"Modell Deutschland"?
Exportartikel: Unbezahlte Mehrarbeit und soziale Härte


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on Bernhard Schmid (Paris)
07/04

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Beim guten Schüler nebenan auf¹s Blatt zu schauen, darum sind derzeit die Regierenden beiderseits des Rhein eifrig bemüht. Vor allem, wenn es darum geht, soziale Rechte zurückzuschrauben und dabei mit dem entstehenden Ärger fertig zu werden. So entdeckten die Mitglieder des CDU-Wirtschaftsrats erst jüngst ihr Herz für einen Franzosen: Premierminister Jean-Pierre Raffarin wurde am 1. Juli in Berlin der Ludwig-Erhard-Preis verleihen.

Sein Verdienst? Seine Aktion "für Reformen bei den Renten, bei der Gesundheit und dem Arbeitsrecht", und das, so der Vorsitzende des erlauchten Gremiums Kurt Lauk in seiner Festansprache lobend, "gegen den massiven Widerstand der Gewerkschaften". Um eine volle Rente zu erhalten, sollen die Lohnabhängigen künftig 42,5 Beitragsjahre schuften, während derzeit bereits weniger als die Hälfte der Leute über 50 einen Job haben, da sie als zu unproduktiv gelten. Das Gesundheitsministerium will demnächst ein Fünftel der Krankschreibungen im Lande als "Blaumacherei" entlarven; das ergibt sich jedenfalls aus den Zahlen von Gesundheitsminister Philippe Douste-Blazy, der auf diesem Wege 800 Millionen Euro einsparen will. Und wer blaumacht, der soll künftig bestraft werden, genau wie der Arzt, der krankschreibt. Und eine "Kommission zur Vereinfachung des Arbeitsrechts", die unter Vorsitz des Arbeitsdirektors der Renault-Automobilwerke einen Bericht vorlegte, will das Arbeitsgesetzbuch mit dem Presslufthammer reformieren. Das ist doch eine Medaille wert.

Doch vor allem sind es derzeit deutsche Modelle, die westlich des Rheins begeistern, und dort vor allem rechts und weiter rechts. "Deutschland handelt und reformiert, Frankreich debattiert", beklagte sich vor einigen Tagen der Wirtschaftsteil des Pariser Figaro. Besonders gefällt der konservativen Tageszeitung die so genannte Hartz-Reform.

Ähnliche Entwicklungen hin zu einer drastischen Reduzierung der Ansprüche von Arbeitslosen gibt es seit dem Jahr 2000 zwar auch in Frankreich. Westlich des Rheins gehen sie allerdings eher auf die "Sozialpartner" im Aufsichtsrat der Arbeitslosenkasse zurück, vor allem die rechtssozialdemokratische Gewerkschaft CFDT und die Arbeitgeberverbände, als auf den Gesetzgeber. Und so weit wie östlich des Rheins sind die "Reformen" auf Kosten der Erwerbslosen noch nicht fortgeschritten. Das wird sich vielleicht ändern. In den letzten Tagen wurden in den ersten Départements Vereinbarungen zur Einführung RMA genannten "Mindest-Aktivitätslohns" unterzeichnet. Dahinter verbirgt sich eine Kopplung der bisherigen Sozialhilfe, RMI, die 411 Euro im Monat beträgt mit dem Zwang zu Arbeitstätigkeit: 20 Stunden die Woche für zusätzliche 160 Euro. Das entspricht einem Stundenlohn von prallen zwei Euro.

Das "neue rheinische Modell"

"Das neue rheinische Modell" titelt seinerseits feiert das Wochenmagazin Valeurs actuelles. Die vor allem auf Wirtschaftsthemen und Militärpolitik spezialisierte Zeitschrift ist seit Jahren das Sprachrohr des Rüstungsindustriellen Serge Dassault, der in jetzt auch groß in die übrige französische Presse einsteigt, seitdem die EU-Kommission in Brüssel am 17. Juni seinen Aufkauf der Socpresse (die u.a. die Tageszeitung "Le Figaro" und das Wochenmagazin "L¹Express" herausgibt) genehmigt. Seitdem ist der Konzentrationsprozess beschleunigt fortgeschritten: In der ersten Juliwoche kündigte der neue Pressemogul Dassault Überkreuzbeteiligungen mit dem Beton-, Bau- sowie Medienkonzern Bouygues und dem, in dessen Eigentum stehenden, privaten ersten Fernsehsender TF1, um sich den Werbemarkjt aufzuteilen. (Eine Beteiligung zunächst in Höhe von 5 Prozent am Kapital der Socpresse, von der auch über 70 Regionalzeitungen abhängen.) Zurück zum bisherigen Sprachrohr des Rüstungs- und Pressemagnaten Dassault. Laut einer im April veröffentlichten Leserumfrage wählen 65 Prozent der Leser des Magazins "Valeurs actuelles" konservativ und weitere 25 Prozent rechtsextrem, vgl. "Marianne" vom 12. April 04. Eine feine Gesellschaft. Und in solchen Kreisen begeistert man sich derzeit für das "neue rheinische Modell" unter einer SPD/Grünen-Bundesregierung.

Besondere Vorbildwirkung hat, nach Ansicht des Wochenmagazins, derzeit vor allem wegen ihrer Arbeitszeitpolitik. Manchen in der französischen Wirtschaft bringt derzeit Siemens zum Träumen: Der Elektronik- und Rüstungsgigant erreichte am 24. Juni 04 die Unterschrift der Gewerkschaft IG Metall unter ein Abkommen, das die Arbeitszeit in zwei Siemens-Betrieben mit 4.000 Beschäftigten im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) von 35 auf 40 Stunden verlängert - ohne Lohnveränderung. Damit nicht genug: Auch das Weihnachts- und das Urlaubsgeld werden abgeschafft und durch eine Prämie, die an die Produktionsergebnisse der jeweiligen Niederlassung des Konzerns gekoppelt ist, ersetzt. Hätte die Gewerkschaft nicht zugestimmt, drohte Siemens die Produktion von Mobiltelefonen nach Ungarn zu verlagern und 2.000 Arbeitsplätze in NRW abzubauen. Jetzt verspricht Siemens die Beibehaltung der Arbeitsstellen aber nur für zwei Jahre.

"Aufgrund der echten Verflechtung beider Ökonomien", meint Valeurs actuelles, "mit Unternehmen der Spitzentechnologie, die auf beiden Seiten des Rheins arbeiten", könne dieses Signal nicht ohne Auswirkungen auf Frankreich bleiben - und zeigt dabei das Foto eines Airbus-Triebswerks, das in Hamburg montiert und in Toulouse eingebaut wird. Das Magazin fügt hinzu: "Ähnliche Verhandlungen sind (in Deutschland) bei Daimler-Benz, Porsche, BMW, Bosch und Philips im Gange" - in Wirklichkeit hat Daimler-Chrysler die Arbeitszeit vieler Mitarbeiter bereits um 18 Prozent erhöht. Nicht zuletzt erinnert es daran, dass ähnliche Tendenzen auch im öffentlichen Dienst in Deutschland am Werk seien. So erhöhten die Bundesländer NRW, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern die Arbeitszeit ihrer Angestellten im öffentlichen Dienst ohne Lohnausgleich.

Schockwelle der neuen Kapitaloffensive durch die halbe EU

Tatsächlich hat die in Deutschland unter Berufung auf die Konkurrenz der EU-Beitrittsländer (die seit dem 1. Mai dem Binnenmarkt angehören) losgetretene Entwicklung unmittelbare Auswirkungen auf die Nachbarländer. Neben der BRD sei auch in Frankreich, Belgien und Österreich durch das jüngste Abkommen bei Siemens eine neue Debatte über die Arbeitszeitverlängerung ausgelöst worden, notiert die Wirtschaftszeitung "Les Echos".

Auf französischem Boden spielt derzeit die Niederlassung des deutschen Unternehmens Bosch in Vénissieux, einer Vorstadt von Lyon, den Vorreiter. Der weltweit agierende Konzern mit Hauptsitz in Stuttgart produzierte bisher bei Lyon Dieselmotoren, doch diese stehen nicht mit den neuen Umweltverträglichkeitsregeln im Einklang. Um den Standort Vénissieux auf die neuen technischen Normen zu bringen und weiter zu produzieren, verlangte Bosch eine Senkung der Lohnkosten um 12 Prozent - sonst könne man auch in die Tschechische Republik gehen. Mit zwei Gewerkschaften, der rechtssozialdemokratischen CFDT und der Angestelltenorganisation CGC, konnte ein Abkommen ausgehandelt werden: Jede Woche sollen die 820 betroffenen Beschäftigten eine Stunde unbezahlter Mehrarbeit leisten, also offiziell 36 Stunden zum Preis von 35 arbeiten, abgesehen von sonstigen Überstunden. Die postkommunistische CGT-Gewerkschaft war dagegen.

Da der Inhalt des Abkommens nicht dem (noch) geltenden Gesetz entspricht, wurden die einzelnen Beschäftigten zur Stellungnahme aufgefordert. In namentlicher Abstimmung sollten die Lohanbhängigen sich bereit erklären, ihren individuellen Arbeitsvertrag entsprechend abgeändert zu sehen. Wenn mehr als 10 Prozent dagegen stimmen würden, dann drohte die Abwanderung der Arbeitsplätze und der Abbau von 300 Stellen in Vénissieux. Die knapp 1.000 Beschäftigten hatten bis zum Dienstag, 13. Juli 04, Zeit zur Entscheidung. Nach vorläufigen Ergebnissen stimmten 70 Prozent für die Vereinbarung, nur 2 Prozent dagegen, die übrigen enthielten sich. Enthaltungen werden vom Unternehmen als Akzeptanz gewertet.

In einem Interview mit "Le Monde" vom 10. Juli hatte Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy noch über die unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit bei Siemens behauptet: "Eine solche Erpressung wäre bei uns nicht hinnehmbar." Darüber wiederum zeigte sich der "Genosse der Bosse" erzürnt. Gegen die "kleinen Tricksereien", die etwa darin bestünden, "die deutschen Unternehmen zu diskreditieren", die doch nur nach Lösungen in Sachen Arbeitszeit suchten, verwahrte Kanzler Gerhard Schröder sich am Dienstag, 13. Juli öffentlich.

Frankreich: Arbeitszeitpolitik und 35-Stunden-Woche

In Frankreich ist eine Arbeitszeitverlängerung per Betriebsvereinbarung schwerer als in Deutschland, da eigentlich - anders als in der Bundesrepublik - die wöchentliche oder zumindest die Jahres-Arbeitszeit und die Höhe der Überstundenzuschläge gesetzlich festgelegt sind. Im Prinzip sieht ein Gesetz der sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin von 1999 eine gesetzliche Jahresarbeitzeit von 1.600 Stunden vor, was einem Durchschnitt von 35 Stunden wöchentlich entspricht. Um den Unternehmen die "Reform" von 1998/99 schmackhaft zu machen, hatte die Jospin-Regierung zwei Angebote an die Arbeitgeber in ihre Gesetzeswerk aufgenommen: Erstens die Möglichkeit, die wöchentliche Arbeitszeit - je nach Bedarf der Unternehmen - im Lauf des Jahres nach oben variieren zu lassen, wenn ein Betriebsabkommen dies vorsieht; und zweitens starke Nachlässe für die Betriebe bei den Sozialabgaben und Lohnnebenkosten und staatliche Subventionen.

Doch ein Flügel innerhalb der Regierungsparteien profilierte sich mehrmals mit der Forderung nach Abschaffung mit der "dirigistischen Reform von Martine Aubry". Diese Abgeordneten wollen das Gesetz von 1999 am liebsten ganz kippen, wie in einem Parlamentsbericht von Hervé Novelli im Frühjahr gefordert wurde, drangen damit aber nicht durch. Doch Mitte Juni schien der profilierungssüchtige Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy sich ihnen anzuschließen. Vor mehreren hundert Parlamentariern wetterte er heftig gegen die "Absurdität, Milliarden dafür auszugeben, die Franzosen am Arbeiten zu hindern". Später präzisierte er, er wolle das 35-Stunden-Gesetz und die mit ihr verbundenen Subventionen wieder abschaffen und so den Staatshaushalt finanziell entlasten. Als Gegenleistung für die Arbeitgeber sollten die Überstunden verbilligt werden, indem etwa die Lohnzuschläge abgeschafft würden. Daraufhin meldete sich aber sofort der Arbeitgeber-Präsident, Baron de Seillière, in der Wirtschaftszeitung La Tribune drohend zu Wort. Eine Streichung der seit der "Aubry-Reform" gewährten Abgabensenkungen für die Unternehmen komme nicht in Frage, forderte er, wenngleich er seinerseits das damit dereinst verbundene Ziel der 35-Stunden-Woche deutlich in Frage stellte.

Wahrscheinlich ist also, dass sich die derzeit von Premierminister Raffarin favorisierte Lösung durchsetzen wird: Das Arbeitszeitgesetz von 1999 soll demnach nicht einfach gestrichen werden; wohl aber sollen die Branchen oder Betriebe durch von ihnen ausverhandelte "Öffnungsklauseln" eine - nach oben hin - abweichende Arbeitszeitpolitik festlegen können. Ein Kompromiss im Sinne der Arbeitgeber, der aber weniger radikal aussieht als die derzeit von "Superminister" Sarkozy hinausposaunte "Lösung".  

Editorische Anmerkungen:

Der Autor schickte uns am 17. Juli 2004 seinen Artikel in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.