So viel Bereitschaft zum Märtyrertum
war selten. „Notfalls würde ich mich auch vor den
Panzer legen, wie 1989 auf dem Tian’an men-Platz“,
kündigte die Aktivistin Ludovine de la Rochère in den
Spalten des rechtsextremen Internetmagazins
Nouvelles de France an. Kurz, bevor am
vergangenen Sonntag - 26.05.13 - in Paris erneut
zwischen 300.000 und 400.000 Menschen gegen die
Homosexuellenehe in Frankreich auf die Straße gingen.
(Laut unseren Beobachtungen, beruhend auf Beobachtungen
an einem Fixpunkt in der Nähe des Trocadéro-Platzes. Die
Demonstranten-Zahl blieb jedoch hinter jener am 13.
Januar 13, beim selben Thema, sichtbar zurück.)
Leider ist es
relativ unwahrscheinlich, dass die Dame ihre
großsprecherische Ankündigung wenigstens auch wahr
macht. Auch darf man getrost davon ausgehen, dass die
Risiken, die sie mit ihrer frenetischen Aktivität gegen
die Homosexuellenehe in Frankreich eingeht, doch in eng
überschaubaren Grenzen bleiben. Im Vorfeld der jüngsten
Demonstration vom Sonntag, den 26. Mai hatte die circa
Vierzigjährige die eher exzentrische Persönlichkeit
„Frigide Barjot“ – so lautet ihr selbstgewähltes
Pseudonym, es bedeutet so viel wie „Frigide Bescheuert“,
von Virginie Merle-Tellenne – als wichtigste Sprecherin
der rechten Protestbewegung abgelöst.
Die 50jährige „Barjot“ war am 05. Mai
13 bei einer regionalen Protestaktion in Lyon von Teilen
einer Demonstration ausgepfiffen worden. Dabei tat sich
besonders die rechtsextreme, als gewalttätig bekannte
Studentenorganisation GUD (Groupe Union-Défense)
hervor. In den darauffolgenden Tagen erhielt „Barjot“
mehrfach Drohungen, bis hin zum Empfang eines per Post
verschickten, blutgetränkten Taschentuchs. Ihr wird
vorgeworfen, sich zwar gegen Eheschlüsse auch für
homosexuelle Paare, aber für ihre zivilrechtliche
Anerkennung ausgesprochen zu haben. „Frigide Barjot“
machte sich zwar gegen die Homosexuellenehe, aber für
eine eingetragene Lebenspartnerschaft unter der
Bezeichnung union civile stark.
Denn offiziell, so betonte jedenfalls
diese Protagonistin es des Öfteren, möchte die
Protestbewegung nicht homophob sein, sondern lediglich
auf das Problem der Stellung von Kindern im Falle der
Adoption durch homosexuelle Paare aufmerksam machen. Auf
den „Schutz unserer Kinder“ beriefen sich auch
zahlreiche Demonstranten am Sonntag – auch wenn dieses
offizielle Argument durch den Anblick der zahlreich
mitgeschleiften und für das Tragen von Parolen, die sie
bestimmt nicht verstanden, instrumentralisierten Kinder
konterkariert wurde. Dass zumindest „Frigide Barjot“
sich immer wieder von expliziter, offener Homophobie
abgrenzte, begeisterte aber nicht alle ihrer
Mitprotestierenden. So wenig, dass sie nun beiseite
geschoben und durch die rechtskatholische
Fundamentalistin de la Rochère ersetzt wurde. Ein
Anzeichen unter mehreren für die politische und
ideologische Radikalisierung der Bewegung, die sich auch
in der wachsenden Bedeutung der rechten bis
rechtsextremen Plattform Printemps français
(„Französischer Frühling“) unter Béatrice Bourges
widerspiegelt.
Rechte Apokalyptiker, deren
Irrationalität sich etwa in den Worten von de la Rochère
ausdrückt, waren ebenso bei dem Protest gegen die
„Homo-Ehe“ am vergangenen Sonntag (und französischen
Muttertag) dabei wie Kirchenleute – unter ihnen Mönche
und Schwestern in voller Kampfmontur, pardon:
Berufskluft -, UMP-Parlamentarier und militante
Neofaschisten.
Aber auch katholische „Normalbürger“
wie dieses – persönlich durchaus nicht unsympathische –
Rentnerehepaar aus Saargemünd in Lothringen, dessen
Begründung für seine Teilnahme gegenüber dem Autor
dieser Zeilen denkbar einfach ausfiel: „Die Ehe
ist heilig!“ (In dem Sinne, dass man ein
„Sakrament“ nicht antasten dürfe.) Eine verschwindend
kleine Minderheit von Musliminnen-Muslimen und eine
kleine Handvoll von Schwarzen ließen sich ebenfalls in
der Demo ausmachen, doch ihre überwiegende Mehrheit war
ebenso weiß wie katholisch und anscheinend eher
mittelständisch wohlhabend. Wiederholt war von einer
angeblichen „sozialistischen Diktatur“ (hihi) die Rede,
bis hin zu der Aufforderung an Präsident François
Hollande: „Beweisen Sie, dass wir nicht in einer
Diktatur leben, indem Sie das Gesetz (Anm. zur
Homosexuellen-Ehe) zurückziehen.“ (Sic)
Auf manchen Plakaten war François Hollande gar als Kim
Jong-Il karikiert, während der Regierungspolitik zur
Homo-Ehe auf anderen Schildern wahlweise die
französische Résistance oder Mahatma Gandhi entgegen
gesetzt wurde...
Die militanten Rechtsextremen in
ihren Reihen lieferten sich im Anschluss an die
Demonstration Auseinandersetzungen mit den
Sicherheitskräften. Dabei wurden 36 Personen verletzt:
34 Polizisten und ein Kameramann der Nachrichtenagentur
AFP, der als Vertreter der „Systempresse“ attackiert, zu
Boden gerissen und mit Tritten traktiert wurde, sowie
ein (aus unklaren Gründen) von den rechten Protestierern
zusammengeschlagener Mann. Es kam daraufhin zu 293
Festnahmen im Lauf des Sonntag Abend.
Zuvor zogen Hunderttausende von
Menschen durch Paris und riefen etwa: „François,
wir wollen Dein Gesetz nicht“ oder, was sich als
besonders beliebter Spruch erwies und in einen fiktiven
Kindermund gelegt wurde: „Meine Mutter heißt nicht
Robert!“ (Oder, alternativ, in Form einer
Suggestivfrage an Staatspräsident Hollande gerichtet:
„François, heißt Deine Mutter etwa Robert?“)
Ein Teil der Demonstration erfreute sich auch an der
Parole: „Taubira nach Cayenne!“ Christiane
Taubira ist die schwarze französische Justizministerin,
die aus Französisch-Guayana stammt und bei vielen
Rechten besonders verhasst ist. Die Hauptstadt des
Gebiets, Cayenne, war vor 1947 auch als Verbannungsort
mit einem finsteren Zuchthaus berüchtigt - worauf die
Redewendung „nach Cayenne schicken“ noch immer anspielt.
Verbot
des „Französischen Frühlings“?
Am Freitag, den 24. Mai 13 erwog
Innenminister Manuel Valls, ein Organisationsverbot
gegen die eher vage strukturierte Bewegung von Béatrice
Bourges zu verhängen. Ihre Gruppierung „Französischer
Frühling“ hatte zuvor angekündigt, nunmehr „die
Regierung und all ihre Anhängsel, die politischen
Parteien der Kollaboration“ – gemeint ist: mit
der angeblichen sozialistischen Diktatur – „und
die Lobbys, in denen die herrschende Ideologie
ausgearbeitet und verbreitet wird“, ins Visier
zu nehmen. Innenminister Valls wertete dies als eine
Ankündigung von Einschüchterung und Gewalt. Unter der
herrschenden Ideologie versteht die Gruppierung die
Abkehr von der vorgeblichen natürlichen Moral, und
speziell „die Genderideologie“, da derzeit über die
Einführung der Gendertheorie in französische Schulbücher
derzeit diskutiert wird. Was man unter den vermeintlich
einflussreichen „Lobbys“ versteht, stellte die
Gruppierung am Freitag Abend unter Beweis, als sie vor
der Freimaurerloge Le Grand Orient in Paris
demonstrierte. Um den Einfluss der Freimaurer, die vor
1789 eine wichtige Rolle als Geheimorganisation des
aufgeklärten oder revolutionären Bürgertums spielten und
heute zum Teil als elitäre Zirkel in einem Teil der
Bourgeoisie fortbestehen, ranken sich seit zweihundert
Jahren wüste Verschwörungstheorien. Bei reaktionären
Katholiken sind sie ebenso beliebt wie bei Antisemiten
und Neofaschisten.
Auch nachdem das
Gesetz zur Einführung der Homosexuellenehe am Freitag,
den 17. Mai d.J. durch das französische
Verfassungsgericht für verfassungskonform erklärt und am
folgenden Tag von Staatspräsident François Hollande
unterschrieben wurde, gehen die Proteste dagegen weiter.
Die Sprüche, mit denen de la Rochère ihr fortwährendes
Engagement gegen das diabolische Vorhaben untermalt,
belegen den zunehmend irrationalen Charakter der
Gegenbewegung. Unterschiedlich motivierte Zukunftsängste
und Befürchtungen vor einem gesellschaftlichen Wandel,
der als ebenso katastrophenträchtig wie unumkehrbar
betrachtet wird und in vielen Köpfen von der Auflösung
der Geschlechterordnung bis zur „Rassenmischung“ reicht,
bündeln sich an der Frage der Homosexuellenehe wie in
einem Brennglas.
Nicht einmal im
noch stärker katholisch geprägten Spanien, wo die
Homosexuellenehe bereits 2006 eingeführt wurde,
woraufhin der damalige Papst Benedikt XVI. deswegen
Premierminister José Luis Rodriguez Zapatero persönlich
in Madrid Vorwürfe machte, kam es zu einem
vergleichbaren Kräftemessen. Dort blieb es bei einer
größeren Demonstration. In Frankreich dagegen wurde die
rechte oder religiös motivierte Mobilisierung dagegen
seit Mitte November vergangenen Jahres quasi zu einer
Dauereinrichtung. Und sie ist, auch nachdem das Gesetz
nun in Kraft ist und am Mittwoch, den 29. Mai 13 die
erste Hochzeit zwischen zwei Männern in Montpellier
gefeiert wurde (unter Abschirmung durch 250 bis 300
Polizisten und Gendarmen), wohl noch immer nicht zu
Ende.
Das
Spiel der UMP
Einige
Bürgermeister kündigten wie das UMP-Stadtoberhaupt von
Vienne bei Grenoble, Jacques Remiller, bereits an, die
Anwendung des Gesetzes zu „boykottieren“ – auch auf die
Gefahr von Strafverfolgungen hin. Laut Umfragen
verurteilen zwar gut 55 Prozent der Befragten dieses
Verhalten, doch je eine Mehrheit sowohl in der
Wählerschaft der konservativ-wirtschaftsliberalen UMP
als auch des rechtsextremen Front National befürwortet
es. Andere Rathauschefs wollen es vermeiden, selbst
solche Eheschlüsse vorzunehmen – die in Frankreich von
Bürgermeistern oder ihren Stellvertretern zelebriert
werden – und die Sache delegieren, wie UMP-Parteichef
Jean-François Copé in „seiner“ Stadt Meaux, der es
seinen Beisitzen überlassen möchte. Sein Parteifreund,
der Abgeordnete Hervé Mariton, wiederum will als
Bürgermeister von Crest zwar gesetzeskonform auch
Hochzeiten von homosexuellen Paaren pflichtgemäß feiern,
aber „ihnen dabei sagen, was er dazu denkt“. Um ihnen
ordentlich die Feier zu verderben, falls sie nicht
lieber doch dankend verzichten. Am vergangenen Sonntag
kündigten auch militante Oberschüler aus katholischen
Privatschulen an, gegen einzelne Eheschlüsse
homosexueller Paare vor den Rathaustüren zu
demonstrieren. Wenn die Heirat zum Spießrutenlauf wird,
dürfte die Motivation der Beteiligten doch erheblich
sinken.
Die aktuelle Parteiführung der UMP
unter ihrem Parteivorsitzenden Jean-François Copé
versuchte in den letzten Wochen eifrig, Öl ins Feuer zu
gießen. Am 04. Mai 2013 erklärte Copé in einem Interview
mit der konservativen Tageszeitung Le Figaro:
„Frankreich benötigt ein neues 1958.“
Nicht Mai 1968, sondern 1958: Dabei spielt er auf die
Ereignisse des 13. Mai 1958 an, bei denen Charles de
Gaulle inmitten des Algerienkriegs durch einen (von
Algier ausgehenden) Militärputsch an die Macht kam. Der
Putsch wurde schnell legalisiert, indem das französische
Parlament in Paris de Gaulle die Macht übergab; er
begründete daraufhin die Fünfte Republik, welche die
kriselnde Vierte Republik ablöste. Bei den Ereignissen
im Mai 1958 zogen konservative Rechte und Neofaschisten
noch an einem Strang, um ein „starkes Regime“ zu
errichten, das den Kolonialkrieg in Algerien gewinnen
solle. Erst in den darauffolgenden Jahren, 1960-62,
erfolgte die Trennung zwischen beiden Kräften, nachdem
Charles de Gaulle aus realpolitischen Gründen die
Unabhängigkeit Algeriens akzeptiert hatte.
Auch derzeit ziehen ein Teil der
Konservativen und die französischen Neofaschisten in der
Protestbewegung an einem Strang. Sinnbildlich vollzog
die rechtskatholische Politikerin Christine Boutin –
Wohnungsbauministerin unter Nicolas Sarkozy bis 2012 –
den Schulterschluss, indem sie am Sonntag (26.05.13)
Seite an Seite zusammen mit dem FN-Abgeordneten Gilbert
Collard demonstrierte. Eine Woche zuvor erklärte sie in
einem Interview bei den Sender „TV5“ und RFI: „Es
gibt höherrangige Gesetze, die über den Gesetzen der
Republik stehen“, womit sie die so genannte
natürliche Moralordnung meinte. Eine antidemokratische
Position in Reinform.
Durch solche Sprüche unterhält Copé
ein Klima, das prinzipiell für eine Art – von Zivilisten
angeführten - Rechtsputsch günstig sein soll. Aufgrund
der extremen Unpopularität der amtierenden Regierung
unter François Hollande und Jean-Marc Ayrault und im
Kontext der anhaltenden Sozial- und Wirtschaftskrise
haben zumindest Teile der Rechten von einem solchen
Szenario zu träumen begonnen. Ein anderer Teil der
konservativ-wirtschaftsliberalen Rechten verurteilt
jedoch solche Träumereien mit zunehmender Schärfe, da er
sie als staatspolitisch verantwortungslos betrachtet.
Ex-Premier und Ex-Außenminister Alain Juppé etwa
erklärte vor der jüngsten Großdemonstration der rechten
Protestbewegung vom 26. Mai, er rate ausdrücklich von
einer Teilnahme ab. Auch andere frühere Minister
betonen, wenn ein Gesetz einmal in Kraft getreten sei –
und nachdem es nun in Anwendung befindlich – müsse es
gelten, „die Republik zu kritisieren“. Ansonsten
fürchten sie eine Destabilisierung des bürgerlichen
Staates, auch im Hinblick auf etwaige soziale Proteste
unter späteren (auch eigenen) Regierungen.
Parteichef Copé sah sich gezwungen,
auf die wachsenden Gegenstimmen auch aus dem eigenen
Lager Rücksicht zu nehmen. Kurz vor der Demo vom 26.06.
erklärte er, es gelte nun „ein letztes Mal“
nach Inkrafttreten des Gesetzes, auf der Straße dagegen
zu mobilisieren. Jetzt gelte es für die Anhänger der
Protestbewegung, „ihr gesellschaftliches
Engagement in ein künftiges politisches Engagement
umzuwandeln“, etwa durch Unterstützung seiner
Partei vor den nächsten Kommunalwahlen (die in ganz
Frankreich im März 2014 stattfinden). Aber für den Fall
einer weiteren Zuspitzung der Krise verfügt die
konservative Rechte nunmehr über ein Modell, eine
Erfahrung mit der Initiierung rechten Straßenprotests.
Teile der Bewegung fordern unterdessen weiterhin
hartnäckig den Rücktritt von Präsident François
Hollande.
Historischer Hintergrund
Das Ausmaß und
den zum Teil apokalyptischen Unterton der aktuellen
Protestbewegung kann nur verstehen, wer sie in den
Kontext der französischen Geschichte stellt. In jenen
gesellschaftlichen Milieus, die sich durch die
Bindungswirkung katholischer Werte und konservativer
Einstellungen auszeichnen, würde in anderen Ländern
vielleicht eher eine unpolitische Haltung oder die
Einrichtung im Bestehenden vorherrschen. In Frankreich
aber ist ein Teil gerade dieser sozialen Gruppen durch
die Erinnerung an den Epochenbruch von 1789 geprägt:
Modernisierung und Abkehr vom Überkommenen wird hier
dauerhaft mit einem vermeintlich traumatischen Erlebnis,
jener an den revolutionären Umsturz einer als
„natürlich“ vorgestellten Ordnung, assoziiert.
Deswegen besteht in einem Teil des
konservativen bis reaktionären gesellschaftlichen
Milieus eine auf den ersten Blick erstaunlich wirkende
Bereitschaft, sich „notfalls“ auch aktiv der Politik der
Regierenden zu widersetzen. Versailles ist deswegen
mobilisierungsfähiger als Paderborn oder Altötting...
Vor allem dann, wenn diese einem als feindlich
wahrgenommenen politischen Lager angehören, dem seit der
Enthauptung des Königs im Januar 1793 und seit der
Trennung zwischen Kirche und Staat im Dezember 1905 alle
möglichen Schandtaten zugetraut werden. Ein solcher
aktivistischer Konservativismus ist etwa in Deutschland
eher unbekannt, Vergleiche werden aktuell westlich des
Rheins auch eher zur Tea Party-Bewegung in Nordamerika
gezogen.
Die meiste Zeit über bleibt diese
Mobilisierungsbereitschaft konservativer Kreise im
Latenzzustand. Aber wenn ein Thema, wie die als
bedrohlich wahrgenommene Reform der staatlichen
Finanzierung für die katholischen Privatschulen im
Frühjahr 1984 - die damaligen Millionenproteste fallen
zeitlich mit dem Durchbruch des Front National als
Wahlpartei mit Massenanhang zusammen - oder aktuell die
„Homo-Ehe“, als besonderer Stachel wahrgenommen wird,
dann schlägt die Situation um. Zumal wenn, wie im
Augenblick, dem rechten Protest die Straße überlassen
bleibt, weil - angesichts der konkreten Früchte
sozialdemokratischer Regierungspolitik - die Basis der
Linksparteien und ein Gutteil der Gewerkschaften
desorientiert, frustriert und perspektivlos vor sich hin
starren.
Eine gewisse Rolle spielt dabei auch
eine katholische Kirche, die (bzw. deren
Mehrheitsströmung) sich aktuell stärker re-politisiert
hat. Eine Mehrheitskirche, die sich auf ihrer
konservativ-reaktionären „harten Kern“ zurückzieht und
dabei viele zögernde Gläubige in jüngster Zeit
abgestoßen hat. Einzig „frisch“ daran ist die
bemerkenswerte Neuentwicklung, dass die katholische
Kirche dennoch – trotz ihres, in dem Ausmaß seit den
1960er Jahren nicht dagewesenen, reaktionären
Rückwärts-Rucks – sich nicht allein auf den Appell an
die Autorität „christlicher Werte“ verlässt. Vielmehr
beruft sie sich beständig auch auf tatsächliche oder
vermeintliche Erkenntnisse aus den Human- und
Gesellschaftswissenschaften wie etwa der Psychologie,
welche aus einem völlig anderen als theologischem
Kontext kommen; nun aber von ihr zitiert werden, um ihre
Behauptungen über den gesellschaftsschädlichen Charakter
der Homosexuellen-Ehe (oder der „Genderideologie“) zu
untermauern. So werden Studien aus der Psychologie
herangezogen, um darzulegen, dass eine ‚Alterität“
(Konfrontation mit Andersartigkeit), gemeint ist
konkret: eine Bipolarität in Gestalt unterschiedlicher
Geschlechterrolle, für die „Identitätskonstruktion“ der
Individuen von hoher Bedeutung sein. Um allerdings dann
zu dem platten Schluss zu kommen, Kinder, die in
gleichgeschlechtlichen Elternhäusern aufwüchsen, könnten
nur zu unvollständigen Individuen werden.
Eine solche
(sicherlich missbräuchliche) Berufungen auf
Humanwissenschaften, Medizin, Psychologie, Soziologie
usw. als Ergänzung zum Herunterbeten eines theologischen
„Wertekanons“ ist in kirchlichen Kreisen neuartig.
Gleichzeitig öffnet sie verstärkt neuen Bündnissen im
rechten Spektrum Tür & Tor. Denn das Heranziehen von
Gesellschaftswissenschaften als Ergänzung oder
Untermauerung von vorgesetzten Werten „göttlichen
Ursprungs“ beinhaltet – zumindest bei manchen
Protagonisten – auch eine neue Öffnung zu
unterschiedlichen Formen von Vitalismus und Biologismus,
in denen sich „Gottgewolltheit“ mit „biologischer
Notwendigkeit“ mischen, um den Menschen Vorschriften zu
machen. Ähnlich, wie auf politischer Ebene (in der
Bewegung gegen die Homosexuellen-Ehe) erstmals seit
längerem wieder eine intensive Zusammenarbeit zwischen
katholisch-fundamentalistischen, nicht religiös
geprägten und neuheidnischen Rechtsextremen
stattgefunden hat.
Einer der Sprecher des Bündnisses,
das die Großdemonstrationen gegen die Homosexuellenehe
anmeldete, ist etwa der rechtskatholische Intellektuelle
Tugdual Derville. Er kündigte bereits an, im Herbst 2013
eine neue Bewegung unter der Bezeichnung écologie
humaine (Humanökologie) ins Leben zu rufen. Man
darf doch gespannt sein darauf, welche Auslegungen
dieser Begriff der „Humanökologie“ zulässt, und u.a.
welche – von Tugdual Derville vielleicht überhaupt nicht
identischen – biologistischen und auch
rassenideologischen Konzeptionen daran noch angedockt
werden...
Selbstmord in Notre-Dame:
Ein Fanal gegen die „Dekadenz
des Abendlands“-
Gegen Homosexuellen-Ehe und Einwanderung
Es steht
sehr zu befürchten, dass es die mit Abstand beste
Tat im Leben des Dominique Venner war. Im Alter
von 78 Jahren beging der faschistische
Schriftsteller am Nachmittag, des 21. Mai 13
öffentlichen Selbstmord in der Pariser Kathedrale
Notre-Dame. Rund 1.500 Besucher/innen, überwiegend
Touristen, sahen ihm zu, wie er sich eine Pistole
in den Mund schob, nachdem er einen Abschiedsbrief
auf dem Altar hinterlegt hatte.
Dominique Venner war kein
Christ, sondern hing dem rechten Neuheidentum an.
Aus diesen Gründen war es nicht Notre-Dame de
Paris als Kirche, sondern als nationales und
kulturelles Symbol, das er für den Ort seines
Abschieds vom Leben ausgewählt hatte. Sein Suizid
war Ausdruck einer reaktionären Verzweiflung, in
dem Sinne, dass bestimmte rechte Aktivisten daran
zu zweifeln beginnen, ob die von ihnen als
Katastrophe erlebten gesellschaftlichen
Veränderungen – „Rassenmischung“, Globalisierung,
Bedeutungsverlust ihrer Nation, … - noch
rückgängig zu machen sind. Sein Selbstmord sollte
aber auch als Fanal wirken, also aufrütteln,
mobilisieren. Dominique Venner war in jüngerer
Zeit im Rahmen der Opposition gegen die
Homosexuellenehe in Frankreich aktiv geworden,
besonders bei der Vereinigung Le Printemps
français („Französischer Frühling“, vgl.
nebenstehenden Artikel dazu). Er versuchte durch
seine Tat, für die kommenden Protestdaten der
Bewegung wie die Demonstration vom 26. Mai 13 zu
mobilisieren. Aber auch, die Bewegung darauf
hinzuweisen, dass sie aus seiner Sicht ihren
ideologischen Horizont erweitern musste: Die
rechte Protestbewegung dürfe nicht nur gegen die
Homo-Ehe aus Ausdruck der „Dekadenz unserer“
Kultur auftreten, sondern müsse sich auch die
„Frage der afrikanischen und maghrebinischen
Einwanderung“ stellen, gab er in seinem
Abschiedsbrief zu Protokoll.
Dominique Venner war in der
breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt, aber
in „eingeweihten“ Zirkeln der neofaschistischen
Rechten durchaus eine Figur, eine Respekt- und
Bezugsperson. Sein politisch-ideologisches
Engagement währte über fünfziger Jahre. Es begann
in den 1950er Jahren in den Reihen der Bewegung
Jeune Nation, die damals durch Pierre
Sidos angeführt wurde, den späteren langjährigen
Chef der Gruppierung Oeuvre française.
(Deren Leitung übergab er im Februar 2012 dem
jungen Kader Yvan Benedetti, nachdem dieser
aufgrund antisemitischer Aussprüche und Gewalt
gegen andere Parteimitglieder beim Front National
ausgeschlossen worden war.) Jeune Nation
wurde aufgrund von gewalttätigen Versuchen zum
„Anheizen der Heimatfront“ im Algerienkrieg
verboten. Dominique Venner schloss sich der
rechten Terrororganisation OAS („Organisation
geheime Armee“) an, die ab 1961 mit Attentaten und
Bombenanschlägen gegen den französischen Rückzug
aus Algerien kämpfte.
Diese Phase seiner
rechtsterroristischen Betätigung führte zur
Internierung Dominique Venners im französischen
Zentralmassiv, bis 1963. Dabei verfasste er im
Juli 1962 – dem Monat der Unabhängigkeit Algeriens
– eine manifestartige Schrift, in welcher er das
Scheitern des rechten Aktivismus bilanzierte:
„Die algerische Niederlage hat einen
Schlusspunkt unter die Einbildungen der rechten
Politikaster gesetzt. Sie zeigte die
Unfruchtbarkeit des Nur-Aktivismus auf. Dagegen
hat sie die Perspektiven der nationalistischen
Revolution als einzig richtige bestätigt.“
Venner zog eine doppelte Bilanz
aus dem vorläufigen Scheitern: Erstens schade
theorieloses, oberflächliches Agieren nur. Zum
Zweiten sei der Nationalismus der europäischen
Einzelstaaten – die soeben ihre Kolonialreiche
verloren, vom „französischen Algerien“ bis zum
„Belgisch-Kongo“ – mittlerweile zu eng geworden.
Es bedürfe eines „europäischen Nationalismus“, im
Sinne einer Verteidigung der „weißen
Rasse“ in ihrer Gesamtheit.
Von 1963 bis 1966 leitetet
Venner die Zeitschrift Europe-Action
und eine gleichnamige Bewegung an. Bei den
Parlamentswahlen im März 1967 ließ er eine
„Nationalistische Fortschrittsbewegung-
Europäische Sammlung für die Freiheit“ (MNP-REL)
kandidieren, die jedoch im eher mikroskopischen
Bereich abschnitt. Im Juli desselben Jahres machte
er den Vorschlag zur Gründung einer rechten
Denkfabrik. Daraus wurde dann der GRECE (für
„Forschungs- und Studienzentrum für die
europäische Zivilisation“), der im Januar 1968 ins
Vereinsregister eingetragen wurde. Als die extreme
Rechte sich auf die Gründung einer neuen
gemeinsamen Sammelpartei (die ihr als einiges Dach
dienen sollte) vorbereitete, war Dominique Venner
ernsthaft für ihren Vorsitz im Gespräch. Aber er
schlug aus. Die neue Partei wurde dann im Oktober
1972 in Gestalt des Front National gegründet, und
Jean-Marie Le Pen übernahm – als Kompromissfigur
zwischen unterschiedlichen Strömungen – den
Vorsitz. Venner gehörte der Partei Zeit seines
Lebens nie als Mitglied an, wurde aber von einem
Teil ihrer Mitglieder als Vordenker betrachtet.
Doch vor allem die Entwicklung
des GRECE unter Alain de Benoist entglitt Venner
später. In den 1980er Jahren wandte sich der GRECE
gegen die „Verwestlichung der Welt“, begriffen als
„allgemeine Vermischung“. Stattdessen begrüßte
die rechtsintellektuelle Gruppierung etwa auch den
Aufstieg des Islamismus, als Anzeichen für das
allgemeine, weltweite Bestreben nach
„Wiederaufblühen der kulturellen Identitäten“, die
sich jedoch getrennt entwickeln müssten. Venner
war das schlicht zu „anti-westlich“, und gegen das
Abendland gerichtet. Wie auch andere Vordenker der
rechtsintellektuellen Szene, die bis dahin beim
GRECE zu Hause waren, wandte er sich mit Schaudern
ab. Venner predigte den Rückbezug auf einfachere
Ideen der „Verteidigung unserer Rasse“ und wurde
als „Historiker“ aktiv. Parallel zu ihm
verabschiedete sich Pierre Vial vom GRECE - dessen
Generalsekretär er gewesen war -, und wurde zum
Verfechter NS-naher Blut-und-Boden-Ideologien, und
Guillaume Faye wurde zum Anhänger der
US-amerikanischen und der israelischen Rechten im
Namen des Clash of civilizations und
des Kampfs gegen den „Hauptfeind Islam“.
Venners theoretisches Erbe
findet sich heute eher bei den weißen
Rassisten der „identitären Bewegung“. In den
letzten Jahrzehnten nie bei einer politischen
Partei oder festgefügten Organisation aktiv. Sein
Sprachrohr waren eher Geschichtszeitschriften wie
die 2002 von ihm gegründete Zeitschrift
Nouvelle Revue d’Histoire.
Sein Tod wurde als politische
Tat unter anderem von Marine Le Pen und ihrem
Vater Jean-Marie Le Pen gefeiert, sowie ihrem 2011
unterlegen Rivalen um den Parteivorsitz des Front
National, Bruno Gollnisch. Die jetzige Chefin des
Front National brach aus diesem Anlass mit ihrem
ansonsten betonten Bemühen um
dédiabolisation (Entteufelung), also um
den „Ausbruch aus dem traditionellen rechten
Ghetto“, wie deutschsprachige Kameraden es
formulieren würden. In einer Kurznachricht auf
Twitter gab sie zu Protokoll: „All unser Respekt
für Dominique Venner, dessen letzte Geste eine
herausragend politische war und das französische
Volk aufrütteln sollte.“ Auch wenn die 44jährige
kurz darauf hinzufügte, statt im Suizid solle
Frankreich „im Leben und im zuversichtlichen
Kampf“ seine Zukunft suchen.
Aber auch der frühere
Abgeordnete Christian Vanneste – er wurde 2012
wegen allzu krasser Homophobie aus der UMP
ausgeschlossen und publizierte einen Text unter
dem Titel „Der Sinn eines Suizids“, worin er von
einem „Selbstopfer“ sprach – und die
rechtskatholische Politikerin Christine Boutin
bezogen sich positiv auf Venner und seinen
Abschied vom Leben. Boutin, die bis im vorigen
Jahr unter Präsident Nicolas Sarkozy
Wohnungsbauminister war, erklärte, sie hoffe, das
Venner, der „offensichtlich nicht an Gott
geglaubt“ habe, sich „in letzter
Minute bekehrt hat“. Die Dame machte
inzwischen auch in einer breiteren Öffentlichkeit
von sich reden, indem sie gegen den Preisträger
von Cannes giftete: „Wir werden von den
Homos überschwemmt.“ Venner war es nicht
mehr vergönnt, die Sache zu kommentieren. |
Editorische Hinweise
Wir
erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
|