Aus den Banlieues in ein anderes Leben bomben?

von Bernhard Schmid

07/05

trend
onlinezeitung

10 Jahre vor London: "Hausgemachte Terroristen" in Frankreich ­ ein "Import" oder vielmehr Produkt der "westlichen" Gesellschaft?  

In den letzten Tagen zeigten sich britische Medien und Medien entsetzt von der Entdeckung: Die vier mutmaßlichen Attentäter, die identifiziert werden konnten, waren britische Staatsbürger. Obwohl pakistanischer Herkunft, waren sie in England geboren und aufgewachsen. Damit schien sich ihr "Kampf gegen unsere westliche Zivilisation und Lebensweise" in neuem Licht darzustellen. Fragen über Fragen stellen sich nun: Sitzt der vermeintliche Hass auf die westliche, liberale, individualistische Kultur etwa in den Chromosomen? Haben wir es mit angeborenen Monstern zu tun? Oder produziert die westliche Gesellschaft gar selbst jene destruktiven Energien, welche potenziell perfekt "integrierte" junge Männer zu Selbstmördern werden ließen, die über 50 ­ willkürlich getroffene ­ Menschen mit in ihren eigenen Tod rissen?  

Derzeit ist die Rede von einer "völlig neuen Situation" oder ­ wie ’Le Figaro' und ’Libération' vom 13. Juli 05 unisono schrieben - einer "Premiere in Westeuropa". Dies übersieht völlig, dass es Präzendenzfälle von in Westeuropa geborenen oder jedenfalls aufgewachsenen, als islamistisch eingeordneten Attentätern gibt. Auch in diesen Fällen wurden mitunter willkürlich herausgesuchte Personen, etwa Fahrgäste in öffentlichen Transportmitteln, zu Opfern. Vielleicht geben uns die Personen, die hinter den damaligen Anschlägen standen, nähere Auskunft über die Hintergründe.  

Im Sommer und Herbst 1995 fand eine Serie von ­ erfolgten oder vereitelten - Bombenanschlägen in Frankreich statt. Auch damals waren vor allem (aber nicht allein) öffentliche Verkehrsmittel das Ziel der Attentäter. Im Unterschied zu den Anschlägen von London vom 7. Juli 2005 kamen allerdings zehn Jahre zuvor in Paris keine Selbstmordattentäter zum Einsatz. Die Ausführenden der Anschläge, die später durch die Elektromagnetstreifen ihrer Metrotickets sowie teilweise ihre Fingerabdrücke identifiziert werden konnten ­ mehrere direkt an der Tatausführung Beteiligte wurden 1998 in Paris verurteilt -, hatten ihre Bombenpakete unter Sitzen versteckt und selbst anschließend die Metro oder den Vorortzug verlassen.  

Der erste Sprengsatz explodierte am 25. Juli 1995 in der Station Saint-Michel des Pariser Vorortszugs RER, mitten im historischen Zentrum der französischen Hauptstadt. Acht Menschen starben und 200 wurden verletzt. Die Polizeidienste waren nunmehr gewarnt. Das konnte weitere Anschläge nicht verhindern, einige wurden aber vereitelt. Im August 1995 wurden unter anderem eine Bombe im Hochgeschwindigkeitszug TGV zwischen Paris und Lyon und ein weiterer Spengkörper vor einer jüdischen Schule im Lyoner Vorort Villeurbanne entschärft.  

Einen Monat später wurde der Hauptverdächtige im Umland von Lyon durch die Polizei gestellt: Der 25jährige Khaled Kelkal, dessen Fingerabdrücke auf einem Klebeband auf der Bombe im TGV gefunden worden waren. Am 29. September 1995 wurde er in einem Waldstück bei Maison-Blanche, in der Nähe von Lyon, erschossen. Ein anwesendes Kamerateam des französischen Fernsehens sprach im Anschluss von einer regelrechten Hinrichtung, da dem ­ im Anschluss an eine Schießerei - bereits schwer verletzt am Boden liegenden Khaled Kelkal in den Rücken geschossen worden sei. Das sorgte für eine kurze Polemik mit dem damaligen Innenminister Jean-Louis Debré, derzeit Parlamentspräsident der französischen Nationalversammlung. Am 6. Oktober 1995 detonierte eine neue Bombe in der Pariser Metro-Station Maison-Blanche, höchstwahrscheinlich eine Anspielung auf den Ort, an dem Khaled Kelkal zu Tode gekommen war. Der Anschlag, der 18 Verletzte hinterließ, erfolgte zeitgleich zur Beerdigung von Kelkal. Am 17. Oktober wurden weitere 30 Menschen bei einer Explosion im RER-Bahnhof Musée d¹Orsay in Paris verletzt. Doch 14 Tage später aber wurde eine Kleingruppe militanter Islamisten im nordfranzösischen Lille verhaftet, die nach Polizeiangaben bei den Vorbereitungen für ein Bombenattentat auf einen Wochenmarkt ertappt wurde. In der Folgezeit fanden keinen weiteren Anschläge statt, abgesehen von einer Explosion 13 Monate später, die am 3. Dezember 1996 drei Personen in der Pariser RER-Station Port Royal tötete.  

Die "Kelkal-Affäre" war aber mit dem Tod dieses mutmaßlichen Protagonisten der 1995er Anschlagsserie nicht abgeschlossen. 10 Tage nach seinem Tod publizierte die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde auf drei vollen Zeitungsseiten ein langes Interview, das der deutsche Soziologe Dietmar Loch im Jahr 1992 aufgenommen hatte. Dietmar Loch, der für die Universität Bielefeld tätig war, hatte 1991/92 ein volles Jahr lang in den Banlieues (Trabantenstädten) von Lyon gearbeitet und über Jugendliche aus Migrantenfamilien geforscht. Der Interviewte war niemand anders als der damals 22jährige Khaled Kelkal. Der deutsche Soziologe hatte ihn an seinem Wohnort in der Lyoner Vorstadt Vaulx-en-Velin getroffen.  

Khaled Kelkal wurde 1971 in Mostaganem, an der westalgerischen Mittelmeerküste, als viertes von insgesamt zehn Kindern geboren. Als Zweijähriger kam er nach Frankreich, wo sein Vater bereits seit 1969 als Arbeiter beschäftigt war. Er wuchs in Vaulx-en-Velin auf, einer jener Schlafstädte mit zahlreichen Hochhäusern, hohem Immigranten-, Armen- und Erwerbslosenanteil, in den sich zahllose soziale Probleme konzentrieren. Im Gegensatz zu den Schwarzen-"Ghettos" vieler US-amerikanischer Großstädte handelt es sich dabei aber nicht um "ethnisch" strukturierte Wohngebiete, sondern um Zonen, in denen all diejenigen abgeschoben werden, die in den städtischen Zentren von Paris oder Lyon die horrenden Mieten nicht mehr bezahlen können. Vaulx-en-Velin wurde zum Symbol der daraus resultierenden sozialen Spannungen, nachdem es dort im Oktober 1990 zu ­ für die damalige Zeit noch spektakulären ­ Unruhen gekommen war.  

Khaled Kelkal schien anfänglich dafür prädestiniert, aus der Banlieue heraus- und zu einem besseren Leben zu kommen. Als guter Schüler gelang ihm nach dem collège (Mittelschule) der Sprung auf das lycée (Oberschule) ­ in Frankreich besteht zwar kein dreigliedriges Schulwesen wie in der Bundesrepublik, aber am Ende des collège wird streng sortiert, um zu entscheiden, wer auf die Oberschule gehen kann und wer nicht. Migrantenkinder wurden durch die "Orientierungsberater" (conseillers d¹orientation) lange Zeit bevorzugt auf das Berufsschulwesen, statt auf das lycée, verwiesen.  

Doch nunmehr erlebte der jugendliche Khaled zum ersten Mal, welchen riesigen Unterschied es machen kann aus der Stadt Lyon ­ wo die Oberschule liegt - oder aus der Banlieue zu kommen. Er würde Dietmar Loch erzählen: "In meiner Klasse gab es nur Reiche. (...) Sie hatten noch nie in ihrem Leben ’einen Araber' gesehen, und sie sagten selbst: ’Offen gesagt, du bist der einzige Araber, den wir kennen'..."  

Auf dem lycée, diesen Satz wiederholt Kelkal in dem Interview immer wieder und wieder, "habe ich meinen Platz nicht gefunden". Gegen den ausdrücklichen Rat seiner Eltern bricht er die Schulausbildung ab: "Ich hatte die Möglichkeiten, die Fähigkeiten dazu, aber rein gar nichts motivierte mich zum Weitermachen..." Mit einigen Freunden begeht er Einbrüche und kleinkriminelle Delikte, deswegen muss er Erfahrungen mit der französischen Justiz und mit dem Gefängnis machen. Er wird dem deutschen Soziologen erzählen: "Offen gesagt, uns als Araber liebt die Justiz nicht"; er hat den Eindruck, dass die Herkunft sich de facto strafverschärfend auswirkt.  

In der Zelle sitzt Khaled Kelkal ein Jahr lang zusammen mit einem anderen "Araber". Von ihm lernt er zum ersten Mal, richtig Arabisch zu sprechen und die moslemische Religion zu kennen. Bisher hatte er weder mit der Sprache noch mit dem Islam viel zu tun gehabt ­ was klar gegen die These vom "angeborenen" Charakter des vermeintlichen "islamischen Fanatismus" sprechen dürfte. Als die Sprache auf diese Periode kommt, werden die Gedanken Khaled Kelkals in dem Interview reichlich obskur: "Einer der größten Professoren für Astronomie in Japan hat bezeugt, dass der Koran die Stimme Gottes sei. Ein großer NASA-Gelehrter hat es ebenfalls bezeugt..." Das klingt ziemlich stark nach jemandem, der Anhaltspunkte oder "Beweise" für seinen neu angenommenen Glauben zur Rechtfertigung benötigte, aber nicht eben nach jemandem, dem der Glaube "in die Wiege gelegt" worden wäre.  

Ein weiterer Gedanke, der in dem Interview stark hervortritt, ist folgender: "Ich will Frankreich ganz verlassen, für immer, zu mir nach Hause gehen, nach Algerien." Das war aber in den frühen 90er Jahren nur unter hohen Risiken denkbar, da das nordafrikanische Land just in jenen Jahren im Bürgerkrieg zu versinken begann. Es ist nicht genau bekannt, warum Kelkal nicht in jene "Heimat" ging, die er selbst nicht kannte. Mehrere Jugendliche, die Le Monde parallel zur Veröffentlichung des Kelkal-Interviews interviewte, bezeugten jedoch, "mancher" habe dieses Traum gehabt, "aber alle sind hierher zurückgekehrt".  

Le Monde veröffentlichte dieses Interview begleitet von einem Kommentar, der unter der bemerkenswerten Überschrift stand: "Khaled Kelkal, Opfer des ordinären Rassismus." Eine Rechtfertigung der Anschläge, die damals fast alle Franzosen und Französinnen erschreckten und potenziell treffen konnten, war damit sicherlich nicht intendiert. Sie enthält aber ein wesentliches Stück Wahrheit, will man die ­ kurze - Lebensgeschichte eines Khaled Kelkal annährend verstehen. Dennoch geben die Ausführungen aus dem Interview allein noch keine hinreichende Antwort darauf, wie er in die Vorbereitung solch blutiger Attentate verstrickt werden konnte.  

Die Antwort darauf hängt mit der Organisationsstruktur der algerischen GIA (Groupes islamiques armés, Bewaffnete islamische Gruppen) zusammen. Diese politisch-terroristische Bewegung, die in Algerien zahlreiche Morde an der Zivilbevölkerung zu verantworten hat, versuchte ab 1994 die ehemalige Kolonialmacht Frankreich zu treffen und dadurch in den algerischen Bürgerkrieg hinein zu ziehen, als wichtiges Symbol dafür, dass die "gottlosen Machthaber" in Algier mit den ehemaligen Kolonialherren im Bunde stünden. Deswegen unternahmen die GIA logistische Anstrengungen, um Brückenköpfe in Europa zu installieren. Von Brüssel aus wurden ihre Aktivitäten durch Ali Touchent koordiniert, der Ende der 90er Jahre ­ folgt man den offiziellen Angaben ­ in der Nähe von Algier bei Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften getötet wurden. Ein weiterer Schwerpunkt der GIA in Europa lag in London. Dort wurde Raschid Ramda, der ebenfalls der Beteiligung an den Attentaten auf französischem Boden verdächtigt wird, festgehalten, aber erst seit den jüngsten Anschlägen in London erklärte der britische Staat sich im Juli 2005 zu seiner Auslieferung an Frankreich bereit. Aber auch wenn die GIA einige ihrer Kader nach Europa eingeschleust hatten, so waren sie zur Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen offenkundig doch auf in Frankreich aufgewachsene Nachfahren von Migranten als "Fußvolk" angewiesen. Die französische Gesellschaft hatte allem Anschein nach genügend solcher Menschen an den Rand gedrängt, dass ein Rekrutierungspotenzial zur Verfügung stand.  

Ein zweiter Fall  

Im Dezember 1996 kamen in Paris 37 jugendliche Islamisten vor Gericht - Immigrantenkinder, die von einem "harten Kern" islamistischer in den Banlieues von Paris sowie Orleans rekrutiert worden waren. Diese Jugendlichen wurden in militärische Trainingslager in Afghanistan und Pakistan verschickt, wo sie den Umgang mit Waffen und Sprengstoff erlernten; viele von ihnen kehrten vorzeitig zurück, weil sie von den dazu erforderlichen Mathematik- und Physikkenntnissen überfordert waren. Vier Gruppen wurden schließlich nach Marokko entsandt, um den religiösen Krieg gegen das »ungläubige« Regime des Königs Hassan II. zu entfachen. Die erste Gruppe in Marrakesch schoß am 24. August 1994 in die Halle eines Hotels und tötete dabei zwei spanische Touristen, eine Französin wurde schwerverletzt. Eine andere Gruppe in Fez versuchte einen Taxifahrer auszurauben und schoß auf eine sie verfolgende Polizeistreife. Die dritte Gruppe in Casablanca schoss auf die Mauern eines jüdischen Friedhofs; ursprünglich war vorgesehen gewesen, auf an der Friedhofsmauer betende Juden anzulegen. Das letzte Kommando in Tanger - es sollte auf am Strand liegende Touristen schießen -- verzichtete darauf, in Aktion zu treten.  

Die 37 Angeklagten von Paris, die überwiegend logistische Hilfeleistungen verichtet hatten, wurden wegen »Gründung einer terroristischen Vereinigung« angeklagt, die Aktivsten unter ihnen wurden deswegen zu zehn Jahren Haft verurteilt. Gegen zwei de Angeklagten wurde jedoch in Abwesenheit verhandelt - sie saßen wegen der Schüsse auf die Touristen von Marrakesch bereits in marokkanischer Haft, theoretisch droht ihnen die Todesstrafe.  

Einer der beiden ist der 22jährige Stephane Alt Idir, ein Kind algerischer Immigranten. Über seine Beweggründe, den »Glaubenskrieg« aufzunehmen, kann man Näheres erfahren, was wiederul einige schnellgefaßte Urteile über die »von Natur aus fanatischen Muslime« widerlegen dürfte, ja nahelegt, dass französischen Gesellschaft ihn zu dem machten, was er - in seiner Jugendzeit weder gläubiger Moslem, noch der Regeln der Religion oder der arabischen Sprache mächtig - geworden ist.  

Im Februar 1991 hatte er ­ ähnlich wie im folgenden Jaahr Khaled Kelkal - akzeptiert, auf die Fragen einer Gruppe von Universitätssoziologen zu antworten, die an einer Untersuchung über die Banlieues arbeiteten. Seine damaligen Antworten wurden am 18. Dezember 1996 durch die linke bzw. den Grünen nahe stehende Satire- und Wochenzeitung Charlie Hebdo publiziert.  

Stephane, der in der Plattenbausiedlung Cité des 4.000 in der nördlichen Pariser Vorstadt La Courneuve lebte, beschreibt darin »seine« Banlieue: "Scheiß-Courneuve. Es gibt uns (die Jugendliche) die Bullen, die Dealer und die Arbeitslosigkeit..." Befragt, ob er eine glückliche Kindheit gehabt habe, kommt kein wirkliches Idyllegefühl bei ihm auf: "Meine Eltern lebten und gaben uns zu essen, gerade so, daß wir nicht verhungerten. (...) Glücklich oder nicht, der Alte hielt uns kurz. Das ist nicht die zarte Methode, so ein Faustschlag. Bei uns wird ordentlich zugeschlagen, die Erziehung, man muß auf den rechten Weg kommen..." Es folgt die Frage nach der Rolle der (muslimischen) Religion. Der Sohn nordafrikanischer Immigranten antwortet: "Mein Vater ist Moslem, er glaubt nicht allzu sehr dran, aber er befolgt den (Fastenmonat) Ramadhan. Mich würde das nicht allzu sehr anmachen, aber man muß trotzdem in seiner Rasse bleiben, ich heiße Stephane, zum Teufel, und trotzdem glaubt mir keiner, dass ich Gallier" ­ der Spitzname für die gebürtigen Franzosen ­ "sei! Einmal habe ich einen Job gesucht (...), ich habe mich vorgestellt, und der dicke Gallier sagte, bevor er mich ein Wort sagen hörte: Ich will keine Probleme. Ich war ein Problem, weil ich Araber war..."  

Es folgt eine Nachfrage der Sozialforscher, ob er die Regeln der muslimischen Religion kenne. "lch glaube an Gott, aber darüber hinaus habe ich keine Ahnung. Den Koran wage ich nicht mal anzufassen, ich kann kein Arabisch. Das ist heilig, der Koran, man muß clean sein, um ihn anzufassen. Die Alten" - gemeint sind die Kader des Islamismus, die manche Vorstädte abklappern ­ "die zu uns kommen, um uns von der Religion zu erzählen, ich höre ihnen zu. Manchmal sage ich mir, daß wir auf dem Planeten Mars leben und die auf dem Mond. (...) Sie zitieren den Koran von einem Ende zum anderen. Das sind Burschen, die uns doch Gutes wollen." Später stellt der Immigratensohn fest, daß diese Kader "selbst den Galliern in der Siedlung den Kopf verdrehen."  

Ein einziges Mal sei er in einer Moschee gewesen, "es waren drei Alte da, einer von ihnen ein (zum Islam) konvertierter Gallier. Er hat uns zwei Stunden lang die Moral gepredigt. Das war gut, ich war wie... wie soll man sagen... Ich fühlte mich klein und unwissend. Er wußte alles von der Religion. Ich hatte einen Kumpel, der auf den Trip kam, er ist jetzt 24 Stunden am Tag Gläubiger geworden, er steckt seine Nase nicht mehr in die Siedlung."  

Einige Monate später würde auch Stephane "24 Stunden am Tag Gläubiger" geworden sein, der ­ angeblich - für die Religion zu töten bereit war. Oder vielleicht für das, was er für einen Traum vom besseren Leben hielt...  

Allererste Schlussfolgerungen  

Es ist noch zu früh, Parallelen und Unterschiede zu den Londoner Bombenanschlägen heraus arbeiten zu wollen. Denn noch sind zu wenige Einzelheiten über die, aus Leeds in Nordengland stammenden, wahrscheinlichen Attentäter bekannt.  

Dennoch lassen sich zumindest ein paar grundlegende Lehren aus der Vita der französischen Attentäter von 1995 ziehen, die (vorbehaltlich genauerer Kenntnisse über jene der jungen Briten pakistanischer Herkunft aus Leeds) möglicherweise auf andere Kontexte übertragbar sein könnten.  

Es kann dabei nicht darum gehen, die Beteiligten an den grauenhaften Attentaten zu rechtfertigen, in eindimensionaler Weise als "arme unschuldige Opfer" zu präsentieren oder ihnen jegliche Entscheidungsfreiheit abzusprechen. Auch nicht darum, sie in dem Sinne zu "verstehen", dass man ihnen (geistig) auf die Schulter klopfen und dabei sagen könnte: "Ich verstehe Euch so gut, jeder hätte an Eurer Stelle so handeln müssen". Die von ihnen gewählte Handlungsoption, die sich ihnen (als menschlichen Subjekten) als eine unter vielen Handlungsalternativen anbot, bleibt ebenso schrecklich wie "sinnlos". Sinnlos in der Bedeutung von: lediglich Opfer, aber keinerlei positive Veränderung irgendeiner Art nach sich ziehend. Wohl aber muss es darum gehen, ihren Hintergrund zu "verstehen" im Sinne von: geistig zu durchdringend, um mögliche Ursachen zu erkennen. Selbstverständlich bleibt eine Ursache, die sich als solche herausarbeiten und darstellen lässt, im wirklichen Leben nie völlig isoliert. Sie bildet stes zusammen mit anderen Faktoren, von denen einige in den handelnden Subjekten (oder denen, die sie aktiv manipulieren) begründet liegen, ein Ursachenbündel oder ­knäuel.  

Also, nun zu den möglichen Lehren (deren Verallgemeinerbarkeit noch bestätigt werden muss).  

Erstens: In den Fällen der als islamistisch konnotierten Attentäter, die in Frankreich geboren und/oder aufgewachsen waren, zeigt sich, dass es sich nicht unbedingt um Leute handelt, die von Anfang bis Ende "ganz unten" waren. Khaled Kelkal zum Beispiel besaß in seinem Leben phasenweise reale Aufstiegschancen, die auf der Oberschule dann aber zunichte wurden ­ aus einem Knäuel von äußeren (Diskriminierung, Ausgrenzungsgefühl) und inneren (Motivationsverlust, Kontakt mit Freunden auf der "schiefen Laufbahn") Ursachen heraus. In ähnlicher Weise scheint es auch für den niederländisch-marokkanischen Attentäter, der im November 2004 den Regisseur Theo Van Gogh tötete, einen "Knick" in seinem persönlich-gesellschaftlichen Entwicklungsweg gegeben zu haben. (Vgl. http://www.berlinonline.de)

Man kann daher die folgende Hypothese aufstellen: Besonders solche jungen Leute sind anfällig für die Agitation von Gruppen, die mit islamistischer Ideologie hantieren und zu Gewalt erheblichen Ausmaßes bereit sind, die in ihrem Leben Chancen zur Integration als "normales" Mitglied der Mehrheitsgesellschaft scheitern sahen. Dafür sind mutmaßlich solche Personen anfälliger, die reale Aufstiegschancen besaßen und sie "platzen" sehen mussten - als solche, die schon immer "ganz unten" waren und sich darauf einrichteten, dort zu bleiben. Die subjektive Erfahrung, mit einer "unsichtbaren Mauer" konfrontiert zu werden und an ihr zu scheitern, wobei die Barriere mit der eigenen (migrantischen, "islamisch" konnotierten) Herkunft in Verbindung gebracht wird, spielt eine erhebliche Rolle. Diese Erfahrung mit der "unsichtbaren Mauer" ist es, die im Anschluss ­ unter Umständen - ideologisiert werden kann, indem der Betroffene eine radikale Differenzideologie annimmt. Ein solches Ideologieangebot machen radikal-islamistische Gruppen, die ihrem Publikum erklären, dass sie als Anhänger des "wahren Glaubens" in der Konfrontation mit einer "ungläubigen und deswegen von Unrecht erfüllten Gesellschaft" stünden.  

Zweitens: Neben dem subjektiven Hintergrund der unmittelbar Beteiligten darf deswegen auch die Rolle organisierter "harter Kerne" nicht vernachlässigt werden. Dabei verkörpern die jungen Personen, die unmittelbar an der Ausführung von Attentaten beteiligt sind (Khaled Kelkal war bei seinem Tod 25, einer der Attentäter von London war kaum 19!), wohl oftmals eher das "Kanonenfutter". Neben ihnen gibt es die Kader, die älter und erfahrener sein dürften. Im Falle der Attentate auf französischem Boden waren diese Kader aller Wahrscheinlichkeit nach die GIA ("Bewaffnete Islamische Gruppen") tätig, deren mörderische Praxis in Algerien hinreichend bekannt ist.  

Drittens: Eine weitere Schlussfolgerung drängt sich auf. Die Vita vieler der auf französischem Boden geborenen Attentäter belegt, dass es sich nicht um Personen handelt, die von ihrer Familiengeschichte her als "Moslems" geboren und aufgewachsen, also "schon immer" solche waren. Vielmehr ist regelmäßig ein Bruch mit den Vorstellungen aus dem familiären Milieu zu verzeichnen, wobei letztere als "Unkenntnis des (wahren) Islam" dargestellt werden. Das bedeutet im Kern: Die islamistische Ideologie, die sich die jungen Attentäter zu eigen machten, ist nicht ein Überbleibsel überkommener, traditioneller Ideologie, im Sinne einer Radikalisierung des (wenig politisierten) "Alltagsislam" der Eltern. Vielmehr "rutschen" diese junge Menschen in diese Ideologie so hinein, wie andere junge Leute in "westlichen" Gesellschaft in diverse Sekten hineinschlittern. Dabei sind sicherlich in beiden Fällen subjektive Faktoren ­ wie unverarbeitete Brüche im Leben, Übergangskrisen (im Falle sehr junger Personen vielleicht beim Übergang ins Erwachsenenleben), das Gefühl des "Zurückgesetztseins"... ­ von hoher Bedeutung. Demnach hätten wir es also eher mit einem militant-aggressiven, politisierten Sektenphänomen denn mit einem Ausdruck "des Islam an und für sich" zu tun.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 15.7.2005 zur Verfügung gestellt. Ein Teil des Textes erschien am 14. Juli 2005 im Internet-Magazin "telepolis". Seitdem ist der letzte Teil, mit einigen allgemeineren Schlussfolgerungen, neu hinzugekommen.