Sonderthema
Neuwahlen & "Links"partei

Guten Morgen, Gespenst!

Annäherungen an das jähe Erscheinen eines Parteiprojekts
von Rainer Rilling und Christoph Spehr

07/05

trend
onlinezeitung

»Das erste Substantiv des kommunistischen Manifests, und diesmal im Singular, ist ›Gespenst‹: ›Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.‹«
Jacques Derrida, »Marx’ Gespenster«, 1995

»Was fehlt, ist das Gespenst« – so hatten wir wenige Tage vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen eine politische Situationsbeschreibung unter dem Titel »Die Wahl 2006, die Linke und der jähe Bedarf an Gespenstern…«[1] zusammengefasst, in der wir uns mit den Möglichkeiten eines notwendigen gemeinsamen linken Wahlprojekts für die Bundestagswahl 2006 auseinandersetzten. »Obwohl die Leistungsfähigkeit des neoliberalen Projekts sinkt, geht keine Furcht um bei den herrschenden Eliten ... Das politische Projekt, das die neoliberale Abrissfirma das Fürchten lehrt, hat die Bühne nicht betreten. Noch nicht.« – Das war vor Schröders Knaller mit der vorgezogenen Bundestagswahl. Dienstag nach der NRW-Wahl fand, seit langem geplant, eine Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Vertretern von PDS, WASG und Unabhängigen statt zur Frage eines gemeinsamen Wahl-Vorgehens. Der Saal war gerammelt voll, und ein paar Stunden vorher, wie wir jetzt erfuhren, war Oskar Lafontaine aus der SPD ausgetreten und hatte sich einem Linksbündnis aus PDS und WASG als Kandidat angeboten. Plötzlich stand das Gespenst im Raum.

WASG und PDS konnten gar nicht anders, als unverzüglich Verhandlungen aufzunehmen. Fünf Prozent sind das eine. Aber das Gespenst ist das andere. Die Erwartungshaltung, die auf die Vorstände von PDS und WASG drückt, war sofort da. Ein halbes Dutzend Aufrufe, die zu einem gemeinsamen Vorgehen aufforderten und eindringlich verlangten, die historische Chance nicht zu verspielen (auch wir verfassten einen[2]), füllten sich wie von selbst, geradezu geisterhaft, mit Unterschriften. Seither sitzt die gesamte linke Öffentlichkeit unsichtbar mit am Verhandlungstisch und räuspert sich vernehmlich, wenn ein gemeinsames Wahlprojekt wieder einmal an technischen Schwierigkeiten und taktischen Organisationsinteressen zu scheitern droht. In unerwartet kurzer Frist stiegen die politischen Kosten eines Scheiterns in solche Höhen, dass es kaum noch riskiert werden konnte.
Das Gespenst eines neuen, schlagkräftigen Parteiprojekts links von SPD und Grünen ist aufgewacht und geht um. »Das Gespenst kann man nicht machen. Es erscheint – aus den sozialen Kämpfen heraus, aus politischen Versuchen, aus einer sich verfestigenden Umdeutung der Probleme und Lösungen; und aus einer sich verbreitenden Entschlossenheit, wirklich eine andere gesellschaftliche Entwicklungsrichtung einleiten und durchhalten zu wollen. In einer Zeit, die plötzlich einen jähen Bedarf nach Gespenstern erzeugt, darf man dem Gespenst aber auch nicht im Weg stehen. Im besten Fall geht es dann einfach durch einen hindurch; im schlechtesten Fall legt es sich erst mal wieder schlafen. Der politische Wert der Linken bemisst sich daran, ob sie dem Gespenst den Weg bereitet. Für die Herausbildung eines politischen Projekts, das es endlich mit der großen Koalition des gesellschaftlichen Ausverkaufs aufnehmen kann,« hatten wir geschrieben. Schröders Neuwahl-Coup und Oskar Lafontaines Austritts-Konter haben das Gespenst gerufen; die Vorstände von PDS und WASG bemühten sich ernsthaft, ihm nicht im Weg zu stehen. Mehr noch, von fern und auch von nah sieht es so aus: sie wollten es – das Gespenst. Nicht nur Gregor Gysi hatte es schon vorher rascheln hören.

Aber die Dynamik ist eine viel größere. Das Parteigespenst – das, wissenschaftlich gesprochen, nur eine, aber eben eine notwendige Teilgestalt des Gespensts ist – bezieht seine Kraft nicht aus der taktischen Dimension. Es bezieht seine Kraft aus der gewachsenen Entschlossenheit vieler, sehr vieler Menschen, alte Fehden und Frustrationen beiseite zu schieben und es noch einmal zu versuchen. Das Fenster zu verlassen, hinter dem man sich angesichts der neoliberalen xxl-Koalition zum Zuschauen verdammt sah, und auf die Straße zu gehen, notfalls auch in die Kongresshalle einer Parteigründung, mindestens zu deren kritischer Begleitung. Das Gespenst erscheint in der Mitte einer Leere links von SPD und Grünen, von der es seit langem mächtig angerufen wurde; inmitten der trügerischen Stille, die das Abflauen der Sozialproteste und die Selbstaufgabe des linken SPD-Flügels erzeugt hatten. Das Parteigespenst ist keine verkleidete Jugendbewegung oder der lineare Ausdruck eines Sozialprotests. Eine alerte polit-aktive Alterskohorte spielt die Hebamme, darunter ein paar Rote Panther, welche Außenminister mit Spitznamen, Finanzminister mit Sachzwängen und einen Parteivorsitzenden, der den Sozialdemokraten gibt, einfach und endgültig satt haben. Die das »perverse Gesetz des Pendels« (Bertinotti) zwischen den großen Ähnlichkeitslagern SPD/ CDU brechen wollen[3]. Seine Kraft aber bezieht das Gespenst aus der Vielzahl von Leuten, die weder mit PDS noch WASG jemals etwas zu tun hatten und die in den letzten Wochen zu einem sagen: »Sag mal, wie ist das eigentlich mit diesem Linksbündnis oder dieser Linkspartei? Gibt’s die schon? Kann man da eintreten? «
Ein Gespenst schert sich nicht um 5-Prozent-Hürden, auch wenn es nicht blöde ist. Vor allem aber interessiert sich ein Gespenst nicht für Organisationsgeschichte und nicht für abgesteckte Claims. Das ist bitter, aber es ist so. Es akzeptiert auch mal Hinterzimmer und geschlossene Verhandlungen im kleinen Kreis. Aber sobald es zur Welt gekommen ist und sich zu bewegen beginnt, drängt es zügig darauf, die Wände einzureißen. Es wird sich nicht vor den Karren einer aus der Not geborenen Koalition der Sitz-Sicherer spannen lassen. Und auch nicht in den engen Brutkasten einer kontrollierten Fusion über die schier endlose Dauer einer Legislaturperiode hinweg – auch das haben die Führungen von PDS und WASG erkannt und noch eine kluge Entscheidung getroffen: 2 Jahre Zeit und nicht mehr, dekretierten sie am Tag, als Michael Stich auf Sylt Alexandra Rikowski heiratete und die Opa-Gang hohe Haftstrafen aufgebrummt bekam. Klugheit im Doppelpack – erstaunlich. Doch um es klipp und klar zu sagen: Das Gespenst wird uns allen noch deutlich mehr abverlangen. Wer glaubt, dass die Zumutungen, die sein jähes Erscheinen mit sich bringt, mit einem passenden Listenkompromiss schon zufrieden gestellt sein werden, irrt. Das gilt nicht nur für die beiden Parteien. Es gilt auch für all die, die sich jetzt schon weit vorgewagt haben und die politische Verantwortung ergriffen haben, sich für ein solche Projekt auszusprechen, oder die innerlich ausprobiert haben, wie es sich wohl anfühlen würde. Wir alle, die wir leichthin das Wort von der historischen Chance verwendet oder beiläufig abgenickt haben, werden das Gespenst nicht in die Fürsorge von PDS und WASG abgeben können. Es kommt eine anstrengende Zeit auf uns zu.

Schröders Schachzug: Chaos als letztes Manöver

Das Gespenst wirbelt die Koordinaten einer verfahrenen Situation durcheinander, die wir – noch mit Hinblick auf eine Wahl 2006 – so eingeschätzt hatten:

1. Delegitimierung der Politik. Die Vertrauens- und Glaubwürdigkeit aller parteipolitischen Akteure habe historische Tiefpunkte erreicht. Die Parteien würden sich bis zur Wahl deshalb vor allem darauf konzentrieren, die schrumpfende eigene Stammwählerschaft vom Sinn des Wählens zu überzeugen. Und nun: ein wahlpolitisches Hasadeurstück der SPD und ein neudeutscher Zauber linker Rifundazione zeigen plötzlich: da ist Politik, sie geschieht, Politik ist möglich – so oder so.

2. Lagerwahlkampf ohne substanzielle programmatische Differenz. Die Wahl werde medial von den beiden großen Parteien als »Kopf-an-Kopf-Rennen« zwischen dem rot-grünen und dem schwarz-gelben Lager inszeniert werden, während faktisch eine Koalition aller etablierten Parteien sich für die Fortsetzung der neoliberalen »Reformen«, sprich die weitere Zerschlagung des Sozialstaats und die Umverteilung von unten nach oben, einsetzt. Und nun: wo das Votum für eine rot-grüne Bundesregierung (das im September 1998 bei 53 % und im September 2002 bei 51 % Zustimmung lag) im Juni 2005 auf 23 % abgesackt ist, kann von Konkurrenz zweier Lager auf gleicher Augenhöhe zumindest kurzfristig nicht mehr die Rede sein, weshalb drei Lösungsoptionen an Kraft gewinnen: die Stärkung der Linken und der Rechten, die Sehnsucht nach der Großen Koalition und der personalisierende Kanzlerwahlkampf.

3. Politische und mediale Gleichgültigkeit gegenüber der bereits eingetretenen massenhaften Verbreitung von Armut und sozialer Verzweiflung. Die Entstehung einer »hoffnungslosen Klasse« und der schleichende Zusammenbruch der gesellschaftlichen Funktionen würden nicht geleugnet, sondern geschlossen als Beweis dafür verkauft, dass die »Reformen« noch immer nicht radikal genug seien. Die eklatanten sozialen und öffentlichen Missstände wirkten so paradoxerweise nicht als Sand im Getriebe des Sozialabbaus und der Zerstörung öffentlicher Güter, sondern als Wasser auf die Mühlen noch radikalerer Kahlschlags-, Verarmungs- und Entsolidarisierungsforderungen. Und nun: den sozialen Rissen, welche die Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV im Spätsommer und Herbst 2004 in den neoliberalen Gesellschaftszynismus hineintrieben, folgen die politischen Risse in der neoliberalen Legitimationsapparatur.

4. Unsicherheit über die weitere Existenz einer eigenständigen parteipolitischen Linken. Die durch die Vereinigung 1990 geschaffene Situation der parlamentarischen Existenz einer Partei links von SPD und Grünen, nämlich der PDS, habe nicht zur Etablierung einer wirklich gesamtdeutschen Linkspartei geführt und drohe sich zu erschöpfen. Auch der WASG werde es innerhalb des ihr zur Verfügung stehenden Zeitfensters kaum gelingen können, eine entsprechende kritische Masse zu erreichen. Für die etablierten Parteien biete die Wahl daher die Chance, durch eine Wahlschlappe der Linken deren weitere Formierung – parteipolitisch und gesellschaftlich – auf längere Zeit empfindlich zu treffen und das neoliberale Umbauprojekt bis auf weiteres gegen ernsthaften Druck von links abzusichern. Und nun? Das neue Parteigespinst.

Diese vier Koordinaten wurden durch den beschleunigten Gang der Ereignisse »seit NRW« dynamisiert. Schröders und Münteferings Weg in die vorgezogene Wahl ist geradezu ein Versuch, die Lage medial und chaospolitisch mit hohem eigenen Risiko zu »repolitisieren «. Auch die Lager bröckeln. Schröder hatte keinen Lager-, sondern einen Kanzlerwahlkampf im Sinn, in dem politische Inhalte überhaupt keine Rolle mehr spielen und der sich auf die Sekundärtugend einer sinnentleerten »Führungsfähigkeit« zuspitzt. Er hoffte dabei auf das vermeintlich angeborene Führungsvorrecht des Westmannes vor der Ostfrau und übersah, dass Merkel längst zur festen Ausstattung jedes Fernsehhaushalts gehört, an die man sich einfach gewöhnt hat; Merkel versucht demgegenüber jede inhaltliche Angriffsfläche zu vermeiden, Schröder die Hartz-Katastrophe als handwerklichen Fehler in der Durchführung anzulasten und darauf zu setzen, dass das Publikum Schröders Wandel vom Macher zum Spieler und nun zum Hasardeur nicht akzeptiert. Die Konsequenz aus dem in kürzester Frist deutlich gewordenen Scheitern dieses Schröder-Kalküls ist der erneute Schwenk zum Lagerwahlkampf, der nunmehr freilich erst recht bloß noch als Imitat herkommt und dessen linke Rhetorik (Erhöhung der Löhne, starker Staat usw.) operativ die Formierung eines linken Wahlprojekts stören soll. Die Differenz der Personen aber soll den faktischen Konsens der Politik überspielen. Die verdeckte Karte dieses Konsenses heißt in der Politik: Große Koalition – die schwarze Rückversicherung, wenn es nicht reicht, und die letzte Macher-Chance der abgewirtschafteten SPD-Macht, als dürftige Partnerin einer CDU dabei zu sein, welche zwei Monate vor der Wahl doppelt so stark ist.

Denn wenn es eine klare Botschaft gibt, welche die WählerInnenschaft der Regierung in der Serie der Landtagswahlen und der Europawahl mitteilen wollte, dann war es die: ein »weiter so« ist nicht akzeptabel. Das ist nicht dasselbe wie der klare Wunsch nach einer schwarz-gelben Regierung auf Bundesebene. Analysen der vergangenen Wahlen zeigen einen Trend, dass Wahlstimmen weniger das Vertrauen zur gewählten Partei ausdrücken, sondern mehr und mehr begriffen werden als Instrument, direkt auf den politischen Kurs Einfluss zu nehmen. Auf die eingetretene Situation hätte es demnach zwei mögliche Reaktionen für die Regierung Schröder/Fischer gegeben. Die eine wäre gewesen, das ausgedrückte Empfinden von sozialer Ungerechtigkeit und Unausgewogenheit des Kurses – also die Risse in der Deutungsmacht der neoliberalen Ideologie – zur Kenntnis zu nehmen und zu begreifen, dass die Leidensfähigkeit in Gesellschaft wie Partei erschöpft ist. Die politische Reaktion wäre die Ankündigung einer Verschiebung der Gewichte nach links gewesen – eine Agenda 2006 sozusagen, die soziale Nachbesserungen mit einem erhöhten, rechtlich operationalisierten Druck auf das Unternehmerlager verbunden hätte, Arbeitsplätze zu schaffen statt gemütlich Steuersenkungen einzustecken. Damit hätte womöglich zugleich die Gefahr eines PDS-Zuwachses oder der Bildung einer neuen Linkspartei gebannt werden können.

Die Staatssozialdemokraten Schröder und Müntefering haben sich jedoch für die andere mögliche Reaktion entschieden: da die Wunderheilung durch »Konjunkturbelebung « weder als Weihnachtsmann 2005 noch als Osterhase 2006 kommen würde, müsse eben die politische Basis des »weiter so« verbreitert werden. Das geht nur nach rechts – also große Koalition und Fortsetzung der Politik der Unbelehrbarkeit, und das letztere ist der Grund, weshalb Schröder im direkten Vergleich zu Merkel in den Umfragen jäh abgestürzt ist: wer nicht hören will, muss fühlen. Die Politik des chaotisierenden Autoritarismus, die uns in Sachen »Vertrauensfrage« dabei vorgeführt wird, erhebt nicht nur den radikalneoliberalen Bundespräsidenten zu neuer Macht, sondern belegt auch am recht jämmerlichen Ende des rot-grünen Projekts den notorischen Rechtsnihilismus der dominierenden Fraktion der alten 68er – mit Demokratie hat diese verfassungsverächtliche Manipulationskaskade nichts zu tun. Das schlimmste freilich: Niemanden schert das mehr, auch die Linke nicht.
Auch die grundsätzliche Abwehrhaltung gegen eine eigenständige Linkspartei gibt im Wirbel der »Blitzwahl « Raum für taktische Optionen. Die Union kann der Vorstellung etwas abgewinnen, dass die SPD in einer solchen Konstellation nach beiden Seiten hin verliert. Im Schröderschen Kalkül wäre, wenn das Linksbündnis schon nicht durch den Zeitdruck verhindert werden konnte, durchaus Platz für Optionen wie die, dass es Union und FDP die notwendigen Prozente für eine Mehrheit nehmen könnte und damit der Weg frei für den Hauptzweck des Manövers würde: die große Koalition; dass die SPD sich und einige soziale Korrekturen am Agenda-Kurs (gerade gegenüber der Kapitalfraktion) als notwendiges Bollwerk gegen eine linke Radikalisierung verkaufen könnte; oder dass ein nach links verschobenes Wahlkampfklima sich mobilisierend auf die eigene Stammwählerschaft auswirken könnte. Da zudem ein Wahlkampf das letzte Mittel ist, einen Laden geschlossen zu halten, dessen Leidensfähigkeit erschöpft ist, liegt die Spekulation auf eine Schadensbegrenzung nach links nahe. Funktionierte irgendetwas davon, wäre vermeintlich endlich wieder alles so, wie es jetzt auch ist.

»Friede den Türmen, Abwicklung den Hütten«

Aber wie ist es denn eigentlich? Die Aufwirbelung der Wahlsituation auf Anordnung des Kanzlers kann mit den Grundvoraussetzungen der gesellschaftlichen Lage ja nur spielen, sie kann und will sie nicht verändern. Wie also sind wir dahin gekommen, wo wir stehen – und warum kommen wir davon nicht weg?

Am Ende der Zeit des rot-grünen Projekts steht mehr Kapitalismus als an seinem Beginn – und nicht weniger. Deshalb ist die Delegitimation des Politischen, der allgemeine Eindruck der Sinnlosigkeit von Politik, den Schröder durch den Neuwahl-Krimi zu überdecken und für sich zu wenden versucht, nicht aus der Luft gegriffen. Er hat durchaus seinen realistischen Kern, eine materielle Ursache: Im neoliberalen Entwicklungspfad unterliegen die politischen Organe einem fortlaufenden Entwertungsprozess. Der Politik fehlt es an Gestaltungsmacht, weil es ihr an Verhandlungsmacht fehlt: gegenüber der Drohung mit Abbau und Verlagerung von Arbeitsplätzen, Produktionsanlagen und Investitionen ist sie fast machtlos. So akzeptiert sie in einem Zyklus globalen Lohn- und Sozialdumpings, dass das international operierende Kapital praktisch keine Steuern mehr bezahlt und von den gesellschaftlichen Reproduktionskosten (im Fordismus klassischerweise umgelegt durch die Lohnnebenkosten) Zug um Zug entlastet ist. Die Lohnkosten selbst werden durch soziale Erpressung (Arbeitszwang) und staatliche Subventionierung kontinuierlich verringert. Die Formel, die von den Konzernen und ihren medialen Sprachrohren vorbuchstabiert wird und welche die Politik unter der vorgehaltenen Pistole der Abwanderung nachbetet, lautet schlicht: Bezahlt wird nicht.

Kann das auf Dauer gutgehen? Mit der Freisetzung von Produktivkräften hat es nur noch wenig zu tun. Die konkurrierenden »Standorte« bringen sich zwangsläufig in eine Situation, die eine dauerhafte Reproduktion der materiellen Voraussetzungen von Arbeit und Gesellschaftlichkeit immer mehr zersetzt. Die radikal-neoliberale Unterwerfung aller gesellschaftlichen Teilsysteme unter das Modell betriebswirtschaftlicher (Profit-) Rationalität erodiert die gesellschaftlichen Produktivkräfte. Produktive, innovative Impulse (technologische, ökonomische, soziale, kulturelle, politische) zerbrechen. Die Entleerung der öffentlichen Kassen ist das Scharnier, über das die breite Bevölkerung auf Generationen hinaus in eine Tributpflicht gegenüber Banken und »Investoren« gebracht wird. Verschuldung und Privatisierung (Ausverkauf von öffentlichem Eigentum) schieben dieses Problem nur hinaus – das Tafelsilber wird verhökert, aber die Einnahmen fallen weiter.
Was wir erleben, ist der galoppierende Zerfall der Voraussetzungen der fordistischen Klassen- und Gesellschaftskompromisse. Ihm ist durch die Politik der Weg bereitet worden, aber er ist auch Folge materieller Entwicklungen – etwa des Wegfallens traditioneller äußerer Wettbewerbsbegrenzungen (z. B. Transportkosten, logistische Grenzen, Fehlen adäquater gesellschaftlicher Produktionsumfelder in der Dritten Welt). Eine Grenze für die ruinöse Durchsetzung des »Bezahlt wird nicht« liegt nur noch in den Produktionsbereichen, die aufgrund besonderer Umstände eng auf eine Kooperation mit ihren »Mutterstaaten« angewiesen sind – Rüstung und andere High-Tech-Exportproduktion, die wenig preiselastisch ist und einen besonderen staatlichen Schutz- und Unterstützungsbedarf hat. Deshalb wird der Prozess auch nicht »in the long run« zu einer egalitären Angleichung der individuellen und gesellschaftlichen Lebensniveaus weltweit führen. Die Türme bleiben stehen, wo sie sind; nur der Nationalstaat als »große Stadt« (integriert, urban, ein Stück weit aufgeklärt, ein gemeinsames gesellschaftliches Produktionsniveau absichernd und von einer relativen Mauer umgeben, die dieses Niveau »schützt«) wird immer neu geschleift. Das globale Verkehrsverhältnis zwischen den Türmen ist unter solchen Voraussetzungen der Krieg, und der folgt nicht den Regeln gesellschaftlich-ökonomischer Rationalität.
Das ist die Ausgangslage. Sie ist letztlich verantwortlich für die beschriebenen Grundkoordinaten. Sie hat die Voraussetzungen für ein wohlfahrtsstaatlich-keynesianistisches System alter Schule zerstört, und dies ist einer der wesentlichen Gründe für das Verschwinden der Linken in SPD und Grünen als handlungsfähige Zentren. Die Linke hat bislang gegenüber dieser Lage noch keine massenfähige Idee populär gemacht, kein neues politisches Projekt auf die Beine gestellt, das hier einen möglichen alternativen Ausweg weisen würde. Bislang.

Die Lage ist auch der Grund dafür, warum sich das Schicksal des Landes seit Jahr und Tag an der SPD zu entscheiden scheint und die anderen der etablierten Parteien eigentlich nicht wirklich interessieren. Es gibt einen starken Rest von gesellschaftlicher Verhandlungsmacht (wie die Protestbewegungen bis hin zur erfolgreichen Abwendung der neoliberalen EU-Verfassung spüren), einen kräftiges Aufeinander-Angewiesen-Sein zwischen dem Staat und gerade den mächtigsten transnationalen Konzernen, und es gibt eine Verhandlung darum, wie viel Rest von Gesellschaftlichkeit und Integration man angesichts dessen noch zugestehen will. Schröder als »Kanzler der Bosse« und die SPD als die soziale Integrationspartei schlechthin – das war nicht von ungefähr die Schlüsselkombination für die Umsetzung des neoliberalen Umbauprojekts. Die Mittelstands- Beschwörungen der Union interessieren demgegenüber einfach nicht, und das Steuersenkungs- Geschrei der FDP erscheint allen, die den Hauch einer Ahnung von der aktuellen Grundkonstellation der Macht haben, als das was sie sind: unseriös, kindisch, wenngleich deprimierend wirksam als ewiges Gerippe des Kleinklientelismus. Wenn die Union in den letzten Wahlen insbesondere in Teilen der Arbeiterschaft tief in sozialdemokratische Stammwählerschaft einbricht, ist das schön und gut, nur: was will sie damit machen? Sie weiß es nicht.

Die Krise von rot-grün liegt darin begründet, dass Schröder und Fischer ihre Parteien zu bloßen Steigbügelhaltern nackter Regierungsmacht degradiert haben. Es gibt keine soziale Integration, keinen postfordistischen Klassenkompromiss, ohne die Repräsentation breiterer, populärer Interessen und die Fähigkeit, diese gegebenenfalls auch zu mobilisieren. Die wahltechnische Erosion der SPD ist nur die gewachsene allgemeine Einsicht in die Tatsache, dass diese Partei als Partei von oben fast abgeschafft wurde und keinerlei Zukunftsfähigkeit mehr ausstrahlt (»Fast alle Länder an die Union verloren, 40 Prozent der Wählerschaft von 1998 ins Abseits getrieben, ein Viertel der Mitglieder verloren« – Ulrich Maurer, ehemaliger SPD-Fraktionschef und Parteivorsitzender in Baden-Württemberg). In ähnlicher Weise haben die Grünen die eigentliche »neue Mitte«, das postfordistische Mittelbürgertum, an den Staat verkauft und artikulieren dessen Forderungen. Kämpfen können sie darum aber nicht mehr, denn sie haben ihre Verankerung in sozialen Bewegungen stillgelegt und gekappt. Ihr Personal blinkt nur noch beim Verlassen der Tür nach links, weshalb sich erkleckliche Teile der Anhängerschaft beider Parteien nicht mehr repräsentiert fühlen – 15 % der potenziellen Wähler einer neuen Linkspartei kämen aus dem sozialdemokratischen, 21 % aus dem grünen Lager[4] .
Wegfahrsperren, Umbau, Gleichheitspolitik

Der Punkt ist: die Linke, und damit steht sie stellvertretend und repräsentierend für eine breite Koalition der sozial Vernünftigen, kann davon überhaupt nichts akzeptieren. Sie braucht eine strategische Formel, die einen anderen Weg weist, und sie braucht auch ein Parteiprojekt, das dem Kraft verleiht.

Klar ist: trotz einiger programmatischer Unterschiede und der Verschiedenheit in der politischen Geschichte und Kultur sind die Gemeinsamkeiten zwischen WASG und PDS stark und bezeichnen gemeinsam einen beträchtlichen Teil der gewachsenen Vertretungslücke, das Positionsbündel, das gegenwärtig keine fraktionelle Repräsentation im politischen System hat. Rücknahme von Hartz IV bzw. Rückkehr zu einer effektiven Sicherheit der individuellen und familiären Existenz gegen Arbeitslosigkeit; Rekonstruktion der Subjektpolitik als Entfaltung menschlicher Fähigkeiten statt als Dressur zur Marktfurcht – Bildung also; Sicherung der »commons«, d.h. der öffentlichen Güter und der öffentlichen Haushalte durch steuerliche Mehreinnahmen, sprich stärkeres Heranziehen von Unternehmensgewinnen und hohen Einkommen/Vermögen; aktive Beschäftigungspolitik durch Stärkung der Binnenkonjunktur und Subventionierung von Drittem Sektor und Kommunen anstatt durch Arbeitszwang – also ein dreifaches Bündel, das die Dimensionen von Gleichheits-, Gerechtigkeits- und Anerkennungspolitik entfaltet; endlich Demokratisierung öffentlicher Entscheidungen und verstärkte Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen; keine Teilnahme an militärischen Auslandseinsätzen – das ist das Kernprogramm.

Dies für sich genommen ist aber noch nicht das neue politische Projekt. Es ist Protest, Reparatur, Grenzziehung, Verständigung, Möglichkeitsarbeit. Es ist Transformation, auch Perspektive, aber ohne Macht und ausgreifende Sicherung. Ein neues politisches Projekt bedarf einer neuen politischen Ökonomie. Der Wettbewerb der »Standorte« ist Realität, er bedarf einer machtpolitischen und strukturpolitischen Antwort. Wo »natürliche« Wegfahrsperren für Kapital und Produktionsanlagen durch die Auflösung des fordistischen Modells erodieren, müssen neue eingeführt werden, um gesellschaftliche Verhandlungsmacht gegenüber unternehmerischen Entscheidungen neu zu begründen. Instrumente dafür mögen liegen in Formen der Kapitalverkehrskontrolle, der maßgeblichen gesellschaftlichen Beteiligung an Entscheidungen großer Unternehmen (dies auch angesichts der zunehmenden Angriffe auf die Mitbestimmung), der »Rechnungslegung« bei Verlagerung von Arbeitsplätzen und Anlagen (quasi eine Steuer auf Standortwechsel oder ein Genehmigungsverfahren), natürlich auch in der Durchsetzung von Mindeststandards in der EU und weltweit.

Erst auf dieser Grundlage macht die zweite strukturpolitische Frage Sinn: der Umbau der Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherheitssysteme. Deren Finanzierung durch die »Lohnnebenkosten« der Beschäftigten ist in der Tat überholt und wird ersetzt werden müssen durch eine direkte Besteuerung der Unternehmen nicht nach Maßgabe der Beschäftigung, sondern der Wertschöpfung. Ebenso hat angesichts der Veränderungen der Arbeit und der gesellschaftlichen Produktion die Ideologie an Kraft verloren, welche soziale Sicherung aus »Defiziten« der Individuen erklärt: Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, Armut. Es bedarf einer einheitlichen Bürgerversicherung für alle, durch die individuelle und familiäre Existenz gesichert wird, wenn dies nicht durch Einkommen geschieht. Es herrscht keine »Faulheit« in der Gesellschaft; ihre Produktivität passt nur nicht mehr in die alten Schablonen der fordistischen Arbeitsgesellschaft.

Damit wird aber der dritte Themenkomplex berührt, der in der bisherigen Entwicklung von PDS und WASG noch eher schwach ausgeprägt ist. Ein erneuerter linker Begriff von Gerechtigkeit und demokratischer Gestaltung bedarf einer Neuaushandlung durch die Basis eines solchen Projekts. Der Gerechtigkeitsbegriff, mit dem auf den staatlichen Sozialabbau reagiert wird, steckt vielfach noch in fordistischen Kinderschuhen. Natürlich ist es sozial ungerecht, dass ein Facharbeiter, der nach fünfundzwanzig Jahren im Betrieb seinen Arbeitsplatz verliert, binnen weniger Monate vor dem Nichts steht – aber ist es weniger ungerecht, dass eine Alleinerziehende, die fünfundzwanzig Jahre und länger gesellschaftliche Menschen produziert, eigentlich ständig am Rande dieses Nichts steht? Natürlich ist es ungerecht, wenn ein deutscher Beschäftigter im Fall einer Betriebspleite oder Standortverlagerung existenziell bestraft wird für etwas, wofür er »nichts kann« – aber kann eine Migrantenfamilie »mehr dafür«, wenn ihr Heimatland im Auftrag metropolitaner »Rohstoffsicherung « militärisch und/oder ökonomisch abgefackelt wurde? Arbeiten Schüler und Studierende nichts? Ist es gerecht, dass Teilhabe und Lebensniveau sich in konzentrischen Kreisen abschatten, die um die Türme der High-Tech-Produktion gelegt sind?

Und wer, wer entscheidet eigentlich über all das?

Die Werte und Ziele »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« haben in der gegenwärtigen SPD/Grünen-Allianz keinen Namen. In der Umverteilungs-Gang aus Union und FDP sind sie ohnehin eingeschmolzen in die Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung: »Sozial ist, was Arbeit schafft.« Die Linke darf sich jedoch keine Illusionen machen, ihr würde das Trademark »soziale Gerechtigkeit« einfach durch die Skandalisierung sozialer Missstände in den Schoss fallen. Es muss erarbeitet werden.

In der Hartz-Zeit stehen die PDS und offenbar erst recht die WSAG selbstverständlich für Verteilungsgerechtigkeit auch als Grundlage von Akzeptanz, Vielfalt und Hegemonie. Hier haben sie einen starken Ruf. Dieses Element, so notwendig es ist und so richtig es das sozialdemokratische Anliegen aufnimmt, das von der SPD liegen gelassen worden ist, ist aber nicht ausreichend. Ein neues linkes Projekt muss den Beweis erbringen, dass es mehr ist als eine zur Partei gewordene Abwehrschlacht. Dafür sind drei weitere Elemente einer linken Gerechtigkeits- und Gleichheitspolitik erforderlich. Das erste ist Anerkennungsgerechtigkeit. Zum Teil handelt es sich hier um ein grün-alternatives Anliegen, das von den Grünen liegen gelassen worden ist, wenn auch nicht so vollständig wie die Verteilungsgerechtigkeit von der SPD. Anerkennungsgerechtigkeit bedeutet, die Vielzahl der Lebenslagen, Lebensmodelle und individuellen Situationen und Orientierungen als gleichberechtigte Ausdrucksformen gesellschaftlicher Normalität anzuerkennen und sie von der Unterdrückung und Ausgrenzung durch die rechtlichen, ökonomischen und Alltagspraxen der Abwertung, Diskriminierung und Ungleichheit zu befreien. Die Linke muss – allgemein formuliert – für Anerkennung als Recht auf gleiche Teilhabe an sozialer Interaktion stehen und die politische Kraft sein, die sensibel ist für jede Form von Abwertung der Menschen und dagegen Front macht.

Das zweite Element eines erweiterten und erneuerten linken Gerechtigkeits- und Gleichheitsbegriffs ist Aushandlungsgerechtigkeit. Zwischen den Individuen und sozialen Gruppen, welche die Basis eines erneuerten linken Projekts ausmachen müssen, gibt es nicht nur gleichgerichtete Interessen, sondern auch Konkurrenz – Beziehungsstrukturen, wo der eine gewinnt, was der andere verliert. Das gilt zwischen dem polnischen Wanderhandwerker in Deutschland und seinem Kollegen hiesiger Nationalität ebenso wie zwischen dem immer noch vorherrschenden Allein- oder Hauptverdiener und seiner (meist) Frau, zwischen Mehrkindfamilien und Alleinerziehenden, zwischen Flüchtlingen und von Verdrängung am Arbeitsmarkt Bedrohten, zwischen der Erhaltung eines deutschen Wohlfahrtsniveaus und den niedergehaltenen Ansprüchen des Rests der Welt. Hier gibt es oft keine glatten Lösungen, hier schafft auch »soziale Sicherung plus Beschäftigungspolitik« keine heile Welt ohne Konflikte; hier ist der Ort für lange, schwierige Aushandlungsprozesse, Übergänge und Ausgleiche, in denen die Linke eine moderierende und kreative Rolle spielen, aber keine Stellvertreterpolitik beanspruchen kann.

Hieran schließt sich das dritte notwendige Element eines erneuerten linken Gerechtigkeits- und Gleichheitsbegriffs an: Verhandlungsmacht und gesellschaftliche Verhandlungsräume, also: Selbstbestimmungsgerechtigkeit. Gerechtigkeit und Gleichheit sind nichts mehr, was der Staat, so prima er auch regiert sein möge, direkt für alle schaffen kann. Stattdessen muss er die Räume ermöglichen, in denen sie verhandelt und erstritten werden, und diejenigen solidarisch und machtpolitisch unterstützen, deren Verhandlungsmacht bislang systematisch jeweils zu gering war. Mitbestimmung, z. B., ist kein Ersatz für fehlende Vergesellschaftung; sie ist Vergesellschaftung, die ihre vollständige Einlösung findet in Strukturen der gleichberechtigten Selbstverwaltung und der Verlagerung von Entscheidungsprozessen weg von Staat und »Privatbesitzern« und hinein in die reale Gesellschaft. Damit muss eine linke Gleichheitspolitik (Engler) die Konsequenz aus der Tatsache ziehen, dass Abwertungspraktiken und -kulturen, Ungleichheit und Praxen der Ungerechtigkeit allesamt eine Beziehung und ein Gefälle der Macht oder Herrschaft konstruieren oder reproduzieren. Dies ist in aller Regel das ungenannt-verborgene einfache Geheimnis der bürgerlichen und sozialdemokratischen Rhetorik der Gerechtigkeit: sie verheimlichen und entnennen dabei die immer eingeschlossene politische Dimension von Macht und Herrschaft. Politikmethodisch muss der neue Ausweg von links daher das Soziale und das Politische im machtkritischen Sinne gleichheits- und demokratiepolitisch miteinander verknüpfen. Er muss so auch in der Substanz das Soziale als Kern der allgemeinen Würde des Menschen (Selbstbestimmung) aufgreifen.

Wie gut die neue linke Partei hier sein wird, muss sie erst noch beweisen – der kritische Einwurf aus dem grünen Lager, hier werde sie scheitern, muss ernst genommen werden. Wie gut die neue linke Partei hier sein wird, wird sich aber nicht an Programmen und auch nicht am Namen entscheiden – sondern daran, wie breit sie sein wird, wie demokratisch sie sein wird, wie viel von der lebendigen Vielgestalt des Gespensts in sie hineinpasst – und hineinwill.

Das »weiland rote Gespenst«[5]

Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass ein zwischen PDS und WASG ausgehandelter Kompromiss für eine gemeinsame Wahlliste ein ebenso erfreulicher wie in keiner Weise ausreichender Schritt ist. Die Begründung einer neuen, gesamtdeutschen Linkspartei darf nicht nur als Kompromiss zwischen den parteipolitischen Interessen von PDS und WASG gefunden werden. Sie muss geboren werden in einem öffentlichen, transparenten Prozess, der weitere interessierte Teile der Linken und der sozialen Bewegungen einschließt und der offen ist für jede und jeden, der in dieses Projekt jetzt eintreten und es mit aufbauen will.
Weite Teile einer für ein linkes Projekt aufgeschlossenen Öffentlichkeit sind durch die Addition von PDS und WASG nicht vertreten. Die Idee einiger parteipolitischer Akteure, das Gespenst zu reiten, um damit die Hürde der Bundestagswahl zu nehmen, es aber gleichzeitig möglichst weitgehend zu kontrollieren, wird deshalb nicht funktionieren.
Es geht um Gründen, Öffnen, Antreten. Die drei Prozesse müssen gleichzeitig gedacht werden. Das Momentum, das jetzt existiert, muss so umgesetzt werden, dass vor der Wahl 2005 Menschen, die das möchten, in das neue zukünftige Projekt eintreten können, ja dass sie dazu aufgerufen werden. Also bedarf es einer vielfältigen, eigenen Initiative zur Gründung einer neuen Linkspartei, die nicht zwei Jahre abwartet. Und es bedarf einer anerkannten Repräsentanz politischer Kräfte, deren Vertreter im Parteibildungsprozess mitspielen, moderieren, orientieren und moralisch sanktionieren können. Die Erfahrung von linken Parteigründungen der jüngeren Zeit, etwa der Rifundazione in Italien, aber auch die allgemeine Entwicklung von Organisationsverhalten verweisen auf die Notwendigkeit, neuen Kooperationsmöglichkeiten jenseits der formalen Mitgliedschaft einen erhöhten Stellenwert zuzumessen. Wer möchte schon auf die begleitende Mitwirkung von Menschen aus Leitungsgremien sozialer Bewegungen verzichten, die aber möglicherweise aus guten, inneren Gründen eine Mitgliedschaft in einer eigenständigen Linkspartei (noch) nicht in Betracht ziehen können? Wer möchte riskieren, dass die hochmotivierte Bereitschaft vieler, die aktuell nicht zögern würden mitzugründen, beizutreten, zu kandidieren, zu einem schnellen Opfer des »Ortsvereins-Schocks« wird – weil sie individuell auf eine PDS und WASG treffen, die eben nicht breit und erneuert genug sind und die es versäumt haben, neue, adäquate Strukturen bereitzustellen, in denen die Motivation zum neuen Linksprojekt nicht sofort an den Klippen der eingefahrenen Polit-Alltags- Routinen zerschellt? Und wer will offenen Auges zusehen, wie das Zusammenspiel von Öffnen und Antreten beiderseitig frustriert werden wird, weil keine kreativen neuen Formen gefunden wurden, wie breite Unterstützung aus sozialen Bewegungen für das Parteiprojekt auch nach der Wahl in institutionalisierte Wege der kritischen Begleitung, der vorgesehenen Einflussnahme, aber auch des offenen Dialogs mit den MandatsträgerInnen überführt werden kann?
All dies muss schnell entwickelt werden, und am besten aus einem gemeinsamen, breiten Prozess heraus. Öffnung und Unterstützung sind nicht voneinander zu trennen, Einfluss und Mitwirkung aber auch nicht.

Es »könnte das entschiedene Vorhaben einer Neugründung der deutschen Parteilinken (›Rifundazione‹) Interesse, Begeisterung, Vertrauen, Engagement und nachhaltige Zukunftserwartungen wecken, ein Lebens- und Generationsprojekt werden«, hatten wir (vor NRW etc.) geschrieben. Die Chancen dafür sind gestiegen, aber die Beteiligten werden sich dafür noch weiter bewegen müssen. Die, die drinnen sind, und die, die bislang draußen waren.

Es hilft nichts: Das Gespenst verlangt es. Denn, wie Jacques Derrida zutreffend bemerkt: »Die Zukunft kann nur den Gespenstern gehören.«


Anmerkungen:
[1] Rainer Rilling, Christoph Spehr: Die Wahl 2006, die Linke und der jähe Bedarf an Gespenstern…, RLS-Standpunkte 5/2006, auf dem Netz unter www.rosalux.de  sowie www.linkslog.de .
[2] Appell der 333, auf dem Netz unter www.linkslog.de
[3] »Das Gesetz des Pendels beschreibt eine Situation, in der, wenn die Rechten seit geraumer Zeit an der Regierung sind, die Unzufriedenheit so groß und tief wird, dass sie zur Verdichtung einer großen Erwartung auf der Linken, einer starken Hoffnung führt. Aber wenn die Linken von dieser Welle an die Regierung getragen werden, werden die Gründe des Wechsels vergessen, und sie machen eine von der Rechten nicht allzu verschiedene Politik, dann vollzieht sich eine neue Vertrauenskrise und ein Aufgeben, das dich auf Abwege geraten lassen und die Krise der Politik verschärfen kann.« Fausto Bertinotti, Rede zur Eröffnung des VI.Parteitages (3.-6.3. 2005). Quelle im Netz
[4] Reuters Deutschland v. 10.6.2005
[5] MEW Bd. 16, S. 379.
 

Editorische Anmerkungen

Christoph Spehr ist Mitarbeiter der alaska-Zeitschrift für Internationalismus und freier Mitarbeiter des Bereichs Politikanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mail: yetipress@aol.com
Rainer Rilling ist Hochschullehrer für Soziologie an der Universität Marburg und Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Bereich Politikanalyse. Mail: rilling@rosalux.de ; Web: www.rainer-rilling.de
Dieser Beitrag erschien zuerst in rls standpunkte 8/2005 der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung RLS ist ein eigenes Webprojekt »Wahl 2005 und die Linke« - Materialien und Analysen zur Begleitung der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 eingerichtet worden, das unter dieser Adresse zu erreichen ist. http://www.rosalux.de/cms/index.php?wahl05
 

Wir spiegelten diesen Text von
http://www.sopos.org/aufsaetze/42baad3a4dc50/1.html

  trendTexte zum Thema "Kritik des politischen Reformismus"