Der Mond ist nichts als ein zerschlagener Teller
Junge mexikanische Dichtung

von Antonín Dick

07-2012

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„ich vernichte durch den kapitalismus ich da draußen im angesicht des schmerzes ökonomischen verlustes ich angesichts des lochs des anderen“, dichtet Minerva Reynosa (32), die in der „Abenddämmerung in der Vorstadt“ die Entfremdung ihres vereinzelten Leibs von einer chaotisch sich globalisierenden Welt aus sich herausschreit. Und bei Eduardo Padilla (35) betet ein Nihilist „für ein massives Desaster, das uns befreie von Herren und Sklaven gleichermaßen“. Von den Klassengegensätzen auszugehen, ist selbstverständlich für die junge mexikanische Dichtung, die in der aktuellen Ausgabe vom Literaturmagazin poet, herausgegeben vom Initiator des Leipziger poetenladens Andreas Heidtmann, auf fast neunzig Seiten zweisprachig vorgestellt wird. Subversiv verläuft die Konfrontation mit dem Kapitalismus. Voll sprühender Phantastik und sprachakrobatisch bis zur Gedichtlosigkeit. Kein Risiko scheuend, wenn es gilt, die poetischen Odysseen, in die man sich Hals über Kopf stürzt, auch wirklich durchzustehen. Wer sind die Tollkühnen? Disziplinierte Partisanen des Geistes, die vor allem eins wollen: die Rückeroberung der verschollenen Einheit von Gefühl und Verstand. Ist das Kapitalismuskritik? Vermutlich die einzig nachhaltige, weil sie zu den mentalen Wurzeln des Menschen vorstößt.

Die Autorin und Übersetzerin Rike Bolte, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner Humboldt-Universität, hat Wortmeldungen von sechs mexikanischen Dichterinnen und Dichtern für uns ausgewählt, die sie gemeinsam mit Timo Berger, Tabea Huth, Bettina Krestel, Julika Schmitz und Johanna Schwering ins Deutsche übertragen hat: Gedichte und anderes von den beiden erwähnten sowie von Luis Felipe Fabre (37), Carla Faesler (44), Maricela Guerrero (34) und Julián Herbert (40).

Daß ihm „in diesem Höllenkaff“ niemand diese Ware abnimmt, versucht einen ganzen Tag lang ein Dorfbewohner einem hausierenden Bibelverkäufer ohne berufliche Qualifikation, der so seine Arbeitslosigkeit zu bewältigen sucht, klarzumachen. Sarkastisch ruft ihm jener am Abend des Fiaskos zu: „Jesus liebt dich! / Doch die Raben lassen sich zum Sterben in deinen Augen nieder / und der Mond ist ein zerschlagener Teller, den die Kellnerin eben durchs Fenster warf.“ Übrig von seinem Traum der Daseinsvorsorge bleibt die trostlose Dorfstraßendämmerung, in die er am Ende plumpst, in der er „wie angewurzelt stehen“ bleibt, „auf einen einzigen Punkt“ starrt, weil er nachdenklich geworden ist. Weiter als Selbsthelfer? Geht nicht. Und der Traum von einer solidarischen Gesellschaft der Gleichen, wie ihn die Bücher propagieren, die er verkaufen will? Neu erfinden. Nicht zeitgemäß. Es ist exakt diese unausgesprochene Schwebe, die die verborgene Qualität von Luis Felipe Fabres schnoddrig daherkommender Bibelverkäuferballade ausmacht.

Leise dagegen spricht Carla Faesler zu uns: zwei wortkarge Gedichte, wie Aquarelle hingehaucht, über Menschen am Scheideweg. Ein im Meer ertrunkener Mensch, mit dem ein Wunder geschieht: Bald wird er untergehen, aber nicht sterben, auch emotional nicht, er wird nie sterben, allen vulgärmaterialistischen Todeszuweisungen zum Trotz, weil er im Bunde mit der Natur ist. Im Gegensatz dazu ein fast Erblindeter, mit dem eine Katastrophe geschieht: Weil ihm eine Kontaktlinse aus dem Auge gefallen ist, kriecht er in seiner Wohnung auf dem Fußboden herum, doch er findet sie nicht mehr, verfällt, ist, allein gelassen, dazu verurteilt, sich lebendigen Leibs ins Tierreich zurückzuentwickeln. Zwei Dramen, in denen es um die Würde des Menschen – einmal als Gewinn, ein andermal als Verlust – und um versagte Solidarität geht. Tausendfach finden sie tagtäglich statt. Doch würden wir sie auch nur ein einziges Mal in ihrer ganzen Dimension erfassen, diese hingehauchten Gebilde hätten das Zeug dazu, Revolutionen auszulösen.

Sodann ein Auszug aus Maricela Guerreros „Kilimandscharo“ über das endlose Ende der Ausbeutung. Die erste Ausbeutung: eine Farm von einhundertachtzehn Kühen, die zehntausend Liter Milch im Jahr abliefern, Namen haben, registriert, gepflegt und glücklich sind, eine harmonische Gesellschaft bilden und deshalb keinerlei Widerstand gegen die Ausbeutung durch den Menschen leisten. Die zweite Ausbeutung: das Fleisch des Schlachthofs, aus dem namenlose, nichtregistrierte Migranten heranwachsen, die als Billigarbeitskräfte für den Milch- und Menschentransort eingesetzt werden. Die dritte Ausbeutung: namenlose, nichtregistrierte Armutsmütter, die während des Marsches in den industrialisierten Norden ihre Kinder allein lassen, auf daß auch sie als namenlose, nichtregistrierte Arbeitssuchende überleben können. Die vierte Ausbeutung: die Besetzung unserer Galaxis, „die produktion großer mengen milch und menschen in zügen, die die nacht durchdringen und sie melken: lokführer passagier zug und gleise auf dem weg zu einer ins unendliche übergelaufenen milchstraße der hundert achtzehn kühe der Glücklichen Farm: kleine pochende maschinen – getriebe und federung – kühe: kühe vergießen milch, toben durch die milchstraße“.

Und schließlich Antikriegssongs des Rocksängers Julián Herbert, in denen erbarmungslos die Schlächter der Völker entlarvt werden, als wäre hier ein Otto Dix zu Gange: „die Schenkel meiner Frau zeigen in Richtung Schlacht“ oder „Langsam kam die Party in Schwung: / abgehackte Hände auf dem Monopolytisch, / im DVD-Player lief ein Neujahrsporno.“ Doch plötzlich weht eine nächtliche Szene auf einem Parkplatz heran, zwei Dichter, die sich zum ersten Mal sehen. Herbert gelingt der poetische Hochseilakt, diese Begegnung so zu vergegenwärtigen, als hätten die beiden, nicht er, sie geschrieben, was dem Umstand geschuldet ist, daß nur mit Bildern und streng nach Regeln der altchinesischen Dichtkunst gearbeitet wird, so suggestiv, daß man die Vorstellung, sie würden im Morgengrauen das gemeinsam gefertigte Gedicht in formvollendeter Schrift an ihre zerbeulten Autos malen, für Realität des Gedichts halten könnte, denn diese Begegnung geschieht, und das wiederum ist Realität des Gedichts, während sie Wodka fließen lassen. Unentwegt. Eine ganze Flasche. Bis der Mond ganz klar zu sehen ist. „Una botella de vodka / hace más transparente la luna.“ Zwölf einfache Zeilen, die einem den Atem verschlagen. Ihr Titel? „Das Herz der Samstagnacht“. Ihre imaginären Autoren? Tom Waits und Li Po.

poet nr. 12
Literaturmagazin
Andreas Heidtmann (Hg.)


poetenladen, Leipzig Frühjahr 2012
ca. 340 Seiten, 9.80 Euro
ISBN 978-3-940691-34-7

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