Ein neues linksunten?
(Pro und Contra)
von Detlef Georgia Schulze und Achim Schill06/2020
trend
onlinezeitungLiebe Genossinnen und Genossen, liebe MitstreiterInnen,
durch das (überraschende?) Urteil des Bundesverwaltungsgericht, dass „Regelungsgegenstand“ des linksunten-Verbotsbescheides vom August 2017 „nicht das Verbot des unter der Internetadresse ‚linksunten.indymedia.org‘ betriebenen Veröffentlichungs- und Diskussionsportals“ sei, stellt sich nun auch ganz akut die Frage, ob linksunten nicht demnächst auch wieder mit neuen [*] Artikeln herausgeben werden sollte.
Dabei stellen sich aber ein paar Probleme, z.B.:
Kann so ohne weiteres eine etablierte Struktur durch ein neues Team übernommen werden?
Sind überhaupt noch die politischen Bedingungen gegeben, die zur Gründung von linksunten führten?
Auf welche Moderationskriterien könnten sich neue Leuten einigen?
Wie wäre das Verhältnis zu de.indymedia? Wird überhaupt (wieder/weiterhin) ein zweites IMC gewollt/benötigt?
Und natürlich: Wie soll mit repressions-trächtigen Artikeln und Kommentaren umgegangen werden?
Dies sind nur ein paar Fragen, die geklärt werden sollten, bevor sich eventuell an ein solch anspruchsvolles Projekt heranwagt wird.
Was außerdem auf jeden Fall gebraucht würde:
Menschen mit genügend technischen Kenntnissen und Fähigkeiten.
Ein Mindestmaß an ‚linkspolitischem‘ Bewusstsein.
Ein Mindestmaß an Risikobereitschaft, sich notfalls auch juristisch auseinanderzusetzen. –
Wir würden vorschlagen, zunächst eine öffentliche, schriftliche Diskussion zu führen, ob überhaupt Bedarf für ein neues linksunten besteht.
Dafür haben wir außer dieser Einleitung noch zehn – teilweise erläuterte – Fragen (s. unten) formuliert und eine Webseite zu-diskutierende-fragen.net eingerichtet. [**]
Für jede dieser zehn Fragen ist dort eine Unterseite eingerichtet, unter der Kommentare gepostet werden können. Die Kommentare werden verschachtelt angezeigt, sodass klar ist, welche Kommentare sich aufeinander beziehen.
Sollte sich abzeichnen, daß eine hinreichende Zahl von potentiellen LeserInnen sowie eventuellen ModeratorInnen und AdministratorInnen Interesse an einem neuen linksunten hat, würden wir beide dafür sorgen, daß wir auch verschlüsselt zu erreichen sind.
Mit solidarischen Grüßen
Achim Schill / Detlef Georgia Schulze
[*] Vgl. das Archiv der alten Artikel: https://linksunten.indymedia.org/.
[**] Selbstverständlich können auch längere Antworten zur Grundidee bzw. zu dem Gesamtkomplex von Fragen geschrieben werden. Diese sollten dann aber vielleicht besser hier – bei de.indy – oder an anderer geeigneter Stelle veröffentlicht werden. Bei Bedarf würden wir aber auch auf der von uns eingerichteten Seite die Möglichkeit, nicht nur Kommentare, sondern auch Artikel zu posten, schaffen.
Fragen, die wir diskutieren sollten!
Detlef Georgia hat in den letzten Tagen darauf hingewiesen [*], daß
das Bundesinnenministerium schon seit geraumer Zeit behauptet, es habe im August 2017 doch gar nicht die „Internetplattform ‚linksunten.indymedia.org‘“ verboten
und
daß diese – wenn auch etwas kuriose – Ansicht auch vom baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshof mit Sitz in Mannheim und dem Bundesverwaltungsgericht (in seinem kürzlich veröffentlichten linksunten-Urteil) geteilt wird. –
Was liegt da näher als einen neuen HerausgeberInnen-Kreis zu gründen und linksunten dann wieder – auch mit aktuellen Texten – erscheinen zu lassen? – vorausgesetzt, es besteht überhaupt noch Bedarf an linksunten.
Wir möchten deshalb hier einige Fragen auflisten, die diskutierten werden müßten, um eine verantwortliche Entscheidung über eine Wiederherausgabe von linksunten treffen zu können.
1. Besteht überhaupt noch Bedarf an linksunten?
Diese Frage müßte unseres Erachtens unter mindestens zwei Gesichtspunkten diskutiert werden:
Besteht überhaupt noch Bedarf an indymedia insgesamt oder sind die meisten GenossInnen und Gruppen mit ihren eigenen Webseiten, ihren Facebook- und Twitter-accounts und ihren YouTube-channels (und was es sonst noch so gibt) zufrieden? Oder wird der Vorteil einer gemeinsamen, strömungsübergreifenden linken Plattform / eines gemeinsamen linken ‚Aushängeschildes‘ / eines Ortes der gemeinsamen Diskussion und Strategieentwicklung sehr wohl gesehen?
Besteht – neben dem „de“-IMC – noch Bedarf an einem zweiten IMC in der BRD? Oder hat sich die Unterschiedlichkeit der Vorstellungen, die 2007/08 zur Gründung des IMC linksunten führten, in Luft aufgelöst oder zumindest als überbrückbar erwiesen?
2. Wäre eine Wiederherausgabe von linksunten mit neuen Artikeln gegenüber dem – anders als das Medium weiterhin verbotenen – alten HerausgeberInnen-Kreis pietätlos? Würde dadurch einer linken Struktur, der der Staat augenscheinlich das Genick gebrochen hat, auch noch – von den eigenen GenossInnen – ihr ‚Kind‘ gestohlen?
3. Wie sollte der neue HerausgeberInnen-Kreis heißen?
Bei der Diskussion wären unseres Erachtens mehrere Aspekte zu berücksichtigen:
Wiederum: Wäre es pietätlos, wenn der alte Name nun durch neue Leute weiterverwendet würde?
Des weiteren:
Ein neuer HerausgeberInnen-Kreis stünde selbstverständlich unter dem Damoklesschwert als „Ersatzorganisation“ [*] des alten HerausgeberInnen-Kreises eingestuft zu werden. – Aber bis eine neue innenministerielle „Verfügung“ ergeht, die „feststellt“ (das heißt: behauptet), daß es sich um eine Ersatzorganisation handelt, wären die Repressionsrisiken nicht größer als auch ansonsten bei linker publizistischer Arbeit.
Würde nun für den neuen HerausgeberInnen-Kreis derselbe Name wie für den alten gewählt, so wäre für das BMI sicherlich einfacher zu behaupten, der neue Kreis sei eine Ersatzorganisation des alten. – Aber zwangsläufig ist ein Ersatzorganisationsverbot dann auch nicht (s. die diversen „KPD“ der 70er Jahre).
Umgekehrt bietet auch ein neuer Name keinen sicheren Schutz davor, als „Ersatzorganisation“ eingestuft zu werden.
- Schließlich kommt noch hinzu: Der alte HerausgeberInnen-Kreis hieß ja „IMC linksunten“, während das BMI – weiterhin hartnäckig – behauptet, einen „Verein“ namens „linksunten.indymedia“, den es nie gab, verboten zu haben.
4. Wie soll das neue Medium heißen? Tatsächlich haargenauso? Oder wäre geboten/angemessen den zeitlichen und personellen Bruch durch einen Namenszusatz „Neue Folge“ (so etwas ähnliches) kenntlich zu machen?
5. Sollen die ModeratorInnen und Technikverisierten zugleich die HerausgeberInnen sein?
Oder wäre es – sowohl als Schutz gegen Repression als auch um mehr LeserInnen zu erreichen – sinnvoll, beide Strukturen zu trennen, und insbesondere über die ModeratorInnen-Struktur eine HerausgeberInnen-Struktur mit mehr oder minder linken und linksliberalen Leuten zu setzen, die die juristische Verantwortung als HerausgeberInnen gegenüber dem Staat übernehmen – und so etwas erklären wie: „Wenn wir selbst moderieren würden, würden wir sicherlich anders moderieren; aber es ist das gute Recht derjenigen, die moderieren, so zu moderieren, wie sie moderieren – und für dieses Recht stehen wir persönlich und mit unseren Namen ein.“
Wäre es heutzutage – wo wir nicht mehr in den 1970er oder 1980er Jahre leben – überhaupt halbwegs realistisch, Menschen zu finden, die dazu bereit wären, die ihnen angedachte Rolle zu übernehmen?
Und umgekehrt: Besteht in ‚der anderen Fraktion‘ überhaupt Interesse, daß sich solche Leute finden? Oder ist die eigene Stärke eh fulminant genug?
6. Klandestine oder offene Struktur?
Würde sich für die HerausgeberInnen- (‚dualistische‘)-Struktur entschieden, so wäre eh klar, daß die HerausgeberInnen offen mit Namen auftreten.
Würde sich dagegen für eine personelle Struktur ohne HerausgeberInnen entschieden, so müßte geklärt werden,
ob wiederum – wie in der Anfangszeit von linksunten – zu offenen Treffen eingeladen werden soll (mit allen Implikationen, die das hinsichtlich Infiltration und Observation hätte)?
Und falls ja, wäre es dann nicht konsequent, ein ordnungsgemäßes Impressum zu verwenden? (Bei der HerausgeberInnen-Lösung wäre das eh nur konsequent.)
Oder soll die Struktur diesmal von Anfang an klandestin organisiert werden – und zwar so robust, daß sie gute Chance hätte, auch ein Verbot als „Ersatzorganisation“ zu überstehen und danach in der Lage wäre, das Medium anschließend weiterhin herauszugeben? – Wäre es überhaupt eine realistische Möglichkeit, ein Medium, das vom deutschen Staat ernsthaft (und nicht nur im Rahmen des üblichen Geplänkels) angegriffen wird, aufrechtzuerhalten?
7. Sollen die alten Moderationskriterien unverändert beibehalten werden oder wären vielleicht doch ein paar Modifizierungen sinnvoll?
Soll der Ausschluß von parteiförmig organisierten Linken so – recht strikt –, wie bei linksunten bis zum Verbot üblich, beibehalten werden?
Und: Ist es wirklich politisch sinnvoll oder zumindest ein Gebot linksradikaler Liberalität, auch Kommentare und Artikel, die eher Beschimpfungen und andere unreflektierte ‚Gefühlsausbrüche‘ als politische Stellungnahmen darstellen, stehen zu lassen?
8. Ist es wirklich nötig bzw. sinnvoll in dem Maße mit der moderatorischen Sympathie gerade für eine bestimmte Art von Beiträgen zu kokettieren, wie das bei linksunten teilweise der Fall war? Oder wäre es eher geboten, auf eine inner-links strömungs-übergreifenden Zusammensetzung des Moderationskollektivs zu achten und diese auch zu betonen?
9. Wie viel Leute wären eigentlich mindestens nötig, um eine Plattform, die wieder ähnlich viele Artikel und Kommentare, wie das ‚originäre‘ linksunten hätte, zu moderieren? Was hat sich bewährt, um mit etwaigen politischen Differenzen hinsichtlich der Moderierung konkreter Artikel und Kommentare umzugehen?
10. Welches technisches Wissen wäre nötig, um wiederum die Anonymität der AutorInnen möglichst stark zu sichern?
Ausgehend von den beiden nachfolgend genannten Texten, läßt sich erschließen, zu welchen Antworten wir auf einige der vorgenannten Fragen tendieren:
Kontroverse über Pressefreiheit
(systemcrash, in: de.indymedia vom 21.02.2020;
https://de.indymedia.org/node/67342)Keine Querfront, aber quer zu den Fronten. Von der Do it yourself-Glotze zur politischen Organisierung
Achim Schill / Detlef Georgia Schulze, in: Autonomie Magazin vom 15.07.2019;
https://www.autonomie-magazin.org/2019/07/15/kein-querfront-aber-quer-zu-den-fronten/ [in etwa ab der Stelle: „Unterschied zwischen einem gemeinsamen, strömungs-übergreifenden Medium und einer Vielzahl von individuellen und Gruppen-Twitter- und Facebook-Accounts sowie Blogs und Webseiten“])[*] https://rdl.de/beitrag/kritik-prozesstaktik-und-magelnder-reaktion-auf-verbot (Min. 9 ff.) und https://de.indymedia.org/node/88425 (gespiegelt von: https://endofroad.blackblogs.org/archive/10222).
[**] Vgl. zur Definition von „Ersatzorganisation“ durch das Bundesverfassungsgericht den Artikel von dgs bei scharf-links vom 18.06.2020 (hier mit einer ergänzenden Vorbemerkung noch mal als .pdf-Datei).
Wir erhielten den Beitrag von den AutorInNEN, nach der Erstveröffentlichung bei Indymedia am 20.6.2020