Auf
Einladung der Freien Universität Berlin sprach
Charles Bettelheim, Leiter des Centre d'Etudes de
Planification Socialiste an der Pariser Eco-le
Pratique des Hautes Emdes, am 11.
Dezember 1971 im Auditorium Maximum über »Quelques
conséquences economiques de la
reVolution culturelle proleurienne«, eine
Zusammenfassung seiner Untersuchungen in der
Volksrepublik im Spätsommer 1971. In einer sich
anschließenden Diskussion in kleinerem Kreise
vertiefte Bettelheim einige Thesen seines Vortrags.
Die im folgenden abgedruckten Übersetzungen des
Vortragsmanuskriptes und einiger Auszüge aus der
Diskussion wurden vom Autor durchgesehen und
berichtigt.
Den Vortrag, den ich
heute halte, soll vor allem als Ausgangspunkt einer
Diskussion dienen. Ich habe ihn also wie eine
Einleitung zu einer Debatte angelegt. Von den
Beobachtungen, die ich während einer Reise im Sommer
dieses Jahres (1971) gemacht habe, werde ich ausgehen
und einige Überlegungen an diese Beobachtungen
knüpfen.
Um zwei meiner
entscheidenden Eindrücke in wenigen Worten
zusammenzufassen, möchte ich sagen, daß mich, im
Vergleich zu meinen früheren Aufenthalten, die Stärkung
des sozialistischen Charakters Chinas beeindruckt hat,
die immer sichtbarer werdenden Wirkungen dieses
Entwicklungsweges und die Obereinstimmung dieser
Wirkungen mit dem, was die Begründer des
wissenschaftlichen Sozialismus voraussehen konnten, als
sie vom Sozialismus sprachen. Natürlich sind diese
beiden Eindrücke die Summe spezieller und
detaillierterer Eindrücke und Beobachtungen, über die
ich jetzt mit Ihnen sprechen möchte, wobei ich vor
allem auf meine Beobachtungen in der Industrie eingehen
werde.
I. Die Umwandlung der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung
Meine ersten
Beobachtungen betreffen die tiefgreifenden, meiner
Meinung nach entscheidenden Veränderungen, die während
der letzten Jahre in der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung eingeleitet wurden. Ich meine, daß
diese Veränderungen von entscheidender Bedeutung sind,
da sie die Produktionsverhältnisse selbst betreffen, d.
h. die Beziehungen der Produzenten untereinander und zu
den Produktionsmitteln. Sozialismus bedeutet nämlich
nicht allein und nicht einmal hauptsächlich eine
Veränderung der
Eigentumsverhältnisse. Eine solche Veränderung kann
rein formal bleiben. Sozialismus bedeutet auch und vor
allem eine Veränderung der Produktionsverhältnisse. Es
ist mir an dieser Stelle natürlich nicht möglich, alle
Aspekte dieser Umwandlungen zu untersuchen, die ich
beobachten konnte und die hauptsächlich seit 1966 im
Zusammenhang mit der proletarischen Kulturrevolution
aufgetreten sind. Ich werde also nur einige wesentliche
Aspekte erwähnen.
1.
Aufgaben der Führung und Aufgaben der Durchführung
Ein erster Aspekt
betrifft die Trennung zwischen Aufgaben der Führung und
Aufgaben der Durchführung. Natürlich gibt es weiterhin
einen Unterschied zwischen diesen Aufgaben, aber die
Trennung zwischen denjenigen, die für den einen und den
anderen Aufgabenbereich zuständig sind, beginnt zu
schwinden: immer weniger wird zwischen den
unmittelbaren Produzenten und den mit Leitungs- und
Verwaltungsaufgaben Beauftragten unterschieden. Diese
Tendenz tritt in mannigfaltigen Erscheinungsformen
auf. Ich werde mich darauf beschränken, nur einige
wenige zu erwähnen.
Zunächst gibt es in den
Betrieben Revolutionsausschüsse, die von den Arbeitern
gewählt und mit der Verwaltung des gesamten Betriebes
beauftragt werden. Die Revolutionsausschüsse haben den
Platz der früheren Betriebsleitung eingenommen, die von
den höheren Verwaltungsorganen ernannt und mit
Verfügungsund Entscheidungsbefugnissen ausgestattet
wurde. Diese Befugnisse unterstellten die Arbeiter der
Autorität der Betriebsleitung. Gewiß, diese Autorität
war grundsätzlich begrenzt durch das Eingreifen von
Partei und Gewerkschaften, die darüber wachen sollten,
daß mit ihr kein Mißbrauch getrieben wurde. Das
bedeutete nicht, daß die Trennung der Arbeiter von der
betrieblichen Autorität geringer gewesen wäre, wie z.
B. die Vielzahl der Bestimmungen zeigt, denen die
Arbeiter unterworfen waren und von denen heute ein
großer Teil aufgehoben ist oder aufgehoben wird, weil
diese Bestimmungen der Kritik aller Arbeiter
unterworfen wurden.
Die Revolutionsausschüsse
der Betriebe, die ich besichtigt habe, setzen sich zu
einem großen Teil aus Arbeitern zusammen, die weiterhin
am Produktionsprozeß teilnehmen und zwar am gleichen
Arbeitsplatz und bei gleichem Lohn wie zuvor, und dies
auch, wenn ein erheblicher Teil ihrer Arbeitszeit durch
Verwaltungsaufgaben beansprucht wird. Die Verwaltung
der Betriebe ist vor allem eine politische Verwaltung,
denn Vorrang haben die politischen Ziele des Aufbaus
des Sozialismus und nicht die rein wirtschaftlichen
Ziele. Bei ihren Verwaltungsaufgaben unterstehen die
Revolutionsausschüsse der Leitung des
Betriebsparteiausschusses. Auch dieser unterliegt mehr
als früher der Kontrolle der Massen, weil die
Parteiorganisation des Betriebes sich unter Beteiligung
von Vertretern der Massen versammelt. Die Führungs- und
Kontrolltätigkeiten beschränken sich nicht auf wenige
Vertreter; sie werden übertragen auf die Ebene der
Werkhallen, der Hallenabteilungen und Arbeitskolonnen
durch die Gründung von Arbeiterverwaltungsgruppen, von
Versammlungen der Arbeitskolonnen und Werkhallen und
von Gruppen, die das Maotsetung-denken studieren und
anwenden. Alle diese Gruppen sowie einzelne
Verantwortliche, die den Titel »Rote Wachtposten«
führen, beteiligen sich an der Verwaltung und Kontrolle
der Betriebe, der Werkhallen und der Arbeitskolonnen.
Ihre Befugnisse betreffen die verschiedensten Aspekte
der Tätigkeit des Betriebes: Ausarbeitung der
Produktionspläne, Festlegung der Produktionsaufgaben,
Ausarbeitung des Investitionsplanes, Kalkulation des
Selbstkostenpreises, Neuerungen, Arbeitsund
Sicherheitsbestimmungen, Verwaltung des Sozialfonds. In
der Provinz Liaoning wurde mir gesagt, daß in
Betrieben, in denen diese Tätigkeiten der Verwaltung
und Kontrolle voll entwickelt sind, der Anteil der
Arbeiter, die regelmäßig an diesen verschiedenen
Aktivitäten teilnehmen sich auf etwa zwanzig Prozent
belaufe, aber darüber hinaus sich alle Arbeiter an den
Vollversmmlungen der Werkhallen, der Arbeitskolonnen
oder noch kleineren Einheiten beteiligten.
Natürlich erfordert die
Entfaltung solcher Tätigkeiten, daß die
wirtschaftlichen Fragen nicht von den anderen isoliert
werden, sondern der Lösung der politischen und
ideologischen Probleme untergeordnet werden. Diese
Entwicklung wurde möglich durch die Politisierung der
Massen und das wachsende Gewicht der proletarischen
Moral. Auf diese Weise hört der Betrieb auf, eine
einfache Produktionseinheit zu sein, die sich nur mit
begrenzten und im engeren Sinne technischen Problemen
befaßt. Er ist ausdrücklich ebenso eine politische
Einheit und ein Ort intensiver ideologischer Arbeit.
2. Kopfarbeit und
Handarbeit
Dies führt zu einer
weiteren Seite der Umwandlung: die Trennung von
Kopfarbeit und Handarbeit wird aufgehoben. Im
kapitalistischen Betrieb drückt sich diese Trennung
aus in der Unterscheidung von unmittelbarer
Produktionsarbeit, die den Arbeitern zugewiesen ist,
und der Arbeit der Ingenieure und Techniker, die den
Produktionsprozeß leiten und die Entscheidungen über
Änderungen im Arbeitsprozeß, über Maschinen, technische
Bestimmungen usw. treffen. Wenn diese Trennung
vorherrscht, wie es in den
kapitalistischen Betrieben der Fall ist, dann versetzt
sie die unmittelbaren Produzenten in eine den
Ingenieuren und Technikern untergeordnete Stellung.
Infolge der Veränderungen der letzten Jahre
verfällt in China auch dieser Aspekt der
gesellschaftlichen Arbeitsteilung: sogenannte Gruppen
der Dreierverbindung werden gebildet, Gruppen, die mit
technischen Fragen betraut sind und von Arbeitern,
Technikern und Kadern gebildet werden. Nach dem in
China heiligen Grundsatz bilden die Arbeiter das
Knochengerüst dieser Gruppen, mit anderen Worten: sie
sind ihre wichtigste Kraft. Diese Gruppen der
Dreierverbindung nehmen die technische Umwandlung in
die Hand, die technischen Neuerungen und die
Änderungen der technischen Vorschriften. Durch die
Gruppen der Dreierverbindung, aber auch durch die
politische und ideologische Erziehung und die
Teilnahme der Ingenieure und Techniker an der
Handarbeit wird die Trennung zwischen Ingenieuren und
Technikern einerseits und Arbeitern andrerseits so
ausgelöscht wie die Herrschaft der ersteren über die
letzteren. Diese Bewegung wird verstärkt durch die
tiefgreifende Umwandlung des Bildungssystems. Diese
Umwandlung verzahnt von nun an die Ausbildung mit
produktiver und revolutionärer Praxis. Zudem ist das
höhere Bildungswesen jetzt nur noch denjenigen
zugänglich, die die Produktion durchlaufen haben, d.
h. studieren kann nur, wer mindestens zwei oder drei
Jahre als Arbeiter oder Bauer gearbeitet oder der
Volksbefreiungsarmee angehört hat, denn auch diese
nimmt direkt am Produktionsprozeß teil. Ich glaube,
diese Umwandlungen sind von entscheidender Bedeutung.
Zunächst bedeuten sie ganz allgemein, daß hier eines
der charakteristischsten Merkmale aller
Klassengesellschaften beseitigt wird, und zwar die
gesellschaftliche Trennung von Theorie und Praxis. In
der kapitalistischen Produktionsweise wird diese
Trennung genauestens verwirklicht durch die Ansammlung
theoretischer, wissenschaftlicher und technischer
Kenntnisse auf der einen Seite und praktischer
Kenntnisse auf der anderen. Die ersteren nehmen die
Form der Natur- und Ingenieurswissenschaften an, als
deren ausschließlicher Träger die
Naturwissenschaftler, Ingenieure und Techniker
angesehen werden, während die praktischen Kenntnisse
beschränkt werden auf einfache Details oder auf
einfache, mehr oder weniger routinemäßige Handgriffe.
Zwar hat die scheinbar autonome Existenz der
Naturwissenschaft und Technik diesen Wissensbereichen
eine beträchtliche Entwicklung ermöglicht, doch ihre
wachsende Trennung von der Praxis der materiellen
Produktion erzeugt in gleichem Maße entgegengesetzte
Wirkungen, auch in Inhalt und Struktur der
naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse.
Insbesondere führt diese Trennung dazu, daß die
unmittelbaren Produzenten der Kenntnisse beraubt
werden, die ihre Produktionspraxis bereichern und sie
befähigen könnten, diese von sich aus zu verändern, und
sie verzögert oder verhindert die Aufnahme praktischer
Erfahrungen in den Wissensbestand von Naturwissenschaft
und Technik. Eine weitere Auswirkung der Trennung
zwischen Naturwissenschaft und Technik einerseits und
der Produktionspraxis andererseits ist der unvermutete
Konservatismus der Technik. Die Einbildung, der Theorie
gebühre der Vorrang, erzeugt einen starken
gesellschaftlichen Widerstand gegenüber allen
technischen Änderungen, die von den Arbeitern
vorgeschlagen werden könnten, vor allem, wenn diese
Änderungen den wissenschaftlich und technisch
erlaubten Vorstellungen widersprechen. Die chinesische
Kulturrevolution hat gezeigt, wie früher tausende und
abertausende Neuerungen von den Technikern blockiert
wurden, weil sie ihnen nicht mit den wissenschaftlichen
und technischen Vorstellungen übereinzustimmen
schienen, die man ihnen beigebracht hatte. Die
Kulturrevolution entfaltete auf breiter Ebene die
Entwicklung der Dreierverbindungen, die auch
Wissenschaftler einschlössen, setzte dadurch eine große
Zahl von Neuerungen frei und verwirklichte tausende
solcher Vorschläge. Diese Neuerungsvorschläge sind
heute eine der wichtigsten Grundlagen des technischen
Fortschritts und der Entwicklung der Produktion in
China.
In den Betrieben, die ich
besichtigt habe, zeigte man mir eine große Anzahl neuer
oder renovierter Maschinen, die der Arbeit der
Dreierverbindungen zu verdanken sind. Oft konnte die
Produktionskapazität alter Maschinen durch solche
Neuerungen auf das Zwei- oder Dreifache erhöht werden.
Die von den Dreierverbindungen verwirklichten
Neuerungen betreffen die verschiedensten Gebiete, zum
Beispiel den Bau von Elektromotoren, vor allem eines
Motors, dessen Stator und Rotor mit Wasser gekühlt
werden und dessen Leistung aus diesem Grund stark
erhöht wurde, oder den Bau von Öfen für die
Herstellung von Si-licium-Mono-Kristallen nach einer
vollkommen neuen Konzeption oder von
Hochdruck-Elektroventilen für die chemische und
Erdölindustrie oder die Produktion von neuartigen
Unkrautvernichtungsmitteln.
Die Vielfalt der
erzielten Ergebnisse zeigt eine Revolution auf dem
Gebiet der wissenschaftlichen und technischen
Produktionsverhältnisse, die teilhat an der vom
Sozialismus ermöglichten Befreiung der
Produktivkräfte.
Diese Revolution setzt
jedoch voraus, daß im Gegensatz zu der Entwicklung in
den kapitalistischen Ländern die Einführung von
Neuerungen nicht davon abhängig gemacht wird, daß neue
Produkte oder neue Dienstleistungen verkauft werden
können, die mehr Geld
einbringen. Heute kann man in China feststellen, daß es
sich dabei um nichts Geringeres handelt als um eine
neue Form der Entwicklung der Produktivkräfte.
Diese neue Form entspricht der sozialistischen
Entwicklung der Produktivkräfte. Das ist ein Punkt,
an den ich eine zweite Reihe von Beobachtungen
anschließen möchte.
II. Die Veränderungen in
den Entwicklungsformen der Produktivkräfte
Die Entwicklung der
Produktivkräfte wird nicht mehr eng einer vorherigen
Akkumulation unterworfen, sondern beruht auf einem
Massenneuerungs- und erneuerungsprozeß. (Ich werde auf
diesen Punkt noch zurückkommen.) Es scheint mir, daß
man die Bedeutung und Tragweite dieser Veränderungen
nicht hoch genug einschätzen kann. Sie bringen eine
neue Art des technischen Fortschritts hervor, einen
Fortschritt, der nicht mehr durch die Akkumulation von
Kapital begrenzt und bedingt wird. Dies gibt, nebenbei
gesagt, den Bemühungen der Wirtschaftler, die auf
China »Entwicklungsmodelle« anwenden wollen, die sie
für die kapitalistischen Länder entworfen haben, einen
geradezu phantastischen Anstrich. (Wenn diese Modelle
für die kapitalistischen Länder in etwa einen
beschreibenden Wert haben, so werden sie sinnlos, will
man sie auf die sozialistische Wirtschaft Chinas
anwenden.)
Diese Art der Entwicklung
bedeutet, wie Marx vorhergesehen hat, daß in der
sozialistischen Entwicklung der Produktivkräfte die
lebende Arbeit der direkt und unmittelbar entscheidende
und vorrangige Faktor ist, während die tote Arbeit nur
noch ein untergeordneter und zweitrangiger Faktor ist.
Die Folgen dieser Veränderungen werden erst langsam
sichtbar, aber es ist offensichtlich, daß sie auch die
Formen der Aufteilung der Produktion betreffen, d. h.
die Formen der Arbeitsteilung zwischen den
Produktionseinheiten und zwischen den Industriezweigen,
die Formen der sozialistischen Zusammenarbeit zwischen
den Produktionseinheiten und Produktionszweigen und
auch die Formen der Produktionsaufteilung nach den
Kategorien, die Marx als die Abteilungen I und II der
Wirtschaft bezeichnet. Ich habe allerdings nicht die
Zeit, hier auf diese Punkte einzugehen, sondern möchte
vor allem einige konkrete Folgen meiner Bemerkungen
zeigen. Dies wird mir dann gestatten, ihre Bedeutung zu
veranschaulichen anhand einer Reihe von Beobachtungen,
die ich machen konnte.
1.
Die Klein- und Mittelbetriebe
Die meisten Besucher
Chinas waren in den letzten Jahren beeindruckt, wie
die kleineren und mittleren Betriebe aufblühen. Sie
sind buchstäblich wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Viele Zahlen können diesen Punkt belegen. Diese kleinen
und mittleren Betriebe haben verschiedene rechtliche
Formen. Manche sind in Kollektiveigentum, z. B. die
kleinen Fabriken, die von Produktionsbrigaden oder von
Volkskommunen gegründet wurden oder die
Straßenfabriken, die in Städten oder Vororten von
Hausfrauen gegründet wurden. Andere sind in
Staatseigentum, z. B. die kleinen Fabriken, die auf
Landkreisebene gegründet wurden. Die Entwicklung dieser
kleinen und mittleren Betriebe entspricht
offensichtlich einer politischen Orientierung, die sich
aber nur deshalb so stark durchsetzen konnte, weil sie
eben den neuen Produktionsverhältnissen und neuen
Produktivkräften entspricht.
Erstaunlich ist nämlich
in der Tat nicht nur die zahlenmäßige Vermehrung der
kleinen und mittleren Betriebe, sondern ihre
Lebenskraft, ihre Fähigkeit, sich aus eigener Kraft zu
entwik-keln, innerhalb weniger Jahre aus einem
Zwergunternehmen von manchmal fünf oder sechs Arbeitern
zu einem Betrieb mit 200 bis 300 Arbeitern
heranzuwachsen und das im allgemeinen ohne staatliche
Investitionen, einzig und allein durch das eigene
Wachstum und zu einem großen Teil durch eigene
Ausrüstung. Dazu muß man erwähnen, daß diese Betriebe
ihre Erzeugnisse zu staatlich festgesetzten Preisen
verkaufen, also ohne erhöhte Gewinnspannen. Diese
Lebenskraft der kleinen und mittleren Betriebe ist das
Zeichen dafür, daß wir es hier mit radikal neuen
Entwicklungsbedingungen der Produktivkräfte zu tun
haben. Einerseits handelt es sich um neue
gesellschaftliche und politische Bedingungen des
technischen Fortschritts, von denen ich soeben
gesprochen habe; denn diese Bedingungen gestatten ein
organisches Wachstum der kleinen Betriebe und die
schrittweise Umwandlung ihrer Produktionsmittel.
Andererseits handelt es sich um die sozialistische
Zusammenarbeit zwischen Betrieben, um die Hilfe, die
kleine und mittlere Betriebe von größeren und älteren
Betrieben erhalten, d. h. von den Arbeitern und
Technikern dieser Betriebe.
2. Die Entwicklung
neuer Techniken
Ich möchte jetzt auf die
Entwicklung neuer Techniken zurückkommen, die nicht
mehr an die Bedingungen der erweiterten
kapitalistischen Reproduktion gebunden ist, d. h. an
die Akkumulation und Zentralisation des Kapitals. In
der kapitalistischen
Produktionsweise zwingt in der Tat die Zentralisation
des Kapitals der kapitalistischen technischen
Entwicklung ihre eigene Form auf, eben durch die
Konzentrierung der wissenschaftlichen und technischen
Forschung auf die Formen des technischen Fortschritts,
die dem stark zentralisierten Kapital maximale
Vorteile bringen. Daraus erklärt sich das
unaufhörliche Wachstum der unter den Bedingungen des
Kapitalismus angeblich »optimalen« Betriebsgröße, wie
es das für den gegenwärtigen Kapitalismus
charakteristische Wachstum der Stahlwerke, Raffinerien
und der chemischen Fabriken zeigt. In China, wo die
Gesetze der erweiterten kapitalistischen Reproduktion
gebrochen worden sind, kann man feststellen, daß der
technische Fortschritt eine ganz andere Form annimmt
und daß die kleinen modernen Produktionseinheiten
ebenso leistungsfähig und oft noch leistungsfähiger
sein können als die großen. Beispielsweise sind ihre
Selbstkosten niedriger, weil sie weniger Investitionen
pro Einheit der Produktionskapazität erfordern. Ein
bemerkenswertes Beispiel bilden die kleinen
Stickstoffdüngerfabriken mit einer Kapazität von
einigen tausend Tonnen, die jetzt in großer Zahl in den
ländlichen Gebieten arbeiten. Diese Fabriken verwenden
kleine Kompressoren, die ihrerseits angesichts der
kleinen Abmessungen leicht in kleinen ländlichen
Fabriken hergestellt werden können. Das führt mich zu
einer anderen Tatsache, die mich und zahlreiche andere
Chinabesucher beeindruckt hat, zur Industrialisierung
auf dem Lande.
3.
Die Industrialisierung auf dem Lande
Wenn man heute China
besucht und ländliche Gebiete aufsucht, kann man den
bereits sehr deutlichen Beginn einer tiefgreifenden
Veränderung des Lebens auf dem Lande feststellen. Auf
der Ebene der Landkreise, Volkskommunen und
Produktionsbrigaden sind tausende kleinere und
mittlere Industriebetriebe entstanden, die die Dörfer
und kleinen Städte mit Elektrizität, Roheisen, Stahl,
Baumaterialien, verschiedenen Metallen, Metalldrähten,
Maschinen, landwirtschaftlichen Geräten, Bodenfräsen,
Düngemitteln, Textilien und sogar mit verschiedenen
chemischen und pharmazeutischen Produkten versorgen.
Auf diese Weise entwickeln sich, wie man in China sagt,
elementare industrielle Systeme. Während meines
Besuches im Sommer 1971 konnte ich die Arbeit zweier
solcher Systeme verfolgen, eines im Landkreis Jin in
der Nähe von Lüda (Provinz Liaoning), das andere im
Landkreis Jiading in der Nähe von Shanghai. Zur
Veranschaulichung möchte ich einige Zahlen über den
zweiten Landkreis nennen. Zum Landkreis Jiading
gehören 19 Kommunen und 4 Brigaden, bei einer
Bevölkerung von 450000 Einwohnern. Zur Zeit der
Befreiung (1949) gab es dort nur einige wenige
Ölmühlen, die mit Holzpressen ausgestattet waren, eine
Handtuchfabrik, in der von Hand gewebt wurde und eine
Mehlfabrik, die mit Mühlsteinen arbeitete. Ende 1956
zählte der Landkreis 140 Fabriken, in denen 7 500
Arbeiter und Angestellte beschäftigt waren und deren
Produktion einem Wert von 31 Millionen Yuan entsprach.
Nach dem großen Sprung nach vorn (1958) zählte der
Landkreis 341 Fabriken mit 12 500 Arbeitern und
Angestellten und einer Produktion von 42 Millionen
Yuan. Heute zählt der Landkreis 731 Betriebe mit 20 000
Arbeitern nd einer industriellen Produktion von 115
Millionen Yuan. Mit anderen Worten: in weniger als 15
Jahren ist der Wert der Industrieproduktion dieses
Landkreises nahezu um das Vierfache gestiegen. Und das
ist keine Ausnahme. Ganz allgemein glaube ich, daß man
zwei wichtige Aspekte einer solchen Entwicklung
betonen muß, die ebenfalls einer politischen
Orientierung und einer neuen Struktur der
Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte
entsprechen. Einer dieser Aspekte ist wesentlich für
den Aufbau des Sozialismus: das Verschwinden des
Gegensatzes zwischen Stadt und Land, ein Gegensatz,
bei dem Marx hervorhob, daß er die materielle
Grundlage einer ganzen Reihe von Widersprüchen bilde,
die den Warengesellschaften und Klassengesellschaften
eigen seien. Der andere Aspekt dieser Entwicklung, der
mit dem ersten zusammenhängt, ist eine neue räumliche
Verteilung der Produktivkräfte, eine Verteilung, die
sich nicht mehr auf die Städte konzentriert, wie die
erweiterte kapitalistische Reproduktion es mit sich
bringt. In China wird die gegenwärtige
Industrialisierung erstmals auf der Welt begleitet von
einer Bewegung fort von der Stadt, zumindest in den
Großstädten wie Shanghai, aber auch in anderen Städten
wie Shenyang, in denen die Stadt-Land-Bewegung
Millionen von Menschen erfaßt hat. Das heißt nicht, daß
in jenen Städten die Industrie zurückginge, im
Gegenteil. Aber das heißt, daß die industrielle
Entwicklung dort auf der Grundlage einer unveränderten
oder abnehmenden städtischen Bevölkerung erfolgt,
während die Industrie auf dem Lande oder in den
kleinen Städten vom Wachstum der Bevölkerung begleitet
wird. Wohlgemerkt handelt es sich auch hier um eine
politische Orientierung, aber diese Politik ist nur
wirksam, weil sie sich auf gesellschaftliche
Verhältnisse stützt und auf Produktivkräfte, die es ihr
gestatten, sich fest in der Wirklichkeit zu verwurzeln.
Dies ist das Gegenteil eines »Voluntarismus« und eines
»Subjektivismus«, den gewisse Kritiker gern der
chinesischen Führung vorwerfen. Nichts ist falscher
als diese Anschuldigungen. Uberraschend ist dagegen der
außerordentliche Realismus einer Politik, die weder
Phantasie noch kühne Initiative ausschließt.
Nach diesen Eindrücken,
die vor allem die Umwandlung der wirtschaftlichen Basis
Chinas, der Produktionsverhältnisse und der
Produktivkräfte, betreffen, möchte ich zum Schluß
einige Worte über die Veränderungen im Überbau anfügen;
denn offensichtlich wären ohne die Veränderungen im
Überbau die Veränderungen der ökonomischen Basis
unmöglich gewesen.
III. Die Veränderungen im
Überbau
Die ideologischen
Veränderungen sind das unmittelbare Ergebnis der
proletarischen Kulturrevolution,
deren eigentliches Ziel die sogenannte
»Revolutionierung der Ideologie« war, oder, wie es im
Beschluß vom 8. August 1966 über die große
proletarische Kulturrevolution heißt, »die Umformung
der Ideologie und des geistigen Antlitzes der gesamten
Gesellschaft im Denken, in der Kultur und in den
Sitten«. Diese Veränderungen haben auf der Grundlage
des sozialistischen Eigentums und der politischen
Führung der Kommunistischen Partei Chinas alle anderen
Veränderungen erst möglich gemacht. Selbstverständlich
kann man die ideologischen und moralischen
Veränderungen nicht direkt »beobachten« es sei denn,
man lebe schon sehr lange in einem Lande und führe das
gleiche Leben wie die Bevölkerung. Dennoch lassen sich
wichtige Beweise für eine Umwandlung von
revolutionärer Tragweite sammeln. Eine Reihe solcher
Beweise findet man im Bereich der Sprache, in Form der
Anwendung gewisser Losungen wie »die Interessen des
Ganzen über die individuellen und besonderen
Interessen stellen«, »dem Volke dienen«, »sich auf die
Massen stützen«, »zu denken wagen und zu handeln
wagen«, »die Mythen durchbrechen und den Geist
befreien«. Wenn man von einem Ende Chinas zum anderen
solche Losungen hört und wenn sie nicht nur in Form
stereotyper Sätze auftauchen, sonderen in Aussagen über
nachprüfbare Fakten, in Aussagen, die die praktischen
Veränderungen und die konkreten Bedingungen dieser
Veränderungen beschreiben, dann erlebt man wirkliche
Haltungen, Daseinsformen und Denkweisen, eine Realität,
ohne die das, was man materiell beobachtet, völlig
undenkbar wäre.
Es ist mir nicht
möglich, das Gesagte mit einer Vielzahl von Beispielen
zu belegen, dann das würde zu viel Zeit erfordern; aber
ich möchte zum Schluß zwei Dinge feststellen. Die erste
Feststellung betrifft die Dezentralisierung der
Entscheidungen, die verbunden ist mit dem Entstehen
eines einzigen Wirtschaftsplanes. Die Dezentralisierung
erklärt die außergewöhnliche Dynamik der chinesischen
Wirtschaft und die Beschränkung des
Verwaltungsapparates auf ein Minimum, was man überall
feststellen kann. Erst diese Dezentralisierung
ermöglicht die Entwicklung von Formen sozialistischer
Verwaltung, der Mitbestimmung der Arbeiter, von der ich
zu Beginn gesprochen habe. Wenn diese Dezentralisierung
sich effektiv mit einem Wirtschaftsplan verbindet, so
nur deshalb, weil jeder Betrieb die Interessen der
Gesamtheit, so wie er sie einschätzt und wie sie vom
Plan konkretisiert werden, über seine eigenen
Interessen stellt. Wenn diese ideologische
Voraussetzung nicht gegeben ist, sind
Dezentralisierung und Planung unvereinbar. Man muß
sich dann auf unbedingte und detaillierte Befehle
beschränken und bürokratisch ihre Ausführung
überwachen. Das Ergebnis kennt man. Die zweite
Feststellung betrifft die sozialistische
Zusammenarbeit, die Tatsache, daß jeder Betrieb sich
ebenso um die Interessen derjenigen kümmert, die ihn
umgeben oder mit denen oder für die er arbeitet, wie um
seine eigenen. Ich werde zwei Beispiele solcher
Zusammenarbeit anführen. Das erste Beispiel behandelt
den Kampf gegen die Umweltverschmutzung, wo in den
Großstädten wie Tianjin oder Shanghai aufsehenerregende
Ergebnisse erzielt wurden dank der Zusammenarbeit
verschiedener Betriebe und der Bevölkerung. Eine
Auswirkung dieser Zusammenarbeit besteht zum Beispiel
darin, daß die Abwässer nicht mehr in die Flüsse
geleitet werden, sondern durch unterirdische Kanäle zu
Fabriken für die Umwandlung dieser Abwässer, Fabriken,
die häufig sauerstoffbindende Mikroorganismen
verwenden und die tausende von Tonnen nützlicher
Produkte wiedergewinnen (z. B. Düngemittel, die es
gestatten, zehntausende von Hektar Boden zu düngen oder
den Ertrag der Fischzucht zu erhöhen, der zum Beispiel
in der Umgebung von Tianjin von 30 Doppelzentnern pro
Hektar auf 90 angestiegen ist). Gleiche Ergebnisse
werden auch bei der Verwertung fester Abfälle und
gasförmiger Rückstände erzielt, die als neue Rohstoffe
verwendet werden. In Fushun in der Provinz Liaoning
gestattet zum Beispiel die Verwendung gasförmiger
Rückstände, der Abwässer und der Schlacke aus der
Erdölraffinerie Nr. 3 den Gewinn von neunzehn
chemischen Produkten und seltenen Metallen. Infolge der
Veränderungen an der Arbeitsweise dieser Raffinerie
wurden die sie umgebende Atmosphäre gereinigt und
Rohstoffe im Werte von mehreren Millionen Yuan jährlich
gewonnen, zum Beispiel Soda, Sulfate, Kohlensäureschnee
und Rohstoffe für die 1 Herstellung synthetischer
Textilien. Das zweite Beispiel betrifft die Forschung
über Qualität und Haltbarkeit der Produkte aufgrund
einer engen Zusammenarbeit der Hersteller mit den
Konsumenten, auch mit den privaten Konsumenten, die
ihre Bedürfnisse den Arbeitern mitteilen, vor allem
aber auch aufgrund von Untersuchungen, die die Arbeiter
unter den Verbrauchern durchführen. Diese
Zusammenarbeitführt zu beachtlichen Ergebnissen, die
man bei den industriellen und landwirtschaftlichen
Verbrauchern, im Handelsnetz und bei den privaten
Käufern nachprüfen kann. Solche Ergebnisse entsprechen
im wesentlichen den Interessen der Verbraucher. Für die
Produktionsbetriebe bedeuten diese Verbesserungen der
Qualität und der Haltbarkeit der Produkte im
allgemeinen mehr Arbeit, verstärkte Forschung,
sorgfältige Fertigung und manchmal erhöhte
Herstellungskosten, alles Dinge, die nicht automatisch
mit steigenden Verkaufspreisen oder einem erhöhten
Gesamtumsatz einhergehen; manchmal ist sogar das
Gegenteil der Fall, dann nämlich, wenn die Gegenstände
dauerhafter geworden sind. Wenn die
Produktionsbetriebe so handeln, dann aus dem Grunde,
weil sie das Interesse der Verbraucher über ihr eigenes
Interesse stellen oder allgemeiner: die Interessen der
Gesamtheit des Landes über ihr eigenes Interesse. Dies
ist der Motor eines wirtschaftlichen Fortschritts
neuen Typs, der gebunden ist an die Tatsache, daß die
Produktion nicht mehr vom Streben nach erhöhtem
Tauschwert beherrscht wird oder nach vermehrten
Geldeinnahmen oder nach höherem Gewinn, sondern vom
Bemühen um einen höheren Gebrauchswert. Das ist eine
sehr wichtige Feststellung. Sie bedeutet eine radikale
Umwandlung der gesellschaftlichen Beziehungen sowohl in
Bezug auf die ökonomische Basis als auch auf den
Überbau.
Solche Umwandlungen
erfolgen nicht spontan. Sie werden nicht mechanisch
bestimmt durch die Entwicklung der Produktivkräfte,
die nie etwas anderes sein kann als die erweiterte
Reproduktion der wirtschaftlichen Basis. Folglich, und
das erscheint mir wesentlich zum Verständnis der
proletarischen Kulturrevolution und ihrer Rolle, muß
man berücksichtigen, daß die Umwandlungen an der
wirtschaftlichen Basis nur das Ergebnis eines Kampfes
sein können, der von den Arbeitern unter der Führung
der Kommunistischen Partei Chinas geführt wird. In
diesem Kampf wird die gesellschaftliche Arbeitsteilung
umgewandelt, werden die hierarchischen Beziehungen
innerhalb der Produktionseinheiten gesprengt, nehmen
die Arbeiter Verwaltung und Technik in die eigenen
Hände. Ein solcher Kampf wird politisch und
ideologisch geführt. Er ist keine einfache Revolte. Er
hat revolutionären Charakter. Um zum Ziel zu kommen,
erfordert dieser Kampf eine Einheit von Theorie und
Praxis und eine richtige Einschätzung der Art der
möglichen Umwandlungen und ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit. Deshalb braucht dieser Kampf eine
revolutionäre Führung. Ich glaube, daß es unerläßlich
ist, diese abschließenden Bemerkungen zu machen. Ohne
diese Bemerkungen blieben die Natur und die
Voraussetzungen der wirtschaftlichen Erfolge, die man
heute in China beobachten kann, unverständlich.
Editorische Hinweise
Der
Text wurde entnommen aus: Bettelheim, Macciocchi u.a.,
China 1972, Ökonomie, Betrieb und Erziehung seit der
Kulturrevolution, Westberlin 1972, S.35-46
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