Die aktuellen Aufstände in
der Türkei, allen voran in Istanbul, zeitigten schnell
ikonische Idolviralien,
Verbreitungen von Bildern, denen mehr als symbolische
Wirkung zugeschrieben wird, die
über das Mem hinaus wie Impulse für Weiteres gesehen
werden, weil sie putativ und
geglaubt das Ganze beinhalten. Pedram Shahyar erwähnt in
ihrem Artikel in der Jungle World
über die Proteste, die sie als Teil globaler
Krisenproteste identifiziert, als erstes #occupygezi
und vor allem "die Fotos", die dann weitergeleitet
werden. Fragbar wäre, was hier
neben dem Nimbus der bekannten twitter-Democracy an
Typen hervortritt beziehungsweise
in der Logik der "technischen Reproduzierbarkeit der
Sozialbeziehungen" mit-reproduziert
wird. Besonders die Frau im roten Kleid, die angeblich
am Anfang steht, formuliert
eine seltsam a-revolutionäre Haltung oder einen
Antirealismus, indem sie als Nicht-Opfer
das Pfefferspray wie annimmt und somit die Repression
vorführt und mit ihrem Körper
markiert. Diese Bild wird unter anderem von der
nationalpost.com aber auch auf dem
Visual Culture Blog (visualcultureblog.com)
ikonisiert und in seiner Wirkung und seinem
Aufbau im Detail beschrieben, das aber
positiviert und ohne seine offensichtliche Herkunft zu
befragen, denn die liegt ja
bekannterweise nie nur im Bild. Mit Herkunft ist nicht
allein sein Zustandekommen am Ort
oder sein andauerndes Herstellen in den sozialen Medien
gemeint, sondern das
Differenzfeld seiner interpretatorischen Elemente.
Das Signalrot und die Mischung aus Nonchalance und
Chuzpe scheint auszuzeichnen, was die urbane, gebildete
aber zukunfts-, weil joblose Generation ausmacht: Die
fast suizidale Konfidenz, das
Selbstvertrauen einer geupdateten "Liberté guidant le
peuple", die dabei nicht
selbstinszeniert auftritt, sondern mit dem Anspruch der
rellen, anfassbaren Citoyen. Die junge
Frau, fotografisch solitär vor die Phalanx der
Polizisten gerückt, duckt nicht und weicht nicht
sofort zurück, als sie in
ihrer signalartigen Provokation mehr oder weniger
gewollt und gezwungen wirkend von
einem vielleicht ebenso alten und unterbezahlten
Uniformierten wie überrascht,
misstrauenslos angriffen wird. Ihre Präsenz wird Inbild
des naiven Widerstands im
Sommerkleid, im Lernprozess. Dieses visuelle Material
wird mit dieser Tendenz präzise von
Akteuren lesbar, als Trigger aufgefasst, der sich
fortsetzt, also eine Über-Mechanik besitzt;
ein Ding das man nutzend multiplizieren und weiter
einschreiben kann. Ein Topos auf
dem Platz in Repro. Aber was 'sagt' der Topos an den
Grenzen des medien- und
kulturwissenschaftlich Soziologischen und
Bildwissenschaftlichen? Und warum sollte er in
seiner 1:1-Funktion des Widerstands, also Teil
und Image des Widerstands zu sein, naiv sein?
Wenn es stimmte, dass die Zusammensetzung der
Protestierenden im Kern trainierter Intellekt
ist, laut Murat Çakir s
kürzlicher Darstellung der Proteste für die Rosa
Luxemburg Stiftung in Kassel zu
70 Prozent parteifern, überwiegend Neu-Demonstrantin
ist, unter 30 Jahren ist und mehrheitlich die Autorität
zum Angriffsziel hat, dann wäre das Schreiben um ihre
Praxis, die im Sog der
Überproduktions- oder Profitkrise rennt, jenseits ihrer
Forderungen für den staatsseitig
zu duldenen, moderaten Protest, eine Teilnahme des
Nicht-Bewussten ihrer Praxis?
Unerwähnt blieben dann
Mittelklassen und Arbeiter, die zwischen 7 und 21 Uhr
keine Zeit finden, den
Taksim zu besetzen. Oder kann man auch sagen sie seien
organisiert unorganisiert, wenn
es heißt, sie seien ohne dominante Stimme? Die
ausgemachte "Naivität" könnte, weder
als Vorwurf noch als Belehrung, lauten: Weder das
Ungeschütze der Frau in Rot, weder ihr
revolutionäres Kleid als Verkleidung wären
töricht aber effektiv, es ist das "Wesen machen"
im Vergleich, die Identifikation, den
Ur-Peffersprayangriff im Gezi Park weiter zu tragen, als
gelte er allen, die bisher
in Erwartung trister und basal prekärer Lohnabhängigkeit
auf der Straße Staatsbürger
waren. Dem Bild muss neben dem Auslösermoment für die
Revolte die Ebene des Abgesangs
auf die im gleichen Moment des Fotoschusses
durchgezogene Veraltung des
Bürger-Phantasmas zugeschrieben werden. Wir sehen eine
Frau, die (in der grammatikalisch
falschen Form, aber geschichtlich wohl richtig)
entschieden wird, sich vom Status
der Staatsangehörigen zu verabschieden. Mittelstand
endet hier.
Eine A-Revolte, wäre dann eine, deren Artikulationen
sich lediglich gegen Bevormundung und Gentrifizierung,
also gegen die konkreten Oberflächenphänomene der
Akkumulation richtet und
ökonomische Zusammenhänge nicht besagt, deren polyphoner
Ton aber bereits hier und da von
Faschismus spricht, also einerseits zu kurz, anderseits
schon weiter geht. Alle Ironie
und parodistischen Aneignungs- und Drehungsformen der
Demonstrationen, wenn zu Beispiel Beschimpfungen seitens
des Regimes im auf die Bewegung orientierten Soziolekt
plakativ Umgedeutet werden,
und die konnotativen Anschlüsse an Revolutionsbilder
sind zudem im Westen gern
gesehene und gutgeheißene Protest-Kreativität in sauber
angelesener Spektakeltheorie, mit
denen die Kulissen demokratischen Rechts in einem Staat
wie Deutschland gepimpt werden
können. Bei aller nötigen Solidarität und dem Faktum von
Getöteten ist der Kampfplatz inmitten der Stadt Istanbul
die Performance, vor der sich die hiesigen Herrschenden
1.700 Kilometer weiter im Westen fürchten oder zur Zeit
eher ekeln, siehe den Versuch
anlässlich Blockupy in Frankfurt/Main das
Demonstrationsrecht zu
attackieren, die sie aber andernstandorts gut aufgehoben
haben wollen. Der beklatschte Esprit,
der Erfindungsreichtum der Protestierenden und
die damit verbundene Entdeckung ihrer
friedlichen Literarizität outet geradezu die
bürgerlichen Kriterien, wie sie an den Aufstand angelegt
werden.
Çakir s Vortrag trug den Titel "Aufstand gegen Erdogan"
und zeigte Bilder aus der Geschichte und
Verletzte und Solidarität im Strassenkampf, und neben
dem Kemal Ataturk Fahnenschwenker
auf der Barrikade, mit den Assoziationen "Pariser
Kommune" und "'68", ebenfalls die
Frau im roten Kleid und es wurde deutlich, dass der zum
produktiven gewordene Blick der
einer Generation ist, die das von Murat Çakir als Junge
persönlich erlebte Massaker
vom 1. Mai 1977 auf dem
Taksim-Platz nicht bulletproof übergehen kann. Der
Angriff auf die Klasse der
Arbeiter damals suchte hier vielleicht einen
historischen link ins Heute, der in der
jetzigen Bewegung ohne festen Namen und fixen
Repräsentanten, aber mit paradoxerweise
um so diverseren Repräsentations-Signifikanten,
ihre Entsprechung nicht findet. Ob diese
Diversität ihr Vorteil ist, wenn Zeichen denn
etwas wiedergeben von der Zusammensetzung
der Diversen, ist mit dem Zweifel an ihnen durch
die belegt, die antikapitalistische Ansätze
sehen wollen und für die
überbetonte Symbolik, welche die Revolution von der
Strasse auf die Strasse
holt, politische Falle bedeutet.
Der Begriffsversuch eines Topos am Platz ist keine
Schrulle. Ist es so, dass der auf die Figur
der Regierung verengte
Klassenkonflikt gut 14 Tage nach den ersten
Demonstrationen gegen die
Restauration im Stadtbild - dem
architekturplanerischen Ausdruck des Neo im Liberalen
- mit der Taksim solidarity group nun droht, pera
annonciertem Kompromiss für den Erhalt
des Gezi-Parks als Park und
den städtischen Plätzen als öffentliche, die soziale
Frage zur Frage des Environments
und dem Erreichen eines Sozialstaatstandards nach
marktwirtschaftlichem
Vorbild zu machen? Der verlangte Stop des Abbaus
bürgerlicher Rechte und dem Ende vom Krieg gegen Kurden
wird im Brief an "Die Regierung der
Türkischen Republik und Öffentlichkeit" mit
"lifestyle and beliefs" verbunden und so gleich
mehrfach republikanisch lokal begrenzt. Der
Frankfurter Kunstverein warnt in seiner
Ankündigung für die Radikalinski -Ausstellung
"Ohnmacht als Situation: Democracia, Revolutie
& Polizey" (13. Juni bis 4. August) schonmal vorsorglich
vor politischer Radikalisierung
und zeigt "Revolution als
Projektionsfläche".
Inzwischen schiebt sich die kulturalistische Position in
Person von Architekt Korhan Gümüs in
den Konflikt, indem ein Gegeneinander geleugnet wird. Er
sagt in der Zeit: "Wir möchten
eine erfolgreiche, gemeinsame Lösung" für die Stadt,
eine mit den massenhaften Protesten
entstehende Zivilgesellschaft verschiedenster
Lager sei nun die eigentliche Revolution. Im
Kontext der Konferenz "istanbul city portrait" in
Venedig vor etwas mehr als einem Jahr, an
der Gümüs als Redner teilnahm, spricht die
Agentur "Superpool" (Selva Gurdogan und Gregers
Tang Thomsen) von Kommunikation zwischen Öffentlichkeit
und öffentlicher Verwaltung und
bietet sich unter dem Motto "Integrating space, design
and dialogue" als Vermittlerin
zwischen einem Oben und einem Unten an.
So vermögen der "Chapulation Song- We'll be Watching
You" und das Bild der empörten junge
Frau im Kleid zu markieren, was an mehr als nur
sprechender Brutalität vom Staat auf
seine Reform-Gläubigen zukommen kann, bis die
Tränengasvorräte ausgehen. So vermag die
strukturelle Ähnlichkeit medialer Verdrängung in
krisenhaften Situationen klar machen, was
die herrschende Ordnung der Diktatur des Kapitals
will oder sich im jeweiligen Land traut.
Während des Kessels in Frankfurt am 1. Juni
brachte der Hessische Rundfunk eine halbironisch
anmoderierte aber dann doch
faszinierte Liveberichterstattung über den Besuch des
so genannten
niederländischen Königspaares in Wiesbaden.
Die Rückprojektion einer "echten Demokratie" auf eine
noch unechte ist die romantische enttäuscht
Hoffender am Geschehen .so wie privilegierte über ihre
Liebe und Revolution reden
(Moritz Rinke, Dramatiker und Rekordtorschütze der
deutschen
Autorennationalmannschaft) und Bewegung und Emotionales
literarisch vermengen: "Ich habe
eine türkische Freundin und sie hat mir gesagt, wenn du
weiter mit mir zusammen sein willst,
dann musst du die Revolution mitmachen. Aber ich mache
nicht nur deshalb mit, sondern
weil ich von den Ereignissen wirklich berührt bin. Sie
ermutigen mich, daran zu glauben,
dass Dinge plötzlich wieder veränderbar sind."
Adressiert wird von "We'll be Watching You" (ein
politisiertes Cover von "Every Breath You
Take" von The Police, das
im Titel die hochamtliche Beschimpfung der
Protestierenden als "Capulcu",
Plünderer entwendet) neben dem Staatsoberhaupt auch der
Russische Nachrichtenkanal RT und
damit auch ein bestimmtes Niveau, das sich allein auf
dem der Anprangerung von Unrecht
und Ungerechtigkeit bewegt, dem b-Moll trauriger Wut.
Editorische
Hinweise
Wir erhielten
den Aufsatz vom Autor für diese Ausgabe
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