Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
07/05

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Abschnitt V
Die neueste Zeit bis 1920
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I. DEUTSCHLAND (1800—1847)

1. Kriege und nationale Freiheit und Einheit.

Einer der verhängnisvollsten Fehler der deutschen Politik war die Beteiligung der deutschen Staaten an den Kriegen gegen die französische Revolution und gegen das Napoleonische Frankreich 1792 bis 1815. Das deutsche Volk, das sich erst seit 1750 von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges zu erholen begonnen hatte, wurde in einen Ozean von Abenteuern gestürzt, in denen es Ströme von Blut und Gut vergoß für heimische Despotie und Reaktion, für englische Industrie- und Kolonialpolitik, für Zarismus und Junkertum, gegen bürgerliche Freiheit, j gegen die Ökonomische Entfaltung Deutschlands, ' gegen die Liberalisierung Europas. Ohne die konter- , revolutionären Koalitionskriege wäre es weder zum Direktorium noch zum Napoleonischen Imperialismus gekommen. An der Niederlage oder der Entartung der französischen Revolution trugen die deutschen Staaten sowie England die meiste Schuld.

Beinahe wäre es der französischen Volkskraft im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gelungen, die europäische Reaktion zu schlagen und dem deutschen Bürgertum die Gelegenheit zu bieten, sich freiheitlich und industriell zu entfalten, denn unter den Schlägen Napoleons brach das alte Deutsche Reich zusammen, verfielen Preußen und Österreich der Ohnmacht, erlitt die englische Konkurrenz auf dem europäischen Festlande eine erhebliche Einschränkung. Aber diese äußerst günstige Gelegenheit traf kein großes, weitblickendes Geschlecht. Sentimentale Anhänglichkeit an die Fürstenhäuser, kurzsichtiger Nationalismus, beschränkter Untertanenverstand trieben das deutsche Volk wieder in die Arme der Reaktion, der Unfreiheit, des Wirtschaftselends, obwohl es sich sagen mußte, daß auch die geringen Reformen, die Stein und Hardenberg in Preußen nach Jena durchführten: die Städteordnung und die sogenannte Bauernbefreiung (1807—1816) nur der fransischen Revolution zu verdanken waren.

Nur das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit, das Streben nach Einheit blieb — allen Katastrophen zum Trotz — im deutschen Bürgertum lebendig. Diesem Streben trugen der König von Preußen (Friedrich Wilhelm III., 1797—1840) sowie Zar Alexander I. Rechnung, indem sie — nach dem verlustreichen Rückzuge Napoleons aus Moskau (1812—1813) — dem deutschen Volke das Versprechen gaben, Deutschland solle frei und selbständig sein, — ein Versprechen, das der König von Preußen am 22. Mai 1815 wiederholte und obendrein eine richtige Verfassung verhieß.

Mit unendlicher Begeisterung zogen dann die deut-j| sehen Stämme in die sogenannten Befreiungskriege e (1813—1815), schlugen Napoleon, retteten den Engländern den Weltmarkt und die Kolonien, den Landesfürsten die Throne und die Thrönchen. Der Lohn der Deutschen war: die Heilige Allianz, die Herrschaft Metternichs, die Knebelung der Presse und des Vereinswesens, die Einkerkerung und Verfolgung der nationalen Patrioten als Demagogen, die nationale Zersplitterung im Deutschen Bund (i Kaiser, 5 Könige, 29 souveräne Fürsten), der Bundestag in Frankfurt. Oder wie Julius Mosen in seinem Gedicht „Völkerschlacht bei Leipzig" klagte:

Es wollten viel treue Gesellen
Sich kaufen ein Vaterland,
Zu Leipzig mit eisernen Ellen
Ein freies Vaterland ...

Bei Leipzig ruhet begraben
Wohl mancher Mutter Kind;
Das Grablied sangen ihm Raben,
Die dort geflogen sind.

Was fraget ihr, Todesgenossen,
Die ihr da unten ruht;
Was half es, daß geflossen
Soviel von rotem Blut? ...

Aber die Klagen der Dichter, die Proteste der Studenten und Intellektuellen, der aufgeklärten Bürger und der politischen Schriftsteller, die, sei es durch die Burschenschaftsverbindungen, die Turnerei oder durch das Hambacher Fest (1832) und den Sturm auf die Wache in Frankfurt (1833), für nationale Einheit und Freiheit wirkten, blieben erfolglos, bis das französische Volk in der Julirevolution (1830) und das französische Kleinbürgertum und Proletariat in der Februarrevolution (1848) dem Liberalismus und Sozialismus die Bahn brachen.

2. Wirtschaftliche und soziale Gärung.

Zersplittert, ausgesogen und arm gingen die deutschen Stämme aus den konterrevolutionären Feldzügen und Befreiungskriegen hervor. Die französische Besatzung hatte aus ihnen an Kriegskontributionen ungefähr i Milliarde Mark herausgepreßt; die Jahre 1816 und 1817 brachten Mißernten und Hungersnot, die folgenden Jahre brachten Mangel aus Überfluß: die Verbrauchskraft der Massen sank fast auf den Nullpunkt; die Magazine, Scheunen und Läden voll von Vorräten, aber der Markt ohne effektive Nachfrage; und die englische Konkurrenz, ausgerüstet mit den Errungenschaften der modernen Technik, tötete die schlesische Leinenindustrie und verelendete die Weber, kämpfte erfolgreich gegen die sächsische, denn die Verarmung der Nation ließ eine kostspielige Reorganisation der Industrie auf maschineller Grundlage nicht zu und die unglaublich niedrigen Löhne machten arbeitsparende Maschinen scheinbar überflüssig. Nur Rheinland-Westfalen, wo die französische Revolution freiere Zustände geschaffen und wo die französische Politik, im Hinblick auf eventuelle Französierung des Rheinbeckens, eine freundliche Haltung angenommen hatte, zeigten nach und nach einen industriellen Aufschwung und Einfügung in den allgemeinen Gang der industriellen Revolution.

Die Zustände besserten sich nach 1830, — die Pariser Julirevolution beseelte das deutsche Bürger-, tum mit neuem Mut. In Braunschweig, Kurhessen, Sachsen und Hannover kam es zu Aufständen, die den Regierungen einige politische Konzessionen abzwangen; in den süddeutschen Staaten wurden die Ständekammern etwas lebhafter; in der zweiten badischen Kammer wagte man schon über die Berufung eines deutschen Parlaments zu diskutieren. Auch die wirtschaftliche Tätigkeit wurde belebt und die Naturwissenschaft angeregt. Sehr schön schildert der philosophische und sozialpolitische Schriftsteller Friedrich Albert Lange in seiner „Geschichte des Materialismus" (Ausgabe 1887, II. Band, S. 436) die wirtschaftliche und geistige Entwicklung Deutschlands in jener Zeit: „Was die Juli-Monarchie und den französische Konstitutionalismus bei den Kreisen, welche jetzt tonangebend wurden, so besonders beliebt machte, war die Stellung zu den materiellen Interessen der besitzenden Klassen. Jetzt erst konnte in Deutschland ein Kaufmann und Gründer von Aktiengesellschaften, wie Hansemann, zum Stimmführer für die öffentliche Meinung werden. Die Gewerbevereine und ähnliche Gesellschaften schössen zu Anfang der dreißiger Jahre wie Pilze aus dem Boden; auf dem Gebiete des Unterrichtswesens wurden polytechnische Anstalten, gewerbliche Fortbildungsschulen und Handelsschulen von den Bürgern der aufblühenden Städte begründet... Die wichtigste Tätigkeit der Regierungen war dem Verkehrswesen zugewandt, und die bedeutendste sozialpolitische Schöpfung des ganzen Dezenniums war der deutsche Zollverein (1834)", der den Freihandel innerhalb Deutschlands begründete. In dieselbe Zeit fällt der Beginn der Eisenbahnbauten in Deutschland. Merkwürdig in dieser Beziehung ist das Jahr 1835: es sah die erste Eisenbahn, das Erscheinen des für jene Zeit kühnen, religions-kritischen Werkes von Strauß: „Das Leben Jesu", sowie die Veröffentlichung von Gutzkow's „Wally, die Zweiflerin", eines freidenkerischen Romans, der dem Verfasser Festungshaft zuzog. Das „Junge Deutschland", zu dem neben Gutzkow Ludolf Wienbarg, Theodor Mundt, Heinrich Laube gehören, brach durch seine Schriften demokratischen Ideen Bahn.

Gleichzeitig nahm die Naturwissenschaft einen Aufschwung, und Deutschland lieferte sein Teil an großen Naturforschern: Liebig (Chemie), Johannes Müller (Physiologie), Alexander von Humboldt (Geographie), Karl F. Gauß (Mathematik, Elektromagnetismus, Telegraphie).

Das ganze Denken und Dichten wandte sich vom Überschwenglichen, Idealistischen und Romantischen ab. An Stelle der idealistischen Philosophie, die das Gedankliche dem sinnlich Wahrnehmbaren vorausgehen ließ oder jenem das Übergewicht gab, trat eine realistische Betrachtungsweise. Das heißt: man sagte sich nunmehr, zuerst ist das Sein, dann das Denken; zuerst das Ding, dann der Begriff oder die Idee hiervon. Philosophisch hieß dies: der Materialismus trat an die Stelle des Idealismus.

In der Religionsforschung war dies von großer Bedeutung: Hatte man vorher gesagt, daß Gott den Menschen erschaffen habe, so sagte man dann, die Menschen als Gattung, als Rasse schufen sich jeweilig einen Gott aus all dem Unbegreiflichen, das ihre Verstandeskräfte und ihre Gemüter ergriff, — aus dem geistigen Niederschlag ihrer Erfahrungen und ihres Nachdenkens über Welt und Menschheit, aus all den moralischen Gefühlen und Empfindungen, die ihre Köpfe und Herzen beherrschten und durchwühlten. Sie vergötterten ihren eigenen Geist; sie machten ihn zum Absoluten, zu einer übersinnlichen Macht, die über alle Bedingungen, alle Beschränkungen erhaben ist. Theologisch betrachtet, ist diese Auffassung atheistisch, gottlos. Ihr Verbreiter in Deutschland war Ludwig Feuerbach, dessen Hauptwerke: „Wesen des Christentums" und „Vorläufige Thesen" 1841 bzw. 1843 erschienen und von Marx und Engels zum Ausgangspunkt ihrer Kritik genommen wurden.

Philosophisch war die neue Wendung ebenfalls von großer Bedeutung. Hatte man vorher gedacht, daß der unendliche Geist oder Gott die Welt geschaffen und sie regiert, oder — etwas moderner — daß ein unendlicher Geist sich entfalte und in dieser Entfaltung die stoffliche Welt (Fixsterne, Planeten, Mineralien, Pflanzen, Tiere) gleichsam als äußere und sichtbare Formen und Stufen erstehen lasse (Hegel), so sagte man nunmehr, daß das Stoffliche von jeher existierte und sich durch die ihm innewohnenden Kräfte von selber ordne und entwickle: vom Anorganischen (Mineralischen) zum Organischen (Pflanzen- und Tierreich); ferner, daß das Geistige nicht ohne das Stoffliche existieren kann, sondern entweder nur eine Funktion des Organischen ist (das heißt: das Gehirn verwandelt sinnliche Eindrücke in Gedanken, ebenso wie der Magen die Speisen in Blut verwandelt), oder daß das Geistige seit jeher das Stoffliche durchdringt, aber erst im Organischen sich immer deutlicher offenbart, bis es im Menschen sich als Vernunft kundtut. Nach der rein naturwissenschaftlich-materialistischen Auffassung gibt es so etwas wie Geist als besondere Kraft gar nicht: das Geistige sei nur ein Produkt der körperlichen Tätigkeit. Nach der anderen Auffassung existiert Geist als besondere Kraft, aber immer und überall in Verbindung mit der Materie und wirkt zusammen oder parallel mit ihr; Geist und Materie bilden die einheitliche Substanz: das eigentliche Wesen der Welt. Man kann letztere Auffassung pantheistisch oder auch monistisch nennen.

Der Angriff auf die theologische und idealistische Weltauffassung: der Angriff auf Gott und die Engel, ging Hand in Hand mit dem Angriff auf absolutes Königtum und Bürokratenstaat. Nicht der König und die Polizei schaffen und erhalten den Staat, sondern die Bürger, die Erwerbstätigen und Wirtschaftler sind es, die Staat und Gesellschaft ins Leben riefen und sie erhalten: diese Kreise müßten demgemäß die Regierung ausüben oder zumindest an der Regierung aktiv teilnehmen.

Die Opposition gegen die landesherrlichen Despotien wurde getragen vom Drange des deutschen Bürgertums nach Zusammenfassung der nationalen Wirtschaftskräfte, nach nationaler Einheit der deutschen Stämme, nach Reorganisation des Deutschen Reiches zu neuer Macht und Herrlichkeit.

Freireligiöses Denken an Stelle kirchlicher Dogmen, naturwissenschaftliches Forschen an Stelle philosophischer Spekulationen, wirtschaftliches Regen und Streben an Stelle polizeilicher Regulierungen, liberale Konstitution an Stelle der persönlichen Monarchie, nationale Einheit an Stelle der landesherrlichen Zersplitterung — das war das Programm des deutschen Bürgertums seit ungefähr 1830. Seine Wortführer in der Philosophie waren die Junghegelianer (David Friedrich Strauß, 1808—1874; Ludwig Feuerbach, 1804—1872; Bruno Bauer, 1809—1882), in der Literatur das junge Deutschland (Borne, Heine, Gutzkow, Laube). Es war eine sehr regsame intellektuelle Generation, die allen menschlichen Problemen zugänglich war, aber nur wenigen ihrer Vertreter gelang es, sich zu entfalten und Dauerndes zu leisten, und dies auch nur im Exil: in Frankreich, Belgien, der Schweiz, England, wohin sie sich flüchteten, um nicht in deutschen Gefängnissen zu verschmachten oder unter der Zensur zu verkrüppeln.

Diese wesentlich liberale Strömung fand ihren extremsten Ausdruck in Max Stirners (Caspar Schmidts) i „Der Einzige und sein Eigentum" (1845), der alle allgemeinen Begriffe, wie Gott, Menschheit, Gemeinschaft, Moralität, als Einbildungen zurückwies und im Individuum und seiner Kraft das einzig Wirkliche erblickte. „Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige; und sie ist keine allgemeine, sondern sie ist einzig, wie Ich einzig bin." Stirner ist der schärfste Vertreter des individualistischen Anarchismus. Sein Buch zog schon einen Teil seiner polemischen Schärfe aus der Opposition Stirners gegen die damals im Entstehen begriffene kommunistische Bewegung.

3. Sozialistische Regungen: Kritik, Dichtung, Zeitschriften (1825—1847).

Vom Auslande her kamen die sozialistischen Regungen, die seit etwa 1842 sich in Rheinland-Westfalen und in Berlin bemerkbar zu machen begannen, wo die moderne Technik Fuß gefaßt hatte. Der deutsche Sozialismus war um jene Zeit nur ein Widerhall des französischen, aber in linkshegelianischen Kreisen wurde bereits der Versuch unternommen, die deutsche Philosophie zur Nährmutter des Sozialismus zu machen. Wir werden auf diese Frage noch zurückkommen; vermerken wir hier nur im allgemeinen, daß seit 1842 sozialistische Gedanken in Deutschland Verbreitung fanden und daß neben der nationalen Einheitsbewegung eine sozialistische Bewegung im Entstehen begriffen war. Sozialistische Formulierungen wurden übrigens auch als Argument gegen den wachsenden Liberalismus der Großbourgeoisie, von ausgesprochenen Reaktionären wie dem katholischen Philosophen Baader (bei dem der Ausdruck Proletarier zum ersten Male in Deutschland gebraucht wird) in Anspruch genommen. Man wurde auf die Bedeutung von Arbeiterunruhen aufmerksam, die 1844 in Schlesien und Böhmen unter den Webern ausbrachen(1).

Man darf die Behauptung aufstellen, daß 1844 das Geburtsjahr des modernen deutschen Sozialismus ist. 1844 begann Marx in Paris seine Lehren zu formulieren; 1844 schrieb der junge Lassalle, damals Student in Berlin, an seinen Vater, daß die Arbeiterunruhen die ersten Zuckungen des Kommunismus bedeuteten (2); 1844 dichtete Heine sein Weberlied und schrieb „Deutschland, ein Wintermärchen", dessen Prolog durchaus kommunistisch ist; 1844 wurde der Berliner Handwerkerverein gegründet; 1844 veröffentlichte Alfred Meißner seine Gedichte. 1844 ist aucn das Geburtsjahr der deutschen sozialistischen Journalistik. Zählen wir einige dieser Zeitschriften chronologisch auf: „Deutsch-Französische Jahrbücher", Paris 1844; „Vorwärts", Pariser Zeitschrift, 1844; „Weserdampfboot" von Dr. Otto Lüning, Bielefeld 1844; „Gesellschaftsspiegel" von Moses Heß, 1845—1846; „Rheinische Jahrbücher" von Heinrich Püttmann, 1845—1846; „Deutsches Bürgerbuch"„von H. Püttmann, 1845—1846; „Dies Buch gehört dem Volke" von Otto Lüning, 1845—1847; „Deutsche Brüsseler Zeitung" von Adalbert von Bornstedt, Brüssel 1847(3).

4. Sozialkritische und Sozialrevolutionäre Versuche: Gall, Büchner.

Den ersten Versuch zum Verständnis der sozialen Verhältnisse in Deutschland (1815—1830) machte der Verwaltungsbeamte und Nahrungsmittelchemiker, Ludwig Gall (1791—1863) um das Jahr 1824. Er sah, wie einerseits die Armut — infolge Erwerbslosigkeit — immer weitere Kreise ergriff „und alle in einen gemeinschaftlichen Abgrund hinabzustürzen drohte" (Was soll helfen? Trier 1825) und andererseits die Scheunen voll von Kornfrüchten, die Werkstätten und Fabriken voll von Produktionsmöglichkeiten und die vielen Handwerker, Bauern und Arbeiter bereit waren, den Reichtum noch zu vermehren, aber trotz alledem das Land dem Elend preisgegeben wurde. Deutschland, ebenso wie Frankreich und England, befanden sich damals in einer Krise, die aus relativer Überproduktion entstanden war. Man sollte nur nicht antworten — sagt Gall —, daß es Armut und Reichtum immer gegeben habe und die menschlichen Einrichtungen eben unvollkommen seien. Derartige Einwürfe seien nur elende Ausflüchte. Denn in Wahrheit „liefert die Erde mehr Lebens- und Bekleidungsmittel, als notwendig wäre, um doppelt soviel Menschen als gegenwärtig zu erhalten; und es ist nicht wahr, daß zwischen dem Zustande der untersten und der höheren Klassen von jeher eine so empörende Kluft befestigt gewesen sei wie jetzt, denn diese Kluft hat sich von Jahr zu Jahr mit jedem Fortschritt der Künste und Wissenschaften erweitert, da diese Fortschritte nur den höheren Ständen zugute gekommen sind" (Seite 9—10). Die Ursache dieses Elends erblickt Gall „in der Wertlosigkeit der menschlichen Arbeitskraft". Gall will offenbar sagen: in der Schwäche der Arbeiterbevölkerung gegenüber den Kapitalisten. Er war sich jedoch noch nicht über die Klassenbildung der modernen Gesellschaft klar; er gruppiert Bauern, Handwerker und Lohnarbeiter zu einem einheitlichen Stande und die Geldbesitzer (diejenigen Personen, die von Zins, Profit, Rente, Miete, Besoldungen und Pensionen leben) ebenfalls als einen besonderen Stand. „Diese beiden Stände", konstatiert er, „durch einander widerstrebende Interessen scharf geschieden, stehen sich feindlich gegenüber; die Lage der Geldbesitzer verbessert sich in demselben Verhältnis immer mehr, je mehr die Lage der arbeitenden Klassen sich immer mehr verschlimmert, immer mißlicher, immer kümmerlicher wird. Diese Umwälzung, gefährlicher als je eine, führt zum Verderben; sie führt unausweichlich dahin, allen Besitz in den Händen der Geldprivilegierten zu vereinigen; alle anderen Klassen der Staatsbürger dieser einzigen um jeden Preis dienstbar, sie zu ihren Leibeigenen zu machen; alles Höherstreben zu ersticken; alle Kultur zu vernichten; kurz, einen Zustand herbeizuführen, welcher die höchste Weisheit ratlos lassen würde" (S. 93—94). Gall schlug damals vor, durch Ausgabe von Getreide-Kreditscheinen der Geldnot der Bauern abzuhelfen; eine Besserung der Lage der landwirtschaftlichen Bevölkerung würde auf Handel und Gewerbe günstig rückwirken.

Gall, der die französische und englische sozialkritische Literatur (Fourier, Owen) gekannt zu haben scheint, schlug später die Assoziation (genossenschaftliche Unternehmungen) als Heilmittel vor, wandte sich aber bald von der sozialpolitischen Propaganda ab und beschäftigte sich viel mit Nahrungsmittelchemie und -technik. —

Weniger auf Sozialpolitik als auf eine Revolutionierung der Arbeiterklasse war für einige Zeit der Dichter Georg Büchner (17. Oktober 1813 bis 19. Februar 1837) gerichtet. Nachdem er das Gymnasium in Darmstadt absolviert hatte, studierte er in Straßburg Medizin und Naturwissenschaften (1831—1833), wo er ohne Zweifel mit der Gedankenwelt der „Amis du peuple" und der „Droits de l'homme" vertraut wurde. Wahrscheinlich kannte er auch die Rede Blan-quis vor den Pariser Geschworenen im Jahre 1832 (siehe oben Teil IV, S. 479 ff.). Als er nach Gießen 1834 zurückgekehrt war, schloß er sich der vom Pädagogen und Pfarrer Dr. F. L. Weidig geleiteten republikanisch-patriotischen geheimen Verbindung an, entwarf die Flugschrift an die Bauern unter dem Titel „Der Hessische Landbote: Friede den Hütten, Krieg den Palästen!"; die Flugschrift wurde von Weidig mit passenden biblischen Sprüchen versehen, die ihr einen prophetisch- urchristlichen Anstrich gaben. In steter Gefahr der Verhaftung, gründete Büchner 1834 eine geheime „Gesellschaft der Menschenrechte" und flüchtete sich noch rechtzeitig vor den Häschern nach Straßburg und dann nach Zürich, wo er als Privatdozent bald starb. Sein Kampfgenosse Dr. Weidig, einer der selbstlosesten, tüchtigsten und gebildetsten deutschen Männer, wurde im April 1835 verhaftet, im Arresthause gefoltert, bis er — immer noch in Untersuchungshaft — am 23. Februar 1837, vier Tage nach dem Tode Büchners, durch Selbsttötung seinem Leben ein Ende machte.

Büchners Dramen: Dantons Tod, Wozzeck u.a.m. enthalten nichts Sozialistisches; höchstens merkt man ihnen nur starke Sympathie mit den unterdrückten Klassen an. Nur in seinen Briefen an Gutzkow befinden sich einige Stellen, die deutlich den Einfluß der französischen geheimen Gesellschaften auf Büchners republikanisch-soziales Denken zeigen. Unterm 5. April 1833 schreibt er an seine Familie aus Anlaß des Sturms auf die Wache in Frankfurt: „Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit etwas helfen kann und soll, so ist es die Gewalt." Die deutschen Fürsten seien durch andere Mittel nicht zu Reformen zu veranlassen.

Im Juli 1835 schreibt er aus Straßburg an Gutzkow: „Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin werden." Büchner glaubte nicht, daß man durch Aufklärung des Bürgertums, durch Propaganda liberaler Ideen, zum Ziele gelangen könnte. Er schreibt aus Straßburg an seine Familie (i. Januar 1836): „Übrigens gehöre ich für meine Person keineswegs zu dem sogenannten Jungen Deutschland, der literarischen Partei Gutzkows und Heines. Nur ein völliges Verkennen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei." Ebenso schreibt er an Gutzkow: „Übrigens, um aufrichtig zu sein: Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht gerade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittels der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformieren? Unmöglich l Unsere Zeit ist rein materiell. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen. Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende Minorität, soviel Konzessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältnis zur großen Klasse aufgeben wollen"(4).

In Büchner zeigt sich der soziale Rebell, der bereits ahnt, daß nur das Proletariat die revolutionäre Klasse bilde, aber er glaubt, daß es nur durch Hunger und durch urchristlich-ethischen Fanatismus zur Tat zu entflammen sei. Er meint, in sozialen Dingen müsse man von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen. Büchners soziale Ideen sind gänzlich von den zu jener Zeit in Frankreich herrschenden religiös-sozialrefor-merischen Strömungen beeinflußt, die von Lamennais, Leroux usw. vertreten wurden (5).

Anders war es mit den deutschen Flüchtlingen, die entweder als Schriftsteller oder als Arbeiter in Paris lebten. Diese konnten nicht umhin, sich eingehender mit den sozialpolitischen Ideen zu beschäftigen oder gar sich an den geheimen Sozialrevolutionären Vereinigungen zu beteiligen. Und diesen wollen wir uns jetzt zuwenden.

Anmerkungen

1) „Diese Erhebungen von Arbeitern, nicht gegen die Regierung, sondern gegen die Unternehmer... gaben der sozialistischen und kommunistischen Propaganda einen neuen Antrieb." Marx, Revolution und Kontre-Revolution, S. 24.

2) Lassalles Nachlaß, herausgegeben von G. Mayer, Berlin 1921. Teil I, S. 102. Siehe auch Marx, a. a. O.

3) Georg Adler, Geschichte der ersten sozialpolitischen Arbeiterbewegung in Deutschland. Breslau 1885. (Literaturnachweis.)

4) Georg Büchner. Gesammelte Schriften, Verlag Paul Cassirer, herausgegeben und eingeleitet von Paul Landau, Teil II, S. 159, 184-185, 201.

5) Über Lamennais siehe weiter unter S. 506

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S. 493-504

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html