Libyen:
Keine Beruhigung der Lage im Nach-Bürgerkriegs-Land

von Bernard Schmid

06-2013

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Ein Ungemach kommt selten allein. Am Sonnabend, den 11. Mai 13 gaben zwar die Milizen, die bis dahin vierzehn Tage lang das Außen- und das Justizministerium in der libyschen Hauptstadt Trabluz (Tripolis) belagert hatten, ihre Blockade auf und übergaben die Kontrolle über die Ministerien einem gemeinsamen Ausschuss aus Regierungs- und Parlamentsmitgliedern. Am darauf folgenden Tag gab jedoch der britische Ölkonzern BP den Rückzug eines Teils seines Personals – aller „nicht unabdingbaren“ Mitarbeiter – aus Libyen bekannt, da ihre Sicherheit nicht gewährleistet sei. Zuvor hatten schon die britische und die US-amerikanische Botschaft einen solchen Schritt unternommen. Am 23. April d.J. war eine Bombe an der Umzäung der französischen Botschaft in Tripolis explodiert, zwei Wächter wurden schwer verletzt.

Am Nachmittag des 13. Mai 13 explodierte dann ein Sprengsatz auf einem Parkplatz des Krankenhauses al-Jala im ostlibyschen Benghazi. Laut ersten Angaben aus Regierungskreisen wurden dabei fünfzehn Menschen getötet. Später wurde die Zahl jedoch offiziell auf drei Tote herunterkorrigiert; vor allem behauptete die Regierung nun jedoch, es handele sich gar nicht um ein Attentat, sondern um einen Unfall, eine Gasexplosion. Dies wirkte jedoch nur mäßig glaubwürdig. Am 18. Mai wurde ein Soldat an einem Check-point mitten im Stadtzentrum von Benghazi bei einer Sprengstoffattacke (leicht) verletzt. Ferner wurde am 28. Mai d.J. eine Militärpatrouille in Benghazi von bewaffneten Männern attackiert, wobei ein Soldat der Armee getötet und drei weitere schwer verletzt wurden.

Am 31. Mai 2013 informierte die französische Tageszeitung Le Parisien zunächst in einem „Exklusiv“bericht, die politische oder militärische Führung Frankreichs sei besorgt darüber, dass aus Nord-Mali vertriebene (oder dort durch die Intervention unter Druck stehende) Jihadisten sich verstärkt nach Südwest-Libyen zurückzogen. In Paris stelle man deswegen Überlegungen über ein militärisches Vorgehen Frankreichs auch im Südwesten Libyen ans; vgl. http://www.leparisien.fr/l – Im Laufe des Tages wurde diese Nachricht jedoch dementiert. Staatspräsident François Hollande erklärte, man wolle nicht in Libyen militärisch intervenieren, sondern unterstütze die Anstrengungen der zuständigen libyschen Stellen zur Bekämpfung des Terrorismus. (Vgl. http://www.lemonde.fr)

Machtkampf entbrennt

Ein offener Machtkampf tobt erkennbar in Libyen. Dabei stehen sich ein Teil der offiziellen staatlichen Institutionen einerseits, und aus den im Bürgerkrieg von 2011 hervorgegangene frühere Rebellengruppen auf der anderen Seite gegenüber. Ein Teil der Milizen, die aus den nicht entwaffneten Rebellenverbänden heraus entstanden ist, hat eine rein regionalistischen, lokalen oder clanbezogenen Interessen verpflichteten Charakter. Andere dagegen habe eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte djihadistische Ideologie.

Auf Regierungsseite wird der Staat von Vertretern der „Allianz der nationalen Kräfte“ regiert, einer bürgerlich-nationalistischen Partei, die relativ säkular ausgerichtet ist, aber auf den Konservativismus der libyschen Gesellschaft in Fragen der familiären Moral Rücksicht nimmt. An ihrer Spitze stehen wirtschaftsliberale Eliten, die zum Teil aus der schmalen Experten- und Führungsschicht im Libyen des alten Regimes unter Muammar Al-Qadhafi (eindedeutscht: Gaddafi) hervorgingen. Als Parteichef der „Allianz der nationalen Kräfte“ amtiert etwa Mahmud Jibril, der im Jahr 2011 zeitweilig Übergangspremierminister war. Von 2007 bis 2010 hatte Jibril, nach einer Ausbildung zum Wirtschaftsfachmann in den USA, das „Büro für nationale wirtschaftliche Entwicklung“ geleitet. Es war in den letzten Jahren unter dem Gaddafi–Regime für wirtschaftsliberal inspirierte Reformen, Privatisierungen und ähnliche Maßnahmen zuständig.

Seine Partei verwies bei den ersten freien und pluralistischen Wahlen Libyens, am 07. Juli 2012, den libyschen Ableger der Muslimbrüder auf den zweiten Platz. Allerdings wurden damals nur 80 der insgesamt 200 Sitze im libyschen Parlament durch Kandidaten, die auf den Listen politischer Parteien gewählt wurden, besetzt. Die übrigen 120 Sitze wurden unter Einzelbewerbern, die nach dem Persönlichkeitswahlrecht bestimmt wurden, aber oft nebenbei auch einer Partei angehörten, verteilt. Die Zusammensetzung des Parlaments ist deswegen komplizierter, als es den ersten Blick aussehen konnte. Fest steht jedoch, dass die Offensive der Islamisten bei den Wahlen nicht die von ihnen gewünschten, von Anderen befürchteten Erfolge eintrug. Nach einer Ära der Über-Ideologisierung von Staats wegen unter dem Gaddafi-Regime war die Mehrzahl der Libyer nicht an einer mit Ideologie überfrachteten „Alternative“ interessiert. Auch wenn Islamisten unterschiedlicher Couleur weiterhin in Teilen der libyschen Gesellschaft verankert bleiben, während gleichzeitig ein Sozialdiskurs aus der Linken oder aus einem gewerkschaftlichen Spektrum – der dem sozialen Gerechtigkeitversprechen nach Art der Islamisten ein Gegengewicht entgegensetzen würde – außerordentlich schwach bleibt.

Einer der Gründe dafür ist das weitgehend Fehlen einer Arbeiterbewegung: Im Erdöl-Rentiersstaat Libyen ließ die Staatsführung Jahrzehnte lang körperliche oder gesellschaftlich gering geschätzte Arbeiten überwiegend von Immigranten aus Asien und dem übrigen Afrika erledigen. Auch die staatlich organisierten Pseudogewerkschaften hatten unter Gaddafi nur geringe Bedeutung, und Immigranten war die Mitgliedschaft bei ihnen überdies verboten. Zwar gibt es in jüngerer Zeit einige Arbeitskämpfe, vor zwei Monaten blockierten etwa LKW-Fahrer die Verladung von Erdöl in Benghazi. Aber politisch wirklich prägend sind Kräfte der Arbeiterbewegung oder der Linken, im weiteren Sinne, nicht.

Milizen

Die oft islamistisch inspirierten Milizen, die aus der früheren Rebellenbewegung hervorgingen, haben ihre Waffen meistens behalten. Um sie einzubinden, hat die neue Staatsmacht ihnen die Integration in die neuen Streitkräfte angeboten – aber trotz Eingliederung in die Armee behielten viele von ihnen eigene Befehlsstrukturen, und fühlen sich mitunter nur der Treue zu ihrem Emir (Befehlshaber) verbunden.

In den letzten Wochen wuchs nun der Druck von ihrer Seite, dass der Staatsapparat von ehemaligen Funktionären des Gaddafi-Regimes gesäubert werden müssen, die tatsächlich in vielen Bereichen wie im Justizwesen weiterhin schalten und walten, unter anderem auch aufgrund eines Mangels an „unbelasteten“ Fachkräften. Unter erheblichem Druck der Milizen nahm das libysche Parlament am ersten Wochenende im Mai 2013 ein Gesetz zum Verbot politischer Betätigung für frühere Führungskräfte auf der Qadhafi- /Gaddafi-Ära an, auch wenn nicht zu vermuten ist, dass es bis hin zu obersten Spitzenleuten wie Mahmud Jibril Anwendung finden wird. Daraufhin behielten die Milizen, die misstrauisch blieben, ihre Blockade jedoch noch eine weitere Woche aufrecht.

Am 03. Mai 13 kam es dabei allerdings zu heftigem Streit mit Gegendemonstranten, die auf einen Aufruf der Regierung zur „Verteidigung der Institutionen“ hin auf die Straße gingen und riefen: „Die Zeit der Milizen ist vorbei!“ Tatsächlich dürfte ein Teik der Bevölkerung die Schnauze von ihnen gestrichen voll haben. Auch wenn die Gegendemonstration im konkreten Fall auch auf den Aufruf von Regierungsangehörigen (zur „Verteidigung der legalen Institutionen“) hin stattfand.

Am 28. Mai 13 trat, infolge der Anwendung des neuen Gesetzes zur politischen Ausschaltung früherer Gaddafi-Funktionäre, Libyens Parlamentspräsident Mohammed Al-Megaryef vom Amt zurück. Dies ist insofern ein Stück weit paradox, als Al-Megaryef zwar in den 1980er Jahren vorübergehend als Botschafter Libyens unter Qadhafi (Gaddafi) in Indien wirkte – er jedoch damals schnell abtrünnig wurde, und danach dreißig Jahre lang als Staatsfeind geächtet und bedroht war. Dieser Schritt vermittelt einen Eindruck von der Schärfe, mit welcher von mancher Seite dem neune Gesetz Nachdruck verliehen wird.

Ansonsten besteht eines der Hauptprobleme im aktuellen Libyen darin, dass viele örtliche Milizen der Untersuchung erliegen, sich dank des Besitzes von mehr oder minder schweren Waffen(arsenalen) selbst zu ihrem „Recht“ zu verhelfen. Am 04. April 13 etwa griffen sieben, mit Kalaschnikows und Granatwerfern bewaffnete Männer einen Gefangenentransport in der Hauptstadt Tripolis an. Zuvor hatte die libysche Polizei versucht, einen Mordverdächtigen von der Polizeiwache Bab Ben Gaschir zum Büro des Staatsanwalt zu transportieren. Es handelte sich um Abdul Raouf Ramah aus der von Milizen kontrollierten Stadt Zitane. Aus demselben Grund wurde die Polizeiwoche im Stadtteil Abu Slim mittels eines Sprengkörpers attackiert und in Brand gesteckt. Am 05. April attackierten Bewaffnete das Krankenhaus von Abu Slim in Tripolis und töteten dort zwei Patienten, die zuvor bei vorausgehenden Kämpfen verletzt und festgenommen, doch zur Behandlung eingeliefert worden waren. Am 18. April wurde ein weiterer Gefangenentransport von bewaffneten Männern angegriffen, welcher vom Zentralgefängnis in Tripolis ins fünfzehn Kilometer entfernte Tajoura führte. Dabei wurden ein Häftling getötet und mehrere Bewacher verletzt.

Nicht alles nur finster...

Im neuen Libyen ist durchaus nicht alles finster. So herrscht eine relative Pressefreiheit in Libyen, insbesondere im Bereich der aus dem Boden sprießenden Blogs und Webseiten. In einer weltweiten Länderliste der Vereinigung „Reporter ohne Grenze“ rangiert Libyen auf dem 131. Platz von knapp 200 Staaten. Kein unbedingt glorreicher Platz, aber der beste unter allen arabischsprachigen Ländern, vor Tunesien auf dem 136. und dem 138. Platz, und erheblich vor Ägypten auf dem 156.

....Aber!

Ein besonders dunkler Punkt bleibt die Behandlung von Migranten in Libyen. Mitte April 2013 wurde der Tod von acht Staatsbürgern des Nachbarlands Niger in Abschiebelagern in der libyschen Wüste bekannt. Im Süden Libyens befindet sich eine militärische Sperrzone. Dort blieben auch weiterhin noch 3.000 ihrer Landsleute festgehalten. In der dritten Aprilwoche d.J. gab des Außenministerium in Niamey eine Reisewarnung für das nördliche Nachbarland bekannt. In der letzten Maiwoche wurden dann 769 Migranten aus Niger mit Lastwagen aus Libyen abgeschoben, die beschwerliche Reise bis nach Dirkou (im Niger) dauerte dabei eine Woche.

Zu Anfang der letzten Aprilwoche 2012 begann in Tripolis unterdessen eine durch die Europäische Union finanzierte Fortbildung für 26 Führungskräfte aus dem libyschen Innenministerium. Es ging um die Bewältigung von Migration. Auf der Tagesordnung stand etwa die „Stabilisierung von Risikogemeinschaften“, sprich die Verhinderung der Ausreise unerwünschter Migrantengruppen aus oder über Libyen. Die dortige Staatsmacht bleibt auf diesem Gebiet, wie bereits unter Gaddafi, ein begehrter Bündnispartner als Gendarm für die Festung Europa.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.