Beim guten Schüler nebenan auf¹s Blatt zu schauen,
darum sind derzeit die
Regierenden beiderseits des Rhein eifrig bemüht. Vor allem, wenn es darum
geht, soziale Rechte zurückzuschrauben und dabei mit dem entstehenden
Ärger
fertig zu werden. So entdeckten die Mitglieder des CDU-Wirtschaftsrats
erst
jüngst ihr Herz für einen Franzosen: Premierminister Jean-Pierre Raffarin
wurde am 1. Juli in Berlin der Ludwig-Erhard-Preis verleihen.
Sein Verdienst? Seine Aktion "für Reformen bei den
Renten, bei der
Gesundheit und dem Arbeitsrecht", und das, so der Vorsitzende des
erlauchten
Gremiums Kurt Lauk in seiner Festansprache lobend, "gegen den massiven
Widerstand der Gewerkschaften". Um eine volle Rente zu erhalten, sollen
die
Lohnabhängigen künftig 42,5 Beitragsjahre schuften, während derzeit
bereits
weniger als die Hälfte der Leute über 50 einen Job haben, da sie als zu
unproduktiv gelten. Das Gesundheitsministerium will demnächst ein Fünftel
der Krankschreibungen im Lande als "Blaumacherei" entlarven; das ergibt
sich
jedenfalls aus den Zahlen von Gesundheitsminister Philippe Douste-Blazy,
der
auf diesem Wege 800 Millionen Euro einsparen will. Und wer blaumacht, der
soll künftig bestraft werden, genau wie der Arzt, der krankschreibt. Und
eine "Kommission zur Vereinfachung des Arbeitsrechts", die unter Vorsitz
des
Arbeitsdirektors der Renault-Automobilwerke einen Bericht vorlegte, will
das
Arbeitsgesetzbuch mit dem Presslufthammer reformieren. Das ist doch eine
Medaille wert.
Doch vor allem sind es derzeit deutsche Modelle, die
westlich des Rheins
begeistern, und dort vor allem rechts und weiter rechts. "Deutschland
handelt und reformiert, Frankreich debattiert", beklagte sich vor einigen
Tagen der Wirtschaftsteil des Pariser Figaro. Besonders gefällt der
konservativen Tageszeitung die so genannte Hartz-Reform.
Ähnliche Entwicklungen hin zu einer drastischen
Reduzierung der Ansprüche
von Arbeitslosen gibt es seit dem Jahr 2000 zwar auch in Frankreich.
Westlich des Rheins gehen sie allerdings eher auf die "Sozialpartner" im
Aufsichtsrat der Arbeitslosenkasse zurück, vor allem die
rechtssozialdemokratische Gewerkschaft CFDT und die Arbeitgeberverbände,
als
auf den Gesetzgeber. Und so weit wie östlich des Rheins sind die
"Reformen"
auf Kosten der Erwerbslosen noch nicht fortgeschritten. Das wird sich
vielleicht ändern. In den letzten Tagen wurden in den ersten Départements
Vereinbarungen zur Einführung RMA genannten "Mindest-Aktivitätslohns"
unterzeichnet. Dahinter verbirgt sich eine Kopplung der bisherigen
Sozialhilfe, RMI, die 411 Euro im Monat beträgt mit dem Zwang zu
Arbeitstätigkeit: 20 Stunden die Woche für zusätzliche 160 Euro. Das
entspricht einem Stundenlohn von prallen zwei Euro.
Das "neue rheinische Modell"
"Das neue rheinische Modell" titelt seinerseits
feiert das Wochenmagazin
Valeurs actuelles. Die vor allem auf Wirtschaftsthemen und Militärpolitik
spezialisierte Zeitschrift ist seit Jahren das Sprachrohr des
Rüstungsindustriellen Serge Dassault, der in jetzt auch groß in die übrige
französische Presse einsteigt, seitdem die EU-Kommission in Brüssel am 17.
Juni seinen Aufkauf der Socpresse (die u.a. die Tageszeitung "Le Figaro"
und
das Wochenmagazin "L¹Express" herausgibt) genehmigt. Seitdem ist der
Konzentrationsprozess beschleunigt fortgeschritten: In der ersten
Juliwoche
kündigte der neue Pressemogul Dassault Überkreuzbeteiligungen mit dem
Beton-, Bau- sowie Medienkonzern Bouygues und dem, in dessen Eigentum
stehenden, privaten ersten Fernsehsender TF1, um sich den Werbemarkjt
aufzuteilen. (Eine Beteiligung zunächst in Höhe von 5 Prozent am Kapital
der
Socpresse, von der auch über 70 Regionalzeitungen abhängen.) Zurück zum
bisherigen Sprachrohr des Rüstungs- und Pressemagnaten Dassault. Laut
einer
im April veröffentlichten Leserumfrage wählen 65 Prozent der Leser des
Magazins "Valeurs actuelles" konservativ und weitere 25 Prozent
rechtsextrem, vgl. "Marianne" vom 12. April 04. Eine feine Gesellschaft.
Und
in solchen Kreisen begeistert man sich derzeit für das "neue rheinische
Modell" unter einer SPD/Grünen-Bundesregierung.
Besondere Vorbildwirkung hat, nach Ansicht des
Wochenmagazins, derzeit vor
allem wegen ihrer Arbeitszeitpolitik. Manchen in der französischen
Wirtschaft bringt derzeit Siemens zum Träumen: Der Elektronik- und
Rüstungsgigant erreichte am 24. Juni 04 die Unterschrift der Gewerkschaft
IG
Metall unter ein Abkommen, das die Arbeitszeit in zwei Siemens-Betrieben
mit
4.000 Beschäftigten im Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW) von 35 auf 40
Stunden verlängert - ohne Lohnveränderung. Damit nicht genug: Auch das
Weihnachts- und das Urlaubsgeld werden abgeschafft und durch eine Prämie,
die an die Produktionsergebnisse der jeweiligen Niederlassung des Konzerns
gekoppelt ist, ersetzt. Hätte die Gewerkschaft nicht zugestimmt, drohte
Siemens die Produktion von Mobiltelefonen nach Ungarn zu verlagern und
2.000
Arbeitsplätze in NRW abzubauen. Jetzt verspricht Siemens die Beibehaltung
der Arbeitsstellen aber nur für zwei Jahre.
"Aufgrund der echten Verflechtung beider Ökonomien",
meint Valeurs
actuelles, "mit Unternehmen der Spitzentechnologie, die auf beiden Seiten
des Rheins arbeiten", könne dieses Signal nicht ohne Auswirkungen auf
Frankreich bleiben - und zeigt dabei das Foto eines Airbus-Triebswerks,
das
in Hamburg montiert und in Toulouse eingebaut wird. Das Magazin fügt
hinzu:
"Ähnliche Verhandlungen sind (in Deutschland) bei Daimler-Benz, Porsche,
BMW, Bosch und Philips im Gange" - in Wirklichkeit hat Daimler-Chrysler
die
Arbeitszeit vieler Mitarbeiter bereits um 18 Prozent erhöht. Nicht zuletzt
erinnert es daran, dass ähnliche Tendenzen auch im öffentlichen Dienst in
Deutschland am Werk seien. So erhöhten die Bundesländer NRW, Hessen,
Baden-Württemberg und Bayern die Arbeitszeit ihrer Angestellten im
öffentlichen Dienst ohne Lohnausgleich.
Schockwelle der neuen Kapitaloffensive durch die
halbe EU
Tatsächlich hat die in Deutschland unter Berufung
auf die Konkurrenz der
EU-Beitrittsländer (die seit dem 1. Mai dem Binnenmarkt angehören)
losgetretene Entwicklung unmittelbare Auswirkungen auf die Nachbarländer.
Neben der BRD sei auch in Frankreich, Belgien und Österreich durch das
jüngste Abkommen bei Siemens eine neue Debatte über die
Arbeitszeitverlängerung ausgelöst worden, notiert die Wirtschaftszeitung
"Les Echos".
Auf französischem Boden spielt derzeit die
Niederlassung des deutschen
Unternehmens Bosch in Vénissieux, einer Vorstadt von Lyon, den Vorreiter.
Der weltweit agierende Konzern mit Hauptsitz in Stuttgart produzierte
bisher
bei Lyon Dieselmotoren, doch diese stehen nicht mit den neuen
Umweltverträglichkeitsregeln im Einklang. Um den Standort Vénissieux auf
die
neuen technischen Normen zu bringen und weiter zu produzieren, verlangte
Bosch eine Senkung der Lohnkosten um 12 Prozent - sonst könne man auch in
die Tschechische Republik gehen. Mit zwei Gewerkschaften, der
rechtssozialdemokratischen CFDT und der Angestelltenorganisation CGC,
konnte
ein Abkommen ausgehandelt werden: Jede Woche sollen die 820 betroffenen
Beschäftigten eine Stunde unbezahlter Mehrarbeit leisten, also offiziell
36
Stunden zum Preis von 35 arbeiten, abgesehen von sonstigen Überstunden.
Die
postkommunistische CGT-Gewerkschaft war dagegen.
Da der Inhalt des Abkommens nicht dem (noch)
geltenden Gesetz entspricht,
wurden die einzelnen Beschäftigten zur Stellungnahme aufgefordert. In
namentlicher Abstimmung sollten die Lohanbhängigen sich bereit erklären,
ihren individuellen Arbeitsvertrag entsprechend abgeändert zu sehen. Wenn
mehr als 10 Prozent dagegen stimmen würden, dann drohte die Abwanderung
der
Arbeitsplätze und der Abbau von 300 Stellen in Vénissieux. Die knapp 1.000
Beschäftigten hatten bis zum Dienstag, 13. Juli 04, Zeit zur Entscheidung.
Nach vorläufigen Ergebnissen stimmten 70 Prozent für die Vereinbarung, nur
2
Prozent dagegen, die übrigen enthielten sich. Enthaltungen werden vom
Unternehmen als Akzeptanz gewertet.
In einem Interview mit "Le Monde" vom 10. Juli hatte
Wirtschaftsminister
Nicolas Sarkozy noch über die unbezahlte Verlängerung der Arbeitszeit bei
Siemens behauptet: "Eine solche Erpressung wäre bei uns nicht hinnehmbar."
Darüber wiederum zeigte sich der "Genosse der Bosse" erzürnt. Gegen die
"kleinen Tricksereien", die etwa darin bestünden, "die deutschen
Unternehmen
zu diskreditieren", die doch nur nach Lösungen in Sachen Arbeitszeit
suchten, verwahrte Kanzler Gerhard Schröder sich am Dienstag, 13. Juli
öffentlich.
Frankreich: Arbeitszeitpolitik und
35-Stunden-Woche
In Frankreich ist eine Arbeitszeitverlängerung per
Betriebsvereinbarung
schwerer als in Deutschland, da eigentlich - anders als in der
Bundesrepublik - die wöchentliche oder zumindest die Jahres-Arbeitszeit
und
die Höhe der Überstundenzuschläge gesetzlich festgelegt sind. Im Prinzip
sieht ein Gesetz der sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin
von
1999 eine gesetzliche Jahresarbeitzeit von 1.600 Stunden vor, was einem
Durchschnitt von 35 Stunden wöchentlich entspricht. Um den Unternehmen die
"Reform" von 1998/99 schmackhaft zu machen, hatte die Jospin-Regierung
zwei
Angebote an die Arbeitgeber in ihre Gesetzeswerk aufgenommen: Erstens die
Möglichkeit, die wöchentliche Arbeitszeit - je nach Bedarf der Unternehmen
-
im Lauf des Jahres nach oben variieren zu lassen, wenn ein
Betriebsabkommen
dies vorsieht; und zweitens starke Nachlässe für die Betriebe bei den
Sozialabgaben und Lohnnebenkosten und staatliche Subventionen.
Doch ein Flügel innerhalb der Regierungsparteien
profilierte sich mehrmals
mit der Forderung nach Abschaffung mit der "dirigistischen Reform von
Martine Aubry". Diese Abgeordneten wollen das Gesetz von 1999 am liebsten
ganz kippen, wie in einem Parlamentsbericht von Hervé Novelli im Frühjahr
gefordert wurde, drangen damit aber nicht durch. Doch Mitte Juni schien
der
profilierungssüchtige Wirtschaftsminister Nicolas Sarkozy sich ihnen
anzuschließen. Vor mehreren hundert Parlamentariern wetterte er heftig
gegen
die "Absurdität, Milliarden dafür auszugeben, die Franzosen am Arbeiten zu
hindern". Später präzisierte er, er wolle das 35-Stunden-Gesetz und die
mit
ihr verbundenen Subventionen wieder abschaffen und so den Staatshaushalt
finanziell entlasten. Als Gegenleistung für die Arbeitgeber sollten die
Überstunden verbilligt werden, indem etwa die Lohnzuschläge abgeschafft
würden. Daraufhin meldete sich aber sofort der Arbeitgeber-Präsident,
Baron
de Seillière, in der Wirtschaftszeitung La Tribune drohend zu Wort. Eine
Streichung der seit der "Aubry-Reform" gewährten Abgabensenkungen für die
Unternehmen komme nicht in Frage, forderte er, wenngleich er seinerseits
das
damit dereinst verbundene Ziel der 35-Stunden-Woche deutlich in Frage
stellte.
Wahrscheinlich ist also, dass sich die derzeit von
Premierminister Raffarin
favorisierte Lösung durchsetzen wird: Das Arbeitszeitgesetz von 1999 soll
demnach nicht einfach gestrichen werden; wohl aber sollen die Branchen
oder
Betriebe durch von ihnen ausverhandelte "Öffnungsklauseln" eine - nach
oben
hin - abweichende Arbeitszeitpolitik festlegen können. Ein Kompromiss im
Sinne der Arbeitgeber, der aber weniger radikal aussieht als die derzeit
von
"Superminister" Sarkozy hinausposaunte "Lösung".
Editorische Anmerkungen:
Der Autor schickte uns am 17. Juli
2004 seinen Artikel in der vorliegenden Fassung zur Veröffentlichung.