Blick, Zusammensetzung, der Topos am Platz
Ikonische Trigger der A-Revolte in Istanbul bilden eine gutgeheißene Protest-Kreativität

von
Matze Schmidt

06-2013

trend
onlinezeitung

Die aktuellen Aufstände in der Türkei, allen voran in Istanbul, zeitigten schnell ikonische  Idolviralien, Verbreitungen von Bildern, denen mehr als symbolische Wirkung zugeschrieben wird, die über das Mem hinaus wie Impulse für Weiteres gesehen werden, weil sie putativ und geglaubt das Ganze beinhalten. Pedram Shahyar erwähnt in ihrem Artikel in der Jungle World über die Proteste, die sie als Teil globaler Krisenproteste identifiziert, als erstes  #occupygezi und vor allem "die Fotos", die dann weitergeleitet werden. Fragbar wäre, was hier neben dem Nimbus der bekannten twitter-Democracy an Typen hervortritt beziehungsweise in der Logik der "technischen Reproduzierbarkeit der Sozialbeziehungen"  mit-reproduziert wird. Besonders die Frau im roten Kleid, die angeblich am Anfang steht,  formuliert eine seltsam a-revolutionäre Haltung oder einen Antirealismus, indem sie als  Nicht-Opfer das Pfefferspray wie annimmt und somit die Repression vorführt und mit ihrem Körper markiert. Diese Bild wird unter anderem von der nationalpost.com aber auch auf dem Visual Culture Blog (visualcultureblog.com) ikonisiert und in seiner Wirkung und seinem Aufbau im Detail beschrieben, das aber positiviert und ohne seine offensichtliche Herkunft zu  befragen, denn die liegt ja bekannterweise nie nur im Bild. Mit Herkunft ist nicht allein sein Zustandekommen am Ort oder sein andauerndes Herstellen in den sozialen Medien gemeint, sondern das Differenzfeld seiner interpretatorischen Elemente.

Das Signalrot und die Mischung aus Nonchalance und Chuzpe scheint auszuzeichnen, was die urbane, gebildete aber zukunfts-, weil joblose Generation ausmacht: Die fast suizidale Konfidenz, das Selbstvertrauen einer geupdateten "Liberté guidant le peuple", die dabei nicht selbstinszeniert auftritt, sondern mit dem Anspruch der rellen, anfassbaren Citoyen. Die junge Frau, fotografisch solitär vor die Phalanx der Polizisten gerückt, duckt nicht und weicht nicht  sofort zurück, als sie in ihrer signalartigen Provokation mehr oder weniger gewollt und gezwungen wirkend von einem vielleicht ebenso alten und unterbezahlten Uniformierten wie überrascht, misstrauenslos angriffen wird. Ihre Präsenz wird Inbild des naiven Widerstands im Sommerkleid, im Lernprozess. Dieses visuelle Material wird mit dieser Tendenz präzise  von Akteuren lesbar, als Trigger aufgefasst, der sich fortsetzt, also eine Über-Mechanik  besitzt; ein Ding das man nutzend multiplizieren und weiter einschreiben kann. Ein Topos auf dem Platz in Repro. Aber was 'sagt' der Topos an den Grenzen des medien- und kulturwissenschaftlich Soziologischen und Bildwissenschaftlichen? Und warum sollte er in seiner 1:1-Funktion des Widerstands, also Teil und Image des Widerstands zu sein, naiv sein?

Wenn es stimmte, dass die Zusammensetzung der Protestierenden im Kern trainierter Intellekt  ist, laut Murat Çakir s kürzlicher Darstellung der Proteste für die Rosa Luxemburg Stiftung in Kassel zu 70 Prozent parteifern, überwiegend Neu-Demonstrantin ist, unter 30 Jahren ist und mehrheitlich die Autorität zum Angriffsziel hat, dann wäre das Schreiben um ihre Praxis, die im Sog der Überproduktions- oder Profitkrise rennt, jenseits ihrer Forderungen für den staatsseitig zu duldenen, moderaten Protest, eine Teilnahme des Nicht-Bewussten ihrer Praxis?  Unerwähnt blieben dann Mittelklassen und Arbeiter, die zwischen 7 und 21 Uhr keine Zeit  finden, den Taksim zu besetzen. Oder kann man auch sagen sie seien organisiert unorganisiert, wenn es heißt, sie seien ohne dominante Stimme? Die ausgemachte "Naivität" könnte, weder als Vorwurf noch als Belehrung, lauten: Weder das Ungeschütze der Frau in Rot, weder ihr revolutionäres Kleid als Verkleidung wären töricht aber effektiv, es ist das "Wesen machen" im Vergleich, die Identifikation, den Ur-Peffersprayangriff im Gezi Park weiter zu tragen, als  gelte er allen, die bisher in Erwartung trister und basal prekärer Lohnabhängigkeit auf der  Straße Staatsbürger waren. Dem Bild muss neben dem Auslösermoment für die Revolte die Ebene des Abgesangs auf die im gleichen Moment des Fotoschusses durchgezogene Veraltung des Bürger-Phantasmas zugeschrieben werden. Wir sehen eine Frau, die (in der grammatikalisch falschen Form, aber geschichtlich wohl richtig) entschieden wird, sich vom Status der Staatsangehörigen zu verabschieden. Mittelstand endet hier.

Eine A-Revolte, wäre dann eine, deren Artikulationen sich lediglich gegen Bevormundung und Gentrifizierung, also gegen die konkreten Oberflächenphänomene der Akkumulation richtet und ökonomische Zusammenhänge nicht besagt, deren polyphoner Ton aber bereits hier und da von Faschismus spricht, also einerseits zu kurz, anderseits schon weiter geht. Alle Ironie und parodistischen Aneignungs- und Drehungsformen der Demonstrationen, wenn zu Beispiel Beschimpfungen seitens des Regimes im auf die Bewegung orientierten Soziolekt  plakativ Umgedeutet werden, und die konnotativen Anschlüsse an Revolutionsbilder sind zudem im Westen gern gesehene und gutgeheißene Protest-Kreativität in sauber angelesener Spektakeltheorie, mit denen die Kulissen demokratischen Rechts in einem Staat wie Deutschland gepimpt werden können. Bei aller nötigen Solidarität und dem Faktum von
Getöteten ist der Kampfplatz inmitten der Stadt Istanbul die Performance, vor der sich die hiesigen Herrschenden 1.700 Kilometer weiter im Westen fürchten oder zur Zeit eher ekeln, siehe den Versuch anlässlich Blockupy in Frankfurt/Main das Demonstrationsrecht zu attackieren, die sie aber andernstandorts gut aufgehoben haben wollen. Der beklatschte Esprit, der Erfindungsreichtum der Protestierenden und die damit verbundene Entdeckung ihrer friedlichen Literarizität outet geradezu die bürgerlichen Kriterien, wie sie an den Aufstand angelegt werden.

Çakir s Vortrag trug den Titel "Aufstand gegen Erdogan" und zeigte Bilder aus der Geschichte  und Verletzte und Solidarität im Strassenkampf, und neben dem Kemal Ataturk Fahnenschwenker auf der Barrikade, mit den Assoziationen "Pariser Kommune" und "'68", ebenfalls die Frau im roten Kleid und es wurde deutlich, dass der zum produktiven gewordene Blick der einer Generation ist, die das von Murat Çakir als Junge persönlich erlebte Massaker  vom 1. Mai 1977 auf dem Taksim-Platz nicht bulletproof übergehen kann. Der Angriff auf die  Klasse der Arbeiter damals suchte hier vielleicht einen historischen link ins Heute, der in der jetzigen Bewegung ohne festen Namen und fixen Repräsentanten, aber mit paradoxerweise um so diverseren Repräsentations-Signifikanten, ihre Entsprechung nicht findet. Ob diese Diversität ihr Vorteil ist, wenn Zeichen denn etwas wiedergeben von der Zusammensetzung der Diversen, ist mit dem Zweifel an ihnen durch die belegt, die antikapitalistische Ansätze  sehen wollen und für die überbetonte Symbolik, welche die Revolution von der Strasse auf  die Strasse holt, politische Falle bedeutet.

Der Begriffsversuch eines Topos am Platz ist keine Schrulle. Ist es so, dass der auf die Figur  der Regierung verengte Klassenkonflikt gut 14 Tage nach den ersten Demonstrationen gegen die Restauration im Stadtbild -  dem architekturplanerischen Ausdruck des Neo im Liberalen - mit der Taksim solidarity group nun droht, pera  annonciertem Kompromiss für den Erhalt  des Gezi-Parks als Park und den städtischen Plätzen als öffentliche, die soziale Frage zur Frage des Environments und dem Erreichen eines Sozialstaatstandards nach  marktwirtschaftlichem Vorbild zu machen? Der verlangte Stop des Abbaus bürgerlicher Rechte und dem Ende vom Krieg gegen Kurden wird im Brief an "Die Regierung der Türkischen Republik und Öffentlichkeit" mit "lifestyle and beliefs" verbunden und so gleich mehrfach republikanisch lokal begrenzt. Der Frankfurter Kunstverein warnt in seiner Ankündigung für die Radikalinski -Ausstellung "Ohnmacht als Situation: Democracia,  Revolutie & Polizey" (13. Juni bis 4. August) schonmal vorsorglich vor politischer Radikalisierung und zeigt "Revolution als Projektionsfläche".

Inzwischen schiebt sich die kulturalistische Position in Person von Architekt Korhan Gümüs  in den Konflikt, indem ein Gegeneinander geleugnet wird. Er sagt in der Zeit: "Wir möchten eine erfolgreiche, gemeinsame Lösung" für die Stadt, eine mit den massenhaften Protesten entstehende Zivilgesellschaft verschiedenster Lager sei nun die eigentliche Revolution. Im Kontext der Konferenz "istanbul city portrait" in Venedig vor etwas mehr als einem Jahr, an der Gümüs als Redner teilnahm, spricht die Agentur "Superpool" (Selva Gurdogan und  Gregers Tang Thomsen) von Kommunikation zwischen Öffentlichkeit und öffentlicher Verwaltung und bietet sich unter dem Motto "Integrating space, design and dialogue" als Vermittlerin zwischen einem Oben und einem Unten an.

So vermögen der "Chapulation Song- We'll be Watching You" und das Bild der empörten  junge Frau im Kleid zu markieren, was an mehr als nur sprechender Brutalität vom Staat auf seine Reform-Gläubigen zukommen kann, bis die Tränengasvorräte ausgehen. So vermag die strukturelle Ähnlichkeit medialer Verdrängung in krisenhaften Situationen klar machen, was die herrschende Ordnung der Diktatur des Kapitals will oder sich im jeweiligen Land traut. Während des Kessels in Frankfurt am 1. Juni brachte der Hessische Rundfunk eine halbironisch  anmoderierte aber dann doch faszinierte Liveberichterstattung über den Besuch des  so genannten niederländischen Königspaares in Wiesbaden.

Die Rückprojektion einer "echten Demokratie" auf eine noch unechte ist die romantische  enttäuscht Hoffender am Geschehen .so wie privilegierte über ihre Liebe und Revolution reden (Moritz Rinke, Dramatiker und Rekordtorschütze der deutschen Autorennationalmannschaft) und Bewegung und Emotionales literarisch vermengen: "Ich habe eine türkische Freundin und sie hat mir gesagt, wenn du weiter mit mir zusammen sein  willst, dann musst du die Revolution mitmachen. Aber ich mache nicht nur deshalb mit,  sondern weil ich von den Ereignissen wirklich berührt bin. Sie ermutigen mich, daran zu glauben, dass Dinge plötzlich wieder veränderbar sind." Adressiert wird von "We'll be Watching You" (ein politisiertes Cover von "Every Breath You  Take" von The Police, das im Titel die hochamtliche Beschimpfung der Protestierenden als "Capulcu", Plünderer entwendet) neben dem Staatsoberhaupt auch der Russische Nachrichtenkanal RT und damit auch ein bestimmtes Niveau, das sich allein auf dem der Anprangerung von Unrecht und Ungerechtigkeit bewegt, dem b-Moll trauriger Wut.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Aufsatz vom Autor für diese Ausgabe