. Ganz wie Herbert Marcuses Randgruppentheorie oder die Vorlieben der Bohemiens für Randexistenzen. Das frühere Lumpenproletariat, die gefährliche Klasse. In diesem Sinne möchte ich nach dem Lesen einer Besprechung eines Buches in Analyse und Kritik dieses unbedingt empfehlen, es erscheint im Juli: Prolls. Die Dämonisierung der Arbeiterklasse!!! http://www.vat-mainz.de/  

Auch das Thema Ausreise wurde auf dieser Veranstaltung besprochen.

Wie menschenverachtend ist es, Menschen, die eingemauert sind, via Mauerbau 1961 in der DDR, vorzuwerfen, dass sie aus diesen Mauern herauswollen. Kaum zu glauben, dass Linke, die das nicht verstehen, sich gegen das EU- Grenzregime auflehnen. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sein Land verlassen und in ein anderes einreisen zu können. DDR- Bürger durften ihr Land nicht in Richtung Westen verlassen. Heute dürfen viele, vor allem Arme, nicht in westliche Länder einreisen bzw. sie müssen diese wieder verlassen.

Ein Veranstaltungshinweis:

Mo, 09. 07. um 19:00 | Robert-Havemann-Saal, Haus der Demokratie, Greifswalder Str.4

Waren die Ausreiseantragsteller in der DDR ein Hindernis für die Opposition oder waren sie Widerstandskämpfer?

Das Begehren, ein Land zu verlassen

Streitgespräch mit Renate Hürtgen und Thomas Klein (beide Historiker, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)

Reisefreiheit ist ein hohes Gut, in der DDR existierte sie nur eingeschränkt. Mit dem Mauerbau verhinderte die Staatsführung der DDR, dass Menschen ihr Land ohne großes Risiko in Richtung Westen verlassen konnten. Trotzdem gab es weiterhin das Begehren, auszureisen. Die Ausreisebewegung schwoll kontinuierlich an, bis zu ihrem Höhepunkt im Herbst 1989. Für die DDR- Staatsführung war diese Bewegung ein massives Problem.

Renate Hürtgen untersucht seit dem Jahre 2008 den Umgang des Ministeriums für Staatssicherheit mit den „Antragstellern auf Ausreise“ in den 70er und 80er Jahren im Kreis Halberstadt. Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit hat sie viele Ausreiseantragsteller befragt und Akten ausgewertet. Das Projekt richtet seine Aufmerksamkeit auf das Verhältnis von Staat und Partei zu den „Ausreisern“. Ein zweiter Komplex ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sich mit der Frage, welchen Charakter dieser Ausreisebewegung zu zuschreiben sei. Hier hat es von Anfang an sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben. Während einige Autoren das Ausreisen als eine Form des widerständigen Verhaltens bezeichnen, lehnen andere diese Einschätzung vollkommen ab.
Thomas Kleins Gegenargument lautet: Das Kriterium der Wirkung auf das MfS als politisch negativ ist kein objektives, es verwischt die Grenzen zu anderen, vom MfS als Bedrohung empfundenes Verhalten und folgt letztlich der Logik des Herrschaftsapparates. Vor allem aber verwischten die Konturen und damit die besondere Qualität von Opposition und Widerstand, wenn nunmehr jede Regelverletzung zu ihnen gerechnet werden soll.

Diese Veranstaltung wird realisiert aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin.

Veranstalter: Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung & Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte & AK Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West

 

Editorische Hinweise

Den Text  erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.