Philosophie und Proletariat

von Hans Marckwald

07-2012

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Im Jahre 1843 schrieb Karl Marx in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" in seinem Artikel „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie": „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie."

Seitdem sind fast drei Vierteljahrhunderte vergangen, ohne daß durch die Aufhebung des Proletariats die Philosophie „ihre Verwirklichung gefunden" hat. Aber der Befreiungsprozeß des Proletariats geht trotz Wirbelsturm und Klippen, trotz Rückschlägen und innerer Kämpfe — oft gefördert durch Hemmnisse — unaufhaltsam weiter, bis die Demokrati­sierung und Sozialisierung der Gesellschaft vollendet ist. Jeder Erfolg im Klassenkampf, zum Beispiel jede durch die Gewerkschaften errungene Lohnerhöhung, ist ein Schritt zur Aufhebung des Proletariats und somit zur Vollendung dessen, was Marx die „Verwirklichung der Philosophie" nennt. Der Kampf des Proletariats um alle praktischen Ziele, die der Augenblick uns stellt, ist zugleich das Bestreben zur Erreichung der höchsten Ideale jener, die sich bemühen, die Frage nach dem Sinne des Lebens zu beantworten oder die Aufgabe zu lösen, dem Leben einen Sinn zu geben.

Fast alle Philosophen haben versucht, eine möglichst einfache Definition des Begriffs ,Philosophie" zu liefern, und fast jeder glaubte abweichend von anderen die „richtige" Begriffsbestimmung gefunden zu haben. Aber auch in der Philosophie ist alle Theorie grau. Nicht aus Definitionen erfährt man, was Elektrizität und Wärme, Staat und Gesell­schaft, Physik und Philosophie eigentlich sind. Nur wenn man prüft, womit sich die Philosophen früher beschäftigten und heute noch beschäftigen, weiß man, was Philosophie bedeutet. Nur geschichtlich läßt sich der Begriff erfassen. Die Philosophie, die Liebe zur Weisheit, war ursprünglich Wissenschaft überhaupt. Mit der Teilung der wissenschaftlichen Arbeit in ihre Spezialgebiete verlor die Philosophie die einzelnen Forschungsgegen­stände, und übrigblieb, was sich nicht mehr verteilen ließ, weil es das gemeinsame Gefilde aller Wisschenschaften war. In der Markgenossenschaft der Forschung blieb die Philosophie das Wald- und Weideland, das nicht mitverlost wurde.

Jedem Fachwissen fehlt der Schlußstein, wenn es nicht mit den Forschungsresultaten aller übrigen Wissenschaften in Zusammenhang gebracht wird. Deshalb blieben für Friedrich Engels als die einzigen Ressorts der Philosophie die „formale Logik" und die „Dialektik" übrig. Das allen Wissenschaften gemeinsame Gebiet ist das Denken. Die „Logik" als Denklehre wird „formale" genannt, weil sie von allem Material, allem Inhalt des Denkens, das heißt den Gegenständen, über die nachgedacht wird, absieht; weil sie nicht auf das Was, sondern nur auf das Wie eine Antwort gibt. Die formale Logik untersucht nicht den Denkvorgang und schreibt auch nicht vor, wie man es anfangen soll, richtig zu denken, sondern sie erforscht die Regeln, bei deren Befolgung nur richtige Denkresul­tate möglich sind. Die Dialektik untersucht den wirklichen Denkvorgang und ist gleichzeitig Methodenlehre für die bei aller wissenschaftlichen Arbeit übereinstimmend anzuwendenden Methoden. Zu ihr gehört auch die Erkenntnistheorie, die den Ursprung, den Umfang und die Grenzen des Erkenntnisvermögens erforscht.

Wenn Engels also in gewissem Sinne recht hatte, die Philosophie auf ihr ureigenstes Gebiet, die „formale Logik" und die „Dialektik" zu beschrän­ken, so darf man nicht übersehen, daß die Fachgelehrten selten Zeit und Neigung haben, die Ergebnisse ihrer Arbeit in Verbindung mit denen der anderen Wissenschaften zu bringen, und daß sich auch heute noch die „Philosophen" mit mehr oder weniger Scharfsinn, Unbefangenheit, voraussetzungsreicher Phantasie oder ehrlicher Objektivität bemühen, diese Arbeit für alle Wisschenschaften zu leisten. Jede Wissenschaft erforscht ein Stück der Welt; die Leute, die sich Philosophen nennen, suchen dagegen ein Weltbild zu entrollen.

Die Theorie der proletarischen Bewegung, der wissenschaftliche Sozialismus, wird vor allem getrieben, um die proletarische Praxis zu erleichtern — nicht nur aus Wissensdrang. Hinter allen philosophischen Versuchen der Entschleierung des Weltbildes lauert das Sehnen der Menschen, alle „Philosophie" ist daher auch von den Umständen abhängig, in denen die Menschen der verschiedenen Zeiten und Klassen sich ihre Unterhaltsmittel beschaffen. Das theoretische Weltbild aller Philosophen diente der Praxis der Klassen, für die sie bewußt oder unbewußt arbeiteten. Die Energie der Klassen wird gestärkt, je mehr sie wissen oder sich einbilden, durch Förderung ihrer Interessen der Gesamtheit zu dienen. Diese Überzeugung, beziehungsweise Illusion gehört zu den Anpassungsmethoden im Kampf ums Dasein. Die Philosophie galt den meisten Philosophen als der Inbegriff alles Edlen, das erst das Leben wert machte, gelebt zu werden, das „Wahren, Guten und Schönen". Die pessimistische Lehre Schopenhauers, die das Leben für wertlos hält, weil alles Sein für sie „Wille", jeder Wille aber quälend und gequält ist, sieht in der Philosophie die höchste Betätigung des „von den Zwecken des Willens freigewordenen, also reinen Subjekts des Erkennens" und in solcher Erhebung über alles Gewöhnliche den erfreulichsten zeitweiligen Trost über das Unglück zu existieren. Insoweit die Philosophie bloßes Bild der gewesenen und gewordenen Welt ist, braucht sie nicht „verwirklicht" zu werden, aber als Bild der werden­den, sich entwickelnden künftigen Welt, deren Praxis aus der Theorie die Konsequenzen zieht und den Sieg der Vernunft in der Wirklichkeit herbeiführt, kann sie nur durch die Aufhebung des „Proletariats" realisiert werden. Da die Philosophie im Programm hat, keine Klassenwissenschaft zu sein, kann das Proletariat sich „nicht aufheben", ohne die Philosophie zu „verwirklichen".

Nietzsche, der unbewußt dem Großkapital eine Philosophie schrieb und den Abstand zwischen dem Pöbel und den Edlen, deren Nachkommen zu Übermenschen werden sollten, als das „Pathos der Distanz" rühmte, hätte nun aber seine Freude an der „Distanz" haben können, die heute noch zwischen der Philosophie und der Mehrheit selbst des intelligenten Teiles des Proletariats besteht. Die „Verwirklichung der Philosophie" durch das Proletariat ist ein objektiver Prozeß. Wer um eine Lohnerhöhung siegreich kämpfte, wird mich verdutzt ansehen, wenn ich ihn rühme, weil er „ein Stückchen Philosophie verwirklicht" hat. Aber die bewußte Erfassung der Philosophie durch das Proletariat würde seinem Entwicklungsgang ebenso dienlich sein wie jede andere wissenschaftliche Erkenntnis. Gerade aus der Philosophie kann das Proletariat Kraft zu hartnäckiger Arbeit an einem besseren Schicksal des künftigen Menschen schöpfen.

In Nr. 15 des zweiten Bandes des vorigen Jahrganges der Neuen Zeit hat Alfred Pallens geglaubt, „bedauerlicherweise" die Frage: „Ist populäre Philosophie möglich? " mit einem runden Nein beantworten zu müssen. Nachher fährt er freilich fort, zu beteuern, mit dem hier gewonnenen Resultat dürfe sich die Sozialdemokratie „unter keinen Umständen zu­frieden geben." Wenn es sich wirklich um ein endgültiges Resultat handelte, müßten wir uns jedoch damit abfinden wie jemand, der bei dem Zählen seiner Barschaft nicht darum herummkommt, daß 2X2 gleich 4, nicht gleich 5 ist. Pallens meint, es müßten Mittel und Wege gefunden werden, um weitere Kreise erfolgreich in die Philosophie einzuführen. „Aber" - so heißt es am Schlüsse des Artikels —, „ob es solche Mittel und Wege gibt und in welcher Weise sie anzuwenden sind, ist eine Frage für sich." Er gibt der Sozialdemokratie also die Weisung, die „Quadratur des Zirkels" zu entdecken, eine Aufgabe zu lösen, deren Unmöglichkeit er glaubt bewiesen zu haben. Nach Friedrich Engels' bekanntem Ratschlag tut man gut, auch diesen Pudding beim Essen zu erproben. Und man wird finden, daß Pallens seine Frage mit Unrecht verneint hat.

Am 9. und 22. Oktober 1915 veröffentlichte ich in der „Arbeiter­jugend" einen Artikel „Philosophie und Sozialismus". Als ich 1916 nach Duisburg übersiedelte, erfuhr ich, daß die Duisburger jugendlichen Abonnenten der „Arbeiterjugend" sich in stundenlanger Debatte über meine Arbeit unterhalten hatten, ehe sie ahnten, daß sie den Autor jemals selbst kennenlernen würden, also aus rein sachlichem Interesse. Wenn es möglich ist, unsere Jugend für die Philosophie zu interessieren, wird es erst recht gelingen, die Reiferen zu ernsthafter Beschäftigung mit der Philoso­phie zu veranlassen.Was ich von der Hegeischen Philosophie hier behaup­tete, gilt von jeder, daß man hinter ihre mit unverständlichen Ausdrücken gespickten Geheimnisse ganz leicht kommt, „wenn man den Kern der Sache aus dem Ballast überflüssiger „Gelehrsamkeit" herausschält". Damit ist es freilich nicht getan, daß man die philosophischen Fachausdrücke in die deutsche Sprache übersetzt und etwa ein neues Wort für „Logik", für „Materialismus", für „Idealismus" usw. prägt. Es kommt nur darauf an, daß man in einem Vortrag, in einem Artikel, in einem Buche nicht mehr zu sagen sich entschließt, als der enge Raum und die knappe Zeit es gestatten. Joseph Dietzgens gewaltige Verdienst lag nicht darin, einen „weiteren" Marxismus begründet zu haben, wie bekanntlich eine Gruppe von Schrift­stellern nachzuweisen sich bemüht, sondern in der Faßlichkeit, mit der er die philosophische Seite des wissenschaftlichen Sozialismus bearbeitete. Je weniger man als bekannt voraussetzen darf, um so eingehender wird man jeden Begriff zu klären haben. Sowohl Paulsens' wie Wundts' „Einleitung in die Philosophie" gibt manche Handhabe dafür, wie man es machen muß, um ohne Oberflächlichkeit „populäre Philosophie möglich" zu machen.

Philosophischer Schulung bedürfen wir schon deshalb, um uns besser in den Meinungsverschiedenheiten zurechtzufinden, die innerhalb der Partei ausgebrochen sind und eine Minderheit veranlaßt haben, es bis zur Parteispaltung zu treiben. Wer die dialektische Methode nicht richtig anzuwenden versteht, sieht, wie Bernstein einst in seinen „Voraussetzun­gen", in Hegels Dialektik bloße Fallstricke, statt die Fallstricke in seinen eigenen Folgerungen zu suchen. Die „dialektische Methode" ist nichts anderes wie die Erforschung aller Forschungsgegenstände in ihrem Zu­sammenhang sowie in ihrem Werden und Vergehen. Es macht wirklich keine Schwierigkeit, sowohl die Notwendigkeit wie den Unterschied der formalen Logik und der dialektischen Logik zu verstehen. Daß der Grundsatz der formalen Logik: „Jedes Ding ist sich selbst gleich" von uns gewöhnlich angewendet werden muß, um uns zurechtzufinden, begreift jeder mit Hilfe seines „gesunden Menschenverstandes", Zug um Zug. Wenn man nicht von dem Vorurteil ausgehen soll, daß jedes Ding sich selbst gleicht, kommt man in den Aussagen über die Dinge offenbar schwer weiter. Nur muß man sich klar sein, daß jener Satz von uns nur vorausgesetzt wird, um unser Denken bis zur Erreichung vorläufiger Resultate zu fördern. Jeder sieht mühelos ein, daß nichts sich selbst gleich ist, weil alles sich ununterbrochen verändert. Für Menschen, die dem ständigen Stoffwechsel unterliegen, ist sicher kein gewaltiger Denkprozeß nötig, um einzusehen, daß ich zwar immer ich bin, weil ich das Nach­einander meiner wandlungsreichen Existenz mit meinem Mitmenschen als „ich" zu bezeichnen übereingekommen bin, daß aber „ich" nicht gleich „ich" ist. Da die Beobachtung lehrt, daß auch nichtorganische Dinge sich ständig ändern, zum Beispiel mit der Erde, auf der sie liegen, ihren Ort wechseln, ist es klar, daß streng genommen die Voraussetzung der formalen Logik falsch ist und daß es einer dialektischen Logik bedarf, für die nichts sich selbst gleicht, weil alles in ständigem Flusse sich befindet. Die Logik der Tatsachen widerlegt die Tatsachen der Logik, das heißt der formalen Logik, deren man zur Orientierung oft genug bedarf, zum Beispiel um nicht zu bezweifeln, daß l gleich l und 2X2 gleich 4 ist.

Die dialektische Methode führt zu der Erkenntnis, daß in allen Dingen, Begriffen und Vorgängen „Widersprüche" vorhanden sind, das heißt Erscheinungen, die im Kontrast zueinander stehen. Nie ist ein einzelner Mensch ohne solche „Widersprüche", denn niemand ist sich selbst gleich, und in „Widersprüchen" bewegt sich schon jedes einzelnen Denken, das in einer Diskussion des Individuums mit sich selbst besteht. Aber die in den Dingen, den Begriffen, den Vorgängen vorhandenen „Widersprüche" sind keine im landläufigen Sinne dieses Wortes, nicht Erscheinungen, die nicht zusammen existieren können, also einander ausschließen. Ohne Gegensätze ist daher auch keine Partei möglich. Aber die Erfahrung lehrt, daß in Natur, Gesellschaft und Wissenschaft die miteinander ringenden Gegen­sätze zu einer Einheit in höherer Form zu führen pflegen. Das ist es, was in der Sprache Hegels und unserer Meister als „Negation der Negation" bezeichnet wird. Nie stimmen zwei Erscheinungen vollkommen überein, nie sind Unterschiede „absolut" oder vollständig. Der Weg zur Macht, auf dem das Proletariat vorwärtsschreitet, kann durch die Parteispaltung hindurchführen, weil die Gegensätze innerhalb der Sozialdemokratie, obwohl sie zusammengehören, in zwei Parteiorganisationen aufeinander-stoßen können, ehe sie sich zur höheren Einheit zusammenfinden. Wer aber nicht nur die Gegensätze, sondern auch die Übereinstimmungen, wer nicht nur einen augenblicklichen Zustand, sondern das Werdende, nicht nur das Verhalten der Parteien, sondern auch die Zusammenhänge, die dieses Verhalten bedingen, erkennt, kurz, wer die dialektische Methode im politischen Leben folgerichtig anwendet, wird das trotz der inneren Gegensätze zusammengehörige Proletariat nicht auseinanderzureißen trachten und dadurch seinen Aufstieg auch nur vorübergehend hemmen. Nur wer infolge von Unkenntnis oder mangelhafter Anwendung der Dialektik im Trennenden nicht das Übereinstimmende, in dem Verhalten der Fraktionen lediglich eine von falschen Überzeugungen geleitete Willkür statt die durch die proletarische Klassenlage und wirtschaftlichen Verhältnisse bedingte Notwendigkeit sieht, kann glauben, seine Überzeugung nicht der Einheit der geschichtlichen Aktion unterordnen zu dürfen.

Editorische Hinweise

Der Text wurde erstveröffentlicht  in: Die Neue Zeit, 1918, Jahrgang 36, Band 1, S. 468-473

Der Autor gehörte zwar zur Parteilinken, verblieb aber dennoch in der SPD, als sich die USPD gründete. Er verließ die SPD 1932 und trat der neu gegründeten SAPD bei, in der sich Sozialdemokraten sammelten, die gegen den aufstrebenden Faschismus eine Einheitsfront mit der KPD anstrebten.

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