„ich vernichte durch den
kapitalismus ich da draußen im angesicht des schmerzes
ökonomischen verlustes ich angesichts des lochs des anderen“,
dichtet Minerva Reynosa (32), die in der „Abenddämmerung in der
Vorstadt“ die Entfremdung ihres vereinzelten Leibs von einer
chaotisch sich globalisierenden Welt aus sich herausschreit. Und
bei Eduardo Padilla (35) betet ein Nihilist „für ein massives
Desaster, das uns befreie von Herren und Sklaven gleichermaßen“.
Von den Klassengegensätzen auszugehen, ist selbstverständlich
für die junge mexikanische Dichtung, die in der aktuellen
Ausgabe vom Literaturmagazin poet, herausgegeben vom Initiator
des Leipziger poetenladens Andreas Heidtmann, auf fast neunzig
Seiten zweisprachig vorgestellt wird. Subversiv verläuft die
Konfrontation mit dem Kapitalismus. Voll sprühender Phantastik
und sprachakrobatisch bis zur Gedichtlosigkeit. Kein Risiko
scheuend, wenn es gilt, die poetischen Odysseen, in die man sich
Hals über Kopf stürzt, auch wirklich durchzustehen. Wer sind die
Tollkühnen? Disziplinierte Partisanen des Geistes, die vor allem
eins wollen: die Rückeroberung der verschollenen Einheit von
Gefühl und Verstand. Ist das Kapitalismuskritik? Vermutlich die
einzig nachhaltige, weil sie zu den mentalen Wurzeln des
Menschen vorstößt.
Die Autorin und Übersetzerin Rike
Bolte, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner
Humboldt-Universität, hat Wortmeldungen von sechs mexikanischen
Dichterinnen und Dichtern für uns ausgewählt, die sie gemeinsam
mit Timo Berger, Tabea Huth, Bettina Krestel, Julika Schmitz und
Johanna Schwering ins Deutsche übertragen hat: Gedichte und
anderes von den beiden erwähnten sowie von Luis Felipe Fabre
(37), Carla Faesler (44), Maricela Guerrero (34) und Julián
Herbert (40).
Daß ihm „in diesem Höllenkaff“
niemand diese Ware abnimmt, versucht einen ganzen Tag lang ein
Dorfbewohner einem hausierenden Bibelverkäufer ohne berufliche
Qualifikation, der so seine Arbeitslosigkeit zu bewältigen
sucht, klarzumachen. Sarkastisch ruft ihm jener am Abend des
Fiaskos zu: „Jesus liebt dich! / Doch die Raben lassen sich zum
Sterben in deinen Augen nieder / und der Mond ist ein
zerschlagener Teller, den die Kellnerin eben durchs Fenster
warf.“ Übrig von seinem Traum der Daseinsvorsorge bleibt die
trostlose Dorfstraßendämmerung, in die er am Ende plumpst, in
der er „wie angewurzelt stehen“ bleibt, „auf einen einzigen
Punkt“ starrt, weil er nachdenklich geworden ist. Weiter als
Selbsthelfer? Geht nicht. Und der Traum von einer solidarischen
Gesellschaft der Gleichen, wie ihn die Bücher propagieren, die
er verkaufen will? Neu erfinden. Nicht zeitgemäß. Es ist exakt
diese unausgesprochene Schwebe, die die verborgene Qualität von
Luis Felipe Fabres schnoddrig daherkommender
Bibelverkäuferballade ausmacht.
Leise dagegen spricht Carla Faesler
zu uns: zwei wortkarge Gedichte, wie Aquarelle hingehaucht, über
Menschen am Scheideweg. Ein im Meer ertrunkener Mensch, mit dem
ein Wunder geschieht: Bald wird er untergehen, aber nicht
sterben, auch emotional nicht, er wird nie sterben, allen
vulgärmaterialistischen Todeszuweisungen zum Trotz, weil er im
Bunde mit der Natur ist. Im Gegensatz dazu ein fast Erblindeter,
mit dem eine Katastrophe geschieht: Weil ihm eine Kontaktlinse
aus dem Auge gefallen ist, kriecht er in seiner Wohnung auf dem
Fußboden herum, doch er findet sie nicht mehr, verfällt, ist,
allein gelassen, dazu verurteilt, sich lebendigen Leibs ins
Tierreich zurückzuentwickeln. Zwei Dramen, in denen es um die
Würde des Menschen – einmal als Gewinn, ein andermal als Verlust
– und um versagte Solidarität geht. Tausendfach finden sie
tagtäglich statt. Doch würden wir sie auch nur ein einziges Mal
in ihrer ganzen Dimension erfassen, diese hingehauchten Gebilde
hätten das Zeug dazu, Revolutionen auszulösen.
Sodann ein Auszug aus Maricela
Guerreros „Kilimandscharo“ über das endlose Ende der Ausbeutung.
Die erste Ausbeutung: eine Farm von einhundertachtzehn Kühen,
die zehntausend Liter Milch im Jahr abliefern, Namen haben,
registriert, gepflegt und glücklich sind, eine harmonische
Gesellschaft bilden und deshalb keinerlei Widerstand gegen die
Ausbeutung durch den Menschen leisten. Die zweite Ausbeutung:
das Fleisch des Schlachthofs, aus dem namenlose,
nichtregistrierte Migranten heranwachsen, die als
Billigarbeitskräfte für den Milch- und Menschentransort
eingesetzt werden. Die dritte Ausbeutung: namenlose,
nichtregistrierte Armutsmütter, die während des Marsches in den
industrialisierten Norden ihre Kinder allein lassen, auf daß
auch sie als namenlose, nichtregistrierte Arbeitssuchende
überleben können. Die vierte Ausbeutung: die Besetzung unserer
Galaxis, „die produktion großer mengen milch und menschen in
zügen, die die nacht durchdringen und sie melken: lokführer
passagier zug und gleise auf dem weg zu einer ins unendliche
übergelaufenen milchstraße der hundert achtzehn kühe der
Glücklichen Farm: kleine pochende maschinen – getriebe und
federung – kühe: kühe vergießen milch, toben durch die
milchstraße“.
Und schließlich Antikriegssongs des
Rocksängers Julián Herbert, in denen erbarmungslos die
Schlächter der Völker entlarvt werden, als wäre hier ein Otto
Dix zu Gange: „die Schenkel meiner Frau zeigen in Richtung
Schlacht“ oder „Langsam kam die Party in Schwung: / abgehackte
Hände auf dem Monopolytisch, / im DVD-Player lief ein
Neujahrsporno.“ Doch plötzlich weht eine nächtliche Szene auf
einem Parkplatz heran, zwei Dichter, die sich zum ersten Mal
sehen. Herbert gelingt der poetische Hochseilakt, diese
Begegnung so zu vergegenwärtigen, als hätten die beiden, nicht
er, sie geschrieben, was dem Umstand geschuldet ist, daß nur mit
Bildern und streng nach Regeln der altchinesischen Dichtkunst
gearbeitet wird, so suggestiv, daß man die Vorstellung, sie
würden im Morgengrauen das gemeinsam gefertigte Gedicht in
formvollendeter Schrift an ihre zerbeulten Autos malen, für
Realität des Gedichts halten könnte, denn diese Begegnung
geschieht, und das wiederum ist Realität des Gedichts, während
sie Wodka fließen lassen. Unentwegt. Eine ganze Flasche. Bis der
Mond ganz klar zu sehen ist. „Una botella de vodka / hace más
transparente la luna.“ Zwölf einfache Zeilen, die einem den Atem
verschlagen. Ihr Titel? „Das Herz der Samstagnacht“. Ihre
imaginären Autoren? Tom Waits und Li Po.
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poet nr. 12
Literaturmagazin
Andreas Heidtmann (Hg.)
poetenladen, Leipzig Frühjahr 2012
ca. 340 Seiten, 9.80 Euro
ISBN 978-3-940691-34-7
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