Kommentar zum Zeitgeschehen
In memoriam Henry Kissinger ?

von Andreas W. Mytze

06-2013

trend
onlinezeitung

So viel Hofberichterstattung in den deutschen Zeitungen verwundert eigentlich nicht. Das juengste peinliche Beispiel ist ein Kommentar von Werner Birkenmaier in der Stuttgarter Zeitung vom Montag, in dem kaum ein kritisches Wort gegen diesen "herausragendsten Aussenpolitiker" des 20.jahrhunderts fiel. Und so viel "Heimattreue" wird ihm assistiert! Nur, weil Heinz Alfred so gerne "Fussball schaut", seiner Greuther Fuerth die Daumen drueckend....

Aber auch der juengste SPIEGEL-Text (dieser Woche) kennt keine kritische Gnade, wenn es um die hausgemachten Jubelparaden (-parodien) um diesen Altmeister des voelkerschlachtenden Grauens geht. Gregor Peter Schmitz (aus Washington natuerlich!) titelt: "Gefeierter Star, boeser Amerikaner" und schreibt voellig ungeniert vom intimen Schnitzelessen mit Henry samt Foto-Posirerei der Anwesenden, "kurzum: sie feierten ihn wie den Politstar..." - bei irgendeinem nichtigen K-Anlass.

Und GPS fortfahrend: "Diese Deutschen [?] schienen fasziniert vom einstigen Landsmann, der mit 15 Jahren aus Fuerth in Franken vor den Nazis floh...."

Folgt der (eher traurige) moralische Absturz dieses vermeintlichen Journalisten aus Washington D.C.:

"Da war der kuehle Fernsehmoderator [wer da wohl gemeint ist], der im Interview vor allem ueber Kissingers angebliche Verachtung fuer Menschenrechte sprechen wollte. Da waren die Konferenz-Gegner [ bei der Adenauer-Stiftung?], die ihn fuer ein Monster mit teutonischem Akzent hielten, schuldig fuer Kriegsverbrechen, fuer Amerikas Bomben auf Kambodscha, fuer unbeirrtes Durchhalten in Vietnam, natuerlich fuer den Sturz Allendes in Chile."

Da stockt einem fast der Atem! Das schreibt einer im schoenen Monat Mai 2013, nach allem was wir h e u t e ueber Kissinger, die Amerikaner (ihr Empire-Unwesen) wissen. Der SPIEGEL: ein Magazin fuer Deutschland? Interessante Frage, wenn da nur nicht dieser unsaegliche Herr Schmitz waere.

Muessen wir uns also anderswo umsehen, um den Hunderttausenden Opfern dieses SPIEGLEIN-"Monsters" Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Es scheint fast so.

Stichwort: go online, democracy pure.

Zunaechst: Schlag nach bei Mathias Broeckers ! [schreibt der eigentlich noch fuer die taz?]. In seinem durchaus wichtigen 9/11-Buch liest man (auf S.69/70, engl.Version), dass der grosse norwegische Soziologe und Mathematiker Johan Galtung eben jenen Kissinger als "Chile's Bin Laden" bezeichnet habe, mit Quellenbezug auf einen SPIEGEL-Text aus dem Jahre 2001. Googelt man also entsprechend nach, findet man tatsaechlich (Mathias hat nicht gemogelt) eine entsprechende Passage vom 19.9.2001 (nur 8 Tage nach dem "Ereignis"): "Kissinger ist der Bin Laden Chiles. Die Vorwuerfe gegen Bin Laden sind im Vergleich zu den Anklagen gegen Kissinger ganz klein." So die mahnende Osloer Stimme im Interview.

Sieht man sich weiter um (Christopher Hitchen's "bahnbrechendes" anti-Kissinger-Oeuvre laengst, seit Jahren schon, goutiert habend), landet man vielleicht bei Alexander Cockburn (einer von 4 irischen Journalistensoehnen eines Vaters, der noch im Spanischen Buergerkrieg kaempfte). AC (letztes Jahr "viel zu jung" in den USA gestorben) schreibt in seinen "Corruptions of Empire" (1988), einer 500-Seiten-starken (Contra)Abrechnung mit der Reagan-Aera:

"By his refusal to permit US grain shipments to Bangladesh in 1974, Henry Kissinger very definitely murdered, by forced starvation, many thousands of people..." (312)

Und anderer Stelle bringt Cockburn Kissinger in die Naehe des Rene Schneider Attentats von 1970, jenes Generals, der so konstitutionell-chilenisch-treu zu Praesident Salvador Allende stand. Ein Vergehen, das die USA offenbar nur mit Mord "suehnen" konnten. Dieser "master terrorist" (AC) Henry Kissinger wird, wie wir schon gesehen haben, im oben erwaehnten Stuttgarter Text, und nicht nur dort, nahezu zaertlich in Schutz/Pflegehaft genommen.

Ueber die schrecklichen Kriegsverbrechen dieses deutsch-amerikanischen Urgesteins habe ich an anderer Stelle etwas ausfuehrlicher berichtet (Suedostasien, Argentinien, Indonesien/East Timor usw.): also ueber den US-Terrorismus sans frontieres, was wir ja nach 9/11 pausenlos, 12 Jahre mittlerweile, erlebt haben mit Guantanamo, kidnapping, rendition, geheimen Stuetzpunkten/Gefaengnissen in ueber 50 Laendern auf diesem Globus usw.

(uebrigens, wer glaubt eigentlich noch an die Fabel der sogenannten 18 oder so Todespiloten? Diese SchauerGeschichten scheinen ja heute fast schon ueberholt, oder? Bitte mal wieder Andreas von Buelow konsultieren.)

Verstehe ich trend richtig, geht es (auch) um die Abschaffung des Kapitalismus. Das ist natuerlich ein gewaltiges Stueck Arbeit, trotz oder auch ohne Karl Marx et al. Generationenueberdauernd. Und wenn man Hugo Chavez heisst, kann das leicht/schwer ins Auge gehen, legt man sich mit dem maechtigen Norden an. Und da will ich doch gleich auf ein Buch von Greg Palast verweisen: "Armed Madhouse" von 2006, wo in einem Kapitel Chavez' Ende prophezeit wurde: "The Assassination of Hugo Chavez", also immerhin 7 Jahre vor der "Tat". Und da wir schon bei Palast sind (der nebenbei gesagt ueber den Wahlbetrug der beiden Bush jun.-Praesidentenwahlen ausfuehrlichst berichtete), hier noch ein Verweis auf das schwerkapitalistische und wohl auch imperialistisch-ausbeuterische Grossunternehmen "Kissinger Associates", hochgelobt und bewundert von vielen zeitgenoessischen Potentaten dieser Welt.

Der Mann, der den Urvater des US-Protektorats Irak seit 2003, Jay Garner, abloeste, wie wir alle (nicht mehr) wissen, heisst/hiess Paul Bremer III, "who [unlike Garner] had no experience on the ground in Iraq, no training to fight a guerilla insurgency, and no background in nation-building. But he had one unbeatable credential that Garner lacked: Bremer had served as Managing Director of Kissinger and Associates." (69)

Und Greg Palast, der unbequeme "whistleblower", bringt die Sache "auf den Punkt":

"Thirty years ago, in greenlighting the assassination of Chile's elected president, Henry Kissinger said, "The issues are too important to be left for the voters." It was a lesson in Realpolitik Garner missed, but it was not lost on Kissinger's protege Bremer." (69)

Doch es scheint auch leichte Fortschritte in der (zumindest deutschen) Anti-Kissinger-Berichterstattung zu geben. Ein paar Schlagzeilen nur im Zusammenhang mit Stefanie Waskes juengstem Historikermut:

"Die Verschwoerung gegen Brandt. Nachdem 1969 erstmals ein SPD-Politiker Bundeskanzler wurde, bauten CDU und CSU-Anhaenger einen eigenen Nachrichtendienst auf. Ein unglaublicher Spionagefall." ZEIT MAGAZIN (29.11.), der Mammutartikel von SW.  Und die Sueddeutsche / Willi Winkler fleissig ergaenzend: "Agenten, Verraeter und andere Berufene" (29.11.)

Diese Texte belegen, wie Altnazis im Verbund mit old Henry die neue noch taufrische Bundesregierung mit Riesen-US-Etat bespitzelten; Kissinger liess denn auch "folgerichtig" Egon Bahr ueberwachen. Und die Ironie der Geschichte: Willy Brandt als langjaehriger, schon fast verbrauchter CIA asset, seit seiner Zeit als Buergermeister von Westberlin! (so jedenfalls liest sich das im Berich eines damals hochrangigen ex CIA-Mann, der vermutlich noch lebt).

Dass Kissinger auch in (durchaus plausible) Verbindung gebracht wurde mit der Ermordung Aldo Moros 1978 (angeblich von den Roten Brigaden bewerkstelligt, welche Fraktion aber?) sowie zweier portugiesischer Spitzenpolitiker im Dezember 1980 (Sabotage ihres abgestuerzten Flugzeuges?), sei hier nur am Rand erwaehnt. Christopher Hitchens, der voriges Jahr krebsgestorbene britische Autor (in den USA sich leider zu Tode getrunken habend) hat zum moerderischen Chile-Thema nahezu "alles" gesagt. (Bestuerzend z.B. die Orlando Letelier "Episode")

Der aufsehenerregendste Fall hier war vielleicht die Ermordung von Chales Horman, jenem "linkslastigen" US-Journalisten, der 1973 von Pinochet/Contreras/DINA (offenbar mit Wissen der CIA) "aus dem Verkehr gezogen" wurde; man erinnere sich bitte an den aufsehenerregenden Film "Missing" (mit Sissy Spacek und Jack Lemmon). Das Buch zum Film stammt von Thomas Hauser: "The Execution of Charles Horman", das, irre ich nicht, nie ins Deutsche uebersetzt wurde und das heute wohl leicht ueber Amazon zu beziehen ist.

Auch als eine Art Nachholbedarf fuer heutige schreibende junge und aeltere Kissinger-Apologeten?

An allen diesen fuerchterlichen, gelegentlich genozidaehnlichen Dingen war/scheint (bedarf es einer "historischen Korrektur"?) seit ueber 50 Jahren der "Grosse Alte Fussball-Weise aus Fuerth" beteiligt, der nun schon seit geraumen 10 Jahren diversen Untersuchungsrichtern aus Frankreich, Spanien, Chile usw. davonlaeuft, die ihn wegen seiner "Beteiligung" an all diesen Dingen befragen moechten.

Nur noch ein letztes Stichwort: VIETNAM UND (Erich Fried).
Achso, der Friedensnobelpreis......Das waere dann aber wohl der Beginn eines neuen Kapitels.
Dann Pro-Kiss-of-Death?

Editorische Hinweise

Den Kommentar erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.