Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Fehler im System

06/2016

trend
onlinezeitung

Das Vertrauen in die französische Atomindustrie macht nicht eben gigantische Fortschritte. Pünktlich zum dreißigsten Jahrestags der Tschernobyl-Havarie ergab eine Umfrage für die Boulevardzeitung 20 minutes vom 25. April d.J., dass sieben von zehn Befragten eine Reaktorkatastrophe auch in Frankreich für möglich hielten. Drei Tage später war in der Unternehmerzeitschrift L’Usine nouvelle ein Interview mit Jean-Claude Delalonde zu lesen, dem Vorsitzenden der „Nationalen Vereinigung örtlicher Informationskomitees und –kommissionen“ ANCCLI, die sich mit Fragen der Reaktorsicherheit beschäftigt. Darin stand zu lesen: „Heute kann sich ein Atomunfall ereignen, und wir können nicht wissen, wie schwerwiegend er sein wird. Die Politiker von gestern und von heute werden verantwortlich und schuldig dafür sein, dass sie nichts unternommen haben.“

Atomkraft war lange Zeit ein Tabuthema in Frankreich. Zu tief schien das Land in der Abhängigkeit von einer Energiequelle zu stecken, die ihm vermeintliche „Unabhängigkeit in der Versorgung“ sicherte, also von der Ölerzeugerstaaten – was aber nur auf Kosten Dritter ging. 75 Prozent der in Frankreich erzeugten Elektrizität kommt heute aus Atomstrom. Und knapp vierzig Prozent des im Lande verbrannten Urans kommen aus Niger, das gleichzeitig eines der drei ärmsten Staaten der Welt bleibt.

Doch die Zeit des fraglosen Hinnahme dieser Politik ist vorbei. Nicht nur bei den sozialen Oppositionsbewegungen, die sich stärker als früher auch der Kritik an der Atomkraft öffnen – am vorigen Donnerstag, den 05.05.16 sprach etwa ein Redner aus Niger auf der besetzten Pariser place de la République zu den gravierenden Folgen des Uranabbaus für die dort lebende Einwohnerschaft. Auch die französische „Normalbevölkerung“ lehnt sich nicht länger einfach zurück, wird das Thema Nuklearenergie angesprochen. Erstmals sprachen sich bei einer Umfrage des Instituts IFOP, die am 23. April 16 publiziert wurde, knapp die Hälfte – 47 Prozent – der Teilnehmer „für eine Abschaltung der Atomkraftwerke in Frankreich“ aus, die Frage war ohne präzise Zeitangabe gestellt worden. Noch vor wenigen Jahren wäre ein solcher Anteil eher undenkbar gewesen. In den Altersgruppen unter 49 wächst er jedoch auf 57 bis 60 Prozent. Die Anzahl der Befürworter eines Weiterbetriebs der Anlagen wächst hingegen in den älteren Generationen und ist bei der über 66jährigen am höchsten.

Die amtierende Regierung will dennoch von einem Ausstiegskurs nichts wissen. Zwar wurde im August 2015 ein „Gesetz für den energiepolitischen Übergang“ in Kraft gesetzt, das jedoch lediglich verspricht, bis im Jahr 2025 den Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung von 75 auf 50 Prozent abzusenken; bei fast gleichbleibendem Volumen allerdings, denn bis dahin sollen mindestens zwei neue Reaktoren vom EPR-Typ laufen. Aber nicht einmal die Weichenstellung, die dafür erforderlich wäre, um wenigstens einige ältere Atomreaktoren abzuschalten, will die Regierung derzeit treffen. Wie RTL am 14. April 16 bekannt gab, verschob Umweltministerin Ségolène Royal eine solche Entscheidung soeben auf das Jahr 2019. Lediglich eine Altanlage, die im elsässischen Fessenheim, soll bis dahin abgeschaltet werden, und zwar 2018. Damit scheint sich sogar der Betreiber EDF halbwegs abgefunden zu haben, er hat begonnen, für „Entschädigungs“zahlungen zu streiten.

Aber dass die amtierende Regierung über die Wahlen Frühjahr 2017 hinaus amtierenden wird, ist unwahrscheinlich. Und die Rechtsopposition in Gestalt der konservativ-wirtschaftsliberalen Partei Les Républicains (LR, vormals UMP) kündigte durch ihren Vorsitzenden Nicolas Sarkozv in einem Interview vom 30. April an, bei einer Regierungsübernahme werde sie das Fünfzig-Prozent-Ziel abschaffen. Mit ihr würde es nicht einmal Schritte in Richtung Atomausstieg geben. Die regierende Sozialdemokratie hat sich durch ihre Koalition mit den Grünen wenigstens dazu verleiten lassen, so zu tun, als ob sie es wünsche, ist aber auf diesem Gebiet wie auf allen anderen politisch zu feige, sich mit irgendwelchen mächtigen Interessen anzulegen. Zu ihrer Linken hat sich wenigstens etwas getan. Dadurch, dass die französische KP – lange Zeit eine beinharte Atomkraftbefürworterin – in einem Bündnis mit der kleineren Linkspartei (PG) von Jean-Luc Mélenchon steckt, muss sie sich nunmehr Atomkraftkritik Gefallen lassen. Denn was immer man sonst von dem Ex-Sozialdemokarten Mélenchon halten mag, er hat wenigstens mit dem Atomenergie-Dogma seiner früheren Parteifreunde und seiner neuen Verbündeten von der französischen KP gebrochen.

Zwei riesige Steine liegen unterdessen auf dem Weg der französischen Atomindustrie. Das Eine sind die Meldungen über manipulierte Tests an zentralen Bauteilen für das erste AKW vom Typ Europäischer Druckwasserreaktor (EPR), dessen Bau in Flamanville in der Normandie im Gange ist. Seine Fertigstellung war ursprünglich für 2013 vorgesehen und hat sich bis mindestens 2018 verzögert. In der Osterwoche hatte der Bauherr EDF nun bekannt gegeben, die wichtigsten Bauprobleme rund um den Reaktorkern seien behoben. (Jungle World 13/2016) Ab dem 29. April folgte jedoch die kalte Dusche.

Nachdem die Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit ASN angeordnet hatte, dass neue Tests vorgenommen werden müsste – weil im April 2015 gravierende Risse am Reaktordruckbehälter festgestellt worden waren -, erwies sich, dass in 400 Fällen die Unterlagen von Stresstests für Bauteile des EPR gefälscht worden waren. Rund 10.000 Bauelemente waren in der Stahlfabrik von Le Creusot in Zentralfrankreich, die – nach einer Pleite 1984 und mehreren Eigentümerwechseln – seit 2006/07 durch den Atomindustriellen AREVA übernommen worden, auf ihre chemische, mechanische, thermische und sonstige Belastbarkeit hin überprüft worden. In bislang vierhundert Fällen wurde jedoch festgestellt, dass die Tests wohl manipuliert worden waren, wenn die Ergebnisse nicht wie gewünscht ausfielen - als handele es sich etwa um die Abgaswerte von Dieselmotoren bei VW, aber mit potenziell noch weitaus gravierenderen Folgen. In der französischen Atomindustrie brach daraufhin Panik aus. Am vorigen Mittwoch (/ VORGESTERN) verkündete Umweltministerin Royal nun beruhigend, vorläufig habe sich erwiesen, dass nur die Tests Defekte aufwiesen, nicht die Bauteile selbst.

Um das Vertrauen ist es daraufhin nicht zum besten bestellt. Es wird wohl auch nicht dadurch aufgebessert, dass Ségolène Royal am Tschernobyl-Jahrestag verkündet hat, im Falle eines Reaktorunglücks werde die zu evakuierende Zone von bislang zehn auf zwanzig Kilometer Radius rund um die französischen Atomanlagen ausgeweitet. Ungefähr zeitgleich begannen die Nachbarländer Belgien und Niederlande mit der Ausgabe von Jodpillen an die Bevölkerung für den Fall eines Atomunglücks.

Ein anderes Problem bleibt bislang ungelöst. EDF plante, mit massivr Rückendeckung des französischen Staates und im Bund mit einer chinesischen Firme, den Bau eines EPR-Reaktors im britischen Hinkley Point bis 2023. Dieses gigantische Projekt soll zwischen 22 und 24 Milliarden Euro kosten. Die konservativ-liberale Zeitschrift Atlantico sprach in diesem Zusammenhang am 02. Mai 16 vom „teuersten Objekt des Planeten“.

Am 06. März dieses Jahres war der Finanzvorstand von EDF, Thomas Piquemal, deswegen zurückgetreten. Am 04. Mai 16 schilderte er nun in einer Anhörung vor den Abgeordneten der französischen Nationalversammlung seine „Verzweiflung“ bezüglich dessen, was er de facto als Wahnsinnsprojekt betrachtet und die ihn zur Demission getrieben habe. Auch die Energiegewerkschaften der Dachverbände CGT und FO beim Betreiber EDF, beide bei weitem keine Atomkraftgegner, fordern ebenso wie Piquemal eine mehrjährige Verschiebung der Entscheidung über das Projekt. Sie gehen von einer irrationalen Flucht nach vorne der derzeitigen Unternehmensleitung aus, im Angesicht auch der massiven Schwierigkeiten für das bisherige EPR-Bauvorhaben in Flamanville, dessen Vollendung vorerst ungesichert ist.

Doch die Direktion hat nach wie vor die Unterstützung der französischen Staatsspitze. In den ersten Maitagen 2016 erklärte Staatspräsident François Hollande, ein Ausstieg aus dem Projekt komme nicht in Frage. Und sein Wirtschaftsminister Emmanuel Macron proklamierte, es sei für den Erhalt der Arbeitsplätze bei AREVA erforderlich – an die Anzahl von potenziell sinnvollen Arbeitsstellen, die für eine Umstellung der französischen Energieversorgung weg von Atomkraft erforderlich wären, denkt er dabei natürlich nicht. Vor wenigen Wochen erst entschied der französische Staat, EDF vier Milliarden Euro zuzuschießen. Doch auch dies dürfte ungenügend bleiben, da Experten mittlerweile von einer strukturellen Schuldenlast – unter anderem aufgrund desaströser Riesenprojekte – von über 35 Milliarden ausgehen.

Immerhin hat sich die definitive Entscheidung über Hinkley Point nun ein wenig nach hinten verschoben. EDF-Generaldirektor Jan-Bernard Lévy willigte ein, zumindest die Beschäftigtenvertreter im Konzernbetriebsrat anzuhören, der dazu am Montag, den 09.05.2016 erstmals zusammentrat. Diese formulierten Einwände und dürften eine wirtschaftliche Expertise anfordern, was bis in den Sommer dauern wird. Wollte Lévy das Projekt ursprünglich bereits im Januar oder Februar dieses Jahres starten, kann eine Entscheidung nun frühestens im September fallen. Aber auch auf britischer Seite wachsen die Bedenken, so will die dortige Regierung keine finanzielle Garantie mehr übernehmen. Und die dortigen Stromkunden wissen wohl noch gar nicht, in welchem Ausmaß ihre Energie durch das Projekt überteuert werden dürfte.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.