Im Jahre 1843 schrieb
Karl Marx in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" in seinem
Artikel „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie": „Die
Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des
Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die
Verwirklichung der Philosophie."
Seitdem sind fast drei
Vierteljahrhunderte vergangen, ohne daß durch die Aufhebung des
Proletariats die Philosophie „ihre Verwirklichung gefunden" hat.
Aber der Befreiungsprozeß des Proletariats geht trotz Wirbelsturm
und Klippen, trotz Rückschlägen und innerer Kämpfe — oft gefördert
durch Hemmnisse — unaufhaltsam weiter, bis die Demokratisierung
und Sozialisierung der Gesellschaft vollendet ist. Jeder Erfolg im
Klassenkampf, zum Beispiel jede durch die Gewerkschaften errungene
Lohnerhöhung, ist ein Schritt zur Aufhebung des Proletariats und
somit zur Vollendung dessen, was Marx die „Verwirklichung der
Philosophie" nennt. Der Kampf des Proletariats um alle praktischen
Ziele, die der Augenblick uns stellt, ist zugleich das Bestreben
zur Erreichung der höchsten Ideale jener, die sich bemühen, die
Frage nach dem Sinne des Lebens zu beantworten oder die Aufgabe zu
lösen, dem Leben einen Sinn zu geben.
Fast alle Philosophen
haben versucht, eine möglichst einfache Definition des Begriffs
,Philosophie" zu liefern, und fast jeder glaubte abweichend von
anderen die „richtige" Begriffsbestimmung gefunden zu haben. Aber
auch in der Philosophie ist alle Theorie grau. Nicht aus
Definitionen erfährt man, was Elektrizität und Wärme, Staat und
Gesellschaft, Physik und Philosophie eigentlich sind. Nur wenn
man prüft, womit sich die Philosophen früher beschäftigten und
heute noch beschäftigen, weiß man, was Philosophie bedeutet. Nur
geschichtlich läßt sich der Begriff erfassen. Die Philosophie, die
Liebe zur Weisheit, war ursprünglich Wissenschaft überhaupt. Mit
der Teilung der wissenschaftlichen Arbeit in ihre Spezialgebiete
verlor die Philosophie die einzelnen Forschungsgegenstände, und
übrigblieb, was sich nicht mehr verteilen ließ, weil es das
gemeinsame Gefilde aller Wisschenschaften war. In der
Markgenossenschaft der Forschung blieb die Philosophie das Wald-
und Weideland, das nicht mitverlost wurde.
Jedem Fachwissen fehlt
der Schlußstein, wenn es nicht mit den Forschungsresultaten aller
übrigen Wissenschaften in Zusammenhang gebracht wird. Deshalb
blieben für Friedrich Engels als die einzigen Ressorts der
Philosophie die „formale Logik" und die „Dialektik" übrig. Das
allen Wissenschaften gemeinsame Gebiet ist das Denken. Die „Logik"
als Denklehre wird „formale" genannt, weil sie von allem Material,
allem Inhalt des Denkens, das heißt den Gegenständen, über die
nachgedacht wird, absieht; weil sie nicht auf das Was, sondern nur
auf das Wie eine Antwort gibt. Die formale Logik untersucht nicht
den Denkvorgang und schreibt auch nicht vor, wie man es anfangen
soll, richtig zu denken, sondern sie erforscht die Regeln, bei
deren Befolgung nur richtige Denkresultate möglich sind. Die
Dialektik untersucht den wirklichen Denkvorgang und ist
gleichzeitig Methodenlehre für die bei aller wissenschaftlichen
Arbeit übereinstimmend anzuwendenden Methoden. Zu ihr gehört auch
die Erkenntnistheorie, die den Ursprung, den Umfang und die
Grenzen des Erkenntnisvermögens erforscht.
Wenn Engels also in
gewissem Sinne recht hatte, die Philosophie auf ihr ureigenstes
Gebiet, die „formale Logik" und die „Dialektik" zu beschränken,
so darf man nicht übersehen, daß die Fachgelehrten selten Zeit und
Neigung haben, die Ergebnisse ihrer Arbeit in Verbindung mit denen
der anderen Wissenschaften zu bringen, und daß sich auch heute
noch die „Philosophen" mit mehr oder weniger Scharfsinn,
Unbefangenheit, voraussetzungsreicher Phantasie oder ehrlicher
Objektivität bemühen, diese Arbeit für alle Wisschenschaften zu
leisten. Jede Wissenschaft erforscht ein Stück der Welt; die
Leute, die sich Philosophen nennen, suchen dagegen ein Weltbild zu
entrollen.
Die Theorie der
proletarischen Bewegung, der wissenschaftliche Sozialismus, wird
vor allem getrieben, um die proletarische Praxis zu erleichtern —
nicht nur aus Wissensdrang. Hinter allen philosophischen Versuchen
der Entschleierung des Weltbildes lauert das Sehnen der Menschen,
alle „Philosophie" ist daher auch von den Umständen abhängig, in
denen die Menschen der verschiedenen Zeiten und Klassen sich ihre
Unterhaltsmittel beschaffen. Das theoretische Weltbild aller
Philosophen diente der Praxis der Klassen, für die sie bewußt oder
unbewußt arbeiteten. Die Energie der Klassen wird gestärkt, je
mehr sie wissen oder sich einbilden, durch Förderung ihrer
Interessen der Gesamtheit zu dienen. Diese Überzeugung,
beziehungsweise Illusion gehört zu den Anpassungsmethoden im Kampf
ums Dasein. Die Philosophie galt den meisten Philosophen als der
Inbegriff alles Edlen, das erst das Leben wert machte, gelebt zu
werden, das „Wahren, Guten und Schönen". Die pessimistische Lehre
Schopenhauers, die das Leben für wertlos hält, weil alles Sein für
sie „Wille", jeder Wille aber quälend und gequält ist, sieht in
der Philosophie die höchste Betätigung des „von den Zwecken des
Willens freigewordenen, also reinen Subjekts des Erkennens" und in
solcher Erhebung über alles Gewöhnliche den erfreulichsten
zeitweiligen Trost über das Unglück zu existieren. Insoweit die
Philosophie bloßes Bild der gewesenen und gewordenen Welt ist,
braucht sie nicht „verwirklicht" zu werden, aber als Bild der
werdenden, sich entwickelnden künftigen Welt, deren Praxis aus
der Theorie die Konsequenzen zieht und den Sieg der Vernunft in
der Wirklichkeit herbeiführt, kann sie nur durch die Aufhebung des
„Proletariats" realisiert werden. Da die
Philosophie im Programm hat, keine Klassenwissenschaft zu sein,
kann das Proletariat sich „nicht aufheben", ohne die Philosophie
zu „verwirklichen".
Nietzsche, der
unbewußt dem Großkapital eine Philosophie schrieb und den Abstand
zwischen dem Pöbel und den Edlen, deren Nachkommen zu Übermenschen
werden sollten, als das „Pathos der Distanz" rühmte, hätte nun
aber seine Freude an der „Distanz" haben können, die heute noch
zwischen der Philosophie und der Mehrheit selbst des intelligenten
Teiles des Proletariats besteht. Die „Verwirklichung der
Philosophie" durch das Proletariat ist ein objektiver Prozeß. Wer
um eine Lohnerhöhung siegreich kämpfte, wird mich verdutzt
ansehen, wenn ich ihn rühme, weil er „ein Stückchen Philosophie
verwirklicht" hat. Aber die bewußte Erfassung der Philosophie
durch das Proletariat würde seinem Entwicklungsgang ebenso
dienlich sein wie jede andere wissenschaftliche Erkenntnis. Gerade
aus der Philosophie kann das Proletariat Kraft zu hartnäckiger
Arbeit an einem besseren Schicksal des künftigen Menschen
schöpfen.
In Nr. 15 des zweiten
Bandes des vorigen Jahrganges der Neuen Zeit hat Alfred Pallens
geglaubt, „bedauerlicherweise" die Frage: „Ist populäre
Philosophie möglich? " mit einem runden Nein beantworten zu
müssen. Nachher fährt er freilich fort, zu beteuern, mit dem hier
gewonnenen Resultat dürfe sich die Sozialdemokratie „unter keinen
Umständen zufrieden geben." Wenn es sich wirklich um ein
endgültiges Resultat handelte, müßten wir uns jedoch damit
abfinden wie jemand, der bei dem Zählen seiner Barschaft nicht
darum herummkommt, daß 2X2 gleich 4, nicht gleich 5 ist. Pallens
meint, es müßten Mittel und Wege gefunden werden, um weitere
Kreise erfolgreich in die Philosophie einzuführen. „Aber" - so
heißt es am Schlüsse des Artikels —, „ob es solche Mittel und Wege
gibt und in welcher Weise sie anzuwenden sind, ist eine Frage für
sich." Er gibt der Sozialdemokratie also die Weisung, die
„Quadratur des Zirkels" zu entdecken, eine Aufgabe zu lösen, deren
Unmöglichkeit er glaubt bewiesen zu haben. Nach Friedrich Engels'
bekanntem Ratschlag tut man gut, auch diesen Pudding beim Essen zu
erproben. Und man wird finden, daß Pallens seine Frage mit Unrecht
verneint hat.
Am 9. und 22. Oktober
1915 veröffentlichte ich in der „Arbeiterjugend" einen Artikel
„Philosophie und Sozialismus". Als ich 1916 nach Duisburg
übersiedelte, erfuhr ich, daß die Duisburger jugendlichen
Abonnenten der „Arbeiterjugend" sich in stundenlanger Debatte über
meine Arbeit unterhalten hatten, ehe sie ahnten, daß sie den Autor
jemals selbst kennenlernen würden, also aus rein sachlichem
Interesse. Wenn es möglich ist, unsere Jugend für die Philosophie
zu interessieren, wird es erst recht gelingen, die Reiferen zu
ernsthafter Beschäftigung mit der Philosophie zu veranlassen.Was
ich von der Hegeischen Philosophie hier behauptete, gilt von
jeder, daß man hinter ihre mit unverständlichen Ausdrücken
gespickten Geheimnisse ganz leicht kommt, „wenn man den Kern der
Sache aus dem Ballast überflüssiger „Gelehrsamkeit" herausschält".
Damit ist es freilich nicht getan, daß man die philosophischen
Fachausdrücke in die deutsche Sprache übersetzt und etwa ein neues
Wort für „Logik", für „Materialismus", für „Idealismus" usw.
prägt. Es kommt nur darauf an, daß man in einem Vortrag, in einem
Artikel, in einem Buche nicht mehr zu sagen sich entschließt, als
der enge Raum und die knappe Zeit es gestatten. Joseph Dietzgens
gewaltige Verdienst lag nicht darin, einen „weiteren" Marxismus
begründet zu haben, wie bekanntlich eine Gruppe von
Schriftstellern nachzuweisen sich bemüht, sondern in der
Faßlichkeit, mit der er die philosophische Seite des
wissenschaftlichen Sozialismus bearbeitete. Je weniger man als
bekannt voraussetzen darf, um so eingehender wird man jeden
Begriff zu klären haben. Sowohl Paulsens' wie Wundts' „Einleitung
in die Philosophie" gibt manche Handhabe dafür, wie man es machen
muß, um ohne Oberflächlichkeit „populäre Philosophie möglich" zu
machen.
Philosophischer
Schulung bedürfen wir schon deshalb, um uns besser in den
Meinungsverschiedenheiten zurechtzufinden, die innerhalb der
Partei ausgebrochen sind und eine Minderheit veranlaßt haben, es
bis zur Parteispaltung zu treiben. Wer die dialektische Methode
nicht richtig anzuwenden versteht, sieht, wie Bernstein einst in
seinen „Voraussetzungen", in Hegels Dialektik bloße Fallstricke,
statt die Fallstricke in seinen eigenen Folgerungen zu suchen. Die
„dialektische Methode" ist nichts anderes wie die Erforschung
aller Forschungsgegenstände in ihrem Zusammenhang sowie in ihrem
Werden und Vergehen. Es macht wirklich keine Schwierigkeit, sowohl
die Notwendigkeit wie den Unterschied der formalen Logik und der
dialektischen Logik zu verstehen. Daß der Grundsatz der formalen
Logik: „Jedes Ding ist sich selbst gleich" von uns gewöhnlich
angewendet werden muß, um uns zurechtzufinden, begreift jeder mit
Hilfe seines „gesunden Menschenverstandes", Zug um Zug. Wenn man
nicht von dem Vorurteil ausgehen soll, daß jedes Ding sich selbst
gleicht, kommt man in den Aussagen über die Dinge offenbar schwer
weiter. Nur muß man sich klar sein, daß jener Satz von uns nur
vorausgesetzt wird, um unser Denken bis zur Erreichung vorläufiger
Resultate zu fördern. Jeder sieht mühelos ein, daß nichts sich
selbst gleich ist, weil alles sich ununterbrochen verändert. Für
Menschen, die dem ständigen Stoffwechsel unterliegen, ist sicher
kein gewaltiger Denkprozeß nötig, um einzusehen, daß ich zwar
immer ich bin, weil ich das Nacheinander meiner wandlungsreichen
Existenz mit meinem Mitmenschen als „ich" zu bezeichnen
übereingekommen bin, daß aber „ich" nicht gleich „ich" ist. Da die
Beobachtung lehrt, daß auch nichtorganische Dinge sich ständig
ändern, zum Beispiel mit der Erde, auf der sie liegen, ihren Ort
wechseln, ist es klar, daß streng genommen die Voraussetzung der
formalen Logik falsch ist und daß es einer dialektischen Logik
bedarf, für die nichts sich selbst gleicht, weil alles in
ständigem Flusse sich befindet. Die Logik der Tatsachen widerlegt
die Tatsachen der Logik, das heißt der
formalen Logik, deren man zur Orientierung oft genug bedarf, zum
Beispiel um nicht zu bezweifeln, daß l gleich l und 2X2 gleich 4
ist.
Die dialektische Methode führt zu der Erkenntnis, daß in allen
Dingen, Begriffen und Vorgängen „Widersprüche" vorhanden sind, das
heißt Erscheinungen, die im Kontrast zueinander stehen. Nie ist
ein einzelner Mensch ohne solche „Widersprüche", denn niemand ist
sich selbst gleich, und in „Widersprüchen" bewegt sich schon jedes
einzelnen Denken, das in einer Diskussion des Individuums mit sich
selbst besteht. Aber die in den Dingen, den Begriffen, den
Vorgängen vorhandenen „Widersprüche" sind keine im landläufigen
Sinne dieses Wortes, nicht Erscheinungen, die nicht zusammen
existieren können, also einander ausschließen. Ohne Gegensätze ist
daher auch keine Partei möglich. Aber die Erfahrung lehrt, daß in
Natur, Gesellschaft und Wissenschaft die miteinander ringenden
Gegensätze zu einer Einheit in höherer Form zu führen pflegen.
Das ist es, was in der Sprache Hegels und unserer Meister als
„Negation der Negation" bezeichnet wird. Nie stimmen zwei
Erscheinungen vollkommen überein, nie sind Unterschiede „absolut"
oder vollständig. Der Weg zur Macht, auf dem das Proletariat
vorwärtsschreitet, kann durch die Parteispaltung hindurchführen,
weil die Gegensätze innerhalb der Sozialdemokratie, obwohl sie
zusammengehören, in zwei Parteiorganisationen aufeinander-stoßen
können, ehe sie sich zur höheren Einheit zusammenfinden. Wer aber
nicht nur die Gegensätze, sondern auch die Übereinstimmungen, wer
nicht nur einen augenblicklichen Zustand, sondern das Werdende,
nicht nur das Verhalten der Parteien, sondern auch die
Zusammenhänge, die dieses Verhalten bedingen, erkennt, kurz, wer
die dialektische Methode im politischen Leben folgerichtig
anwendet, wird das trotz der inneren Gegensätze zusammengehörige
Proletariat nicht auseinanderzureißen trachten und dadurch seinen
Aufstieg auch nur vorübergehend hemmen. Nur wer infolge von
Unkenntnis oder mangelhafter Anwendung der Dialektik im Trennenden
nicht das Übereinstimmende, in dem Verhalten der Fraktionen
lediglich eine von falschen Überzeugungen geleitete Willkür statt
die durch die proletarische Klassenlage und wirtschaftlichen
Verhältnisse bedingte Notwendigkeit sieht, kann glauben, seine
Überzeugung nicht der Einheit der geschichtlichen Aktion
unterordnen zu dürfen.
Editorische
Hinweise
Der Text wurde
erstveröffentlicht in: Die Neue Zeit, 1918, Jahrgang 36,
Band 1, S. 468-473
Der Autor gehörte
zwar zur Parteilinken, verblieb aber dennoch in der SPD, als
sich die USPD gründete. Er verließ die SPD 1932 und trat der neu
gegründeten SAPD bei, in der sich Sozialdemokraten sammelten,
die gegen den aufstrebenden Faschismus eine Einheitsfront mit
der KPD anstrebten.
OCR-Scan red
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