TREND - Sonderschwerpunkt: 17. Juni 1953

Kalter Krieg gegen die DDR
Die Ereignisse aus der Sicht der  SED-Führung und ihrer linken Kritiker

06-2013

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"Die Bauarbeiter hatten den Funken in die Masse
geworfen, und die Stunde war reif."


Heinz Brandt - ehemaliger SED-Funktionär - errinnert sich

Rote Teppiche

Es war am Abend des 15. Juni, einem Montag, da erschien die Sekretärin Otto Grotewohls aufgeregt bei Bruno Baum in der Wirtschaftsabteilung der Bezirksleitung. Sie legte ihm einen Brief vor, den die Bauarbeiter vom Krankenhausneubau Friedrichshain an Grotewohl, den damaligen Ministerpräsidenten der DDR, geschrieben hatten. Zufällig war ich anwesend. Dieser Brief — er ist inzwischen zu einem historischen Dokument geworden — forderte von der Regierung die sofortige Zurücknahme der Normenerhöhung. Der neue Kurs — so wurde ausgeführt — habe nur den Kapitalisten etwas gebracht, aber nicht den Arbeitern. Für Dienstagvormittag, den 16. Juni, wurde eine Delegation der Bauarbeiter angekündigt, die sich an Ort und Stelle den Bescheid des Ministerpräsidenten abholen wolle. Für den Fall einer negativen Antwort wurde Streik angedroht.

Otto Grotewohl schien unsicher, ja völlig hilflos zu sein und bat um die Meinung der Bezirksleitung der SED. Auf Grund ihrer Kenntnis der konkreten Lage solle sie raten, was zu tun sei. Bruno Baum, überlegene Ruhe ausstrahlend oder posierend, fällte ein salomonisches Urteil: Nur nicht bange machen lassen, Otto (Grotewohl) dürfe die Lage in Berlin nicht durch die »DDR-Brille« sehen. Dort, in der »Provinz«, habe es in den letzten Tagen zwar an die sechzig Streiks gegeben und einen jubelnden Empfang der auf Grund des neuen Kurses freigelassenen politischen Häftlinge. In Ostberlin aber sei alles ruhig geblieben. Hier habe sich die Leitung nicht »aufweichen« lassen, und hier sei auch weiterhin nichts zu befürchten — »solange wir nicht weich werden und in Panik fallen«.

»Auf keinen Fall klein beigeben«, postulierte er, »wenn die Delegation erst über die roten Teppiche im Amtssitz Grotewohls geht, wird ihr so feierlich zumute, daß sie ganz zahm verhandeln wird.«

Darin habe man ja reiche Erfahrung aus der Weimarer Zeit, damals, als es noch umgekehrt herum ging. Wie oft hätten bürgerliche, hätten sozialdemokratische Minister die aufgebrachten Arbeiter mit ein paar wohlwollenden Worten nach Hause geschickt, und die seien dann auch noch ihr ganzes Leben lang auf diese große Begegnung stolz gewesen ... Diese Wirkung der Obrigkeit hätte uns damals genug Kummer bereitet — aber heute käme sie uns zugute. Grotewohl solle also den Brief überhaupt nicht beantworten, die Delegation ruhig »anrücken« lassen und ihr dann überlegen — von der hohen Warte des Ministerpräsidenten her — erläutern, daß strenge Sparsamkeit nun einmal vonnöten sei...

Grotewohls Sekretärin ging sichtlich beruhigt. Sie war gar nicht erfreut darüber, daß ich ihr — im Gang noch — den entgegengesetzten Rat mit auf den Weg gab: Die Regierung solle noch heute abend über Radio die generelle Zurücknahme der Normenerhöhung verkünden und den Bauarbeitern einen schriftlichen und mündlichen Bescheid darüber gleich zu Beginn der Arbeitszeit an die Baustelle zugehen lassen.

»Das wäre ja Kapitulation«, meinte sie schnippisch und sehr von oben herab — sie war wieder ganz »Regierung«. Die Sache mit den roten Teppichen hatte ihr ungemein imponiert.

Otto Grotewohl war telefonisch nicht erreichbar — rief mich auch nicht an, obwohl ich ihn durch seine Sekretärin darum hatte bitten lassen.

Sowjetische Offiziere bestärkten an diesem Abend Bruno Baum noch in seiner Auffassung, daß jedes »Zurückweichen« in der Normenfrage von Übel sei. So lautete ihr offizieller Auftrag. Im privaten Gespräch aber ließen sie Bedenken durchblicken.

Lenin und der 17. Juni

So fügte es die List, die Logik der Geschichte, daß Lenins Theorie über das »Grundgesetz der Revolution« (»Der >Radikalismus<, die Kinderkrankheit im Kommunismus«) und seine Lehre von den Voraussetzungen einer »revolutionären Krise« vollinhaltlich für die »sozialistische« DDR zutrafen. Nicht nur wurden »sich die ausgebeuteten und geknechteten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewußt« und forderten »eine Änderung«. Auch die zweite von Lenin geforderte Voraussetzung traf ein, »daß die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können«. Die »unteren Schichten« wollten nicht mehr, und die »Oberschichten« konnten offensichtlich nicht mehr *in der alten Weise leben*.

Die »gesamtnationale« (also Ausbeuter wie Ausgebeutete erfassende) Krise zeichnete sich ab:

»Die Mehrheit der Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewußten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter)« begann, »die Notwendigkeit der Umwälzung vollkommen« zu begreifen, und sollte schon in wenigen Stunden bereit sein, »ihretwegen in den Tod zu gehen«. Gleichzeitig machten die »herrschenden Klassen eine Regierungskrise« durch, »die sogar die rückständigen Massen in die Politik hineinzieht«.

Morgen schon sollte sich jenes unverkennbare »Merkmal einer jeden wirklichen Revolution« zeigen: »Die schnelle Verzehnfachung, ja sogar Verhundertfachung der Zahl der zum politischen Kampf fähigen Vertreter der Werktätigen und der ausgebeuteten Masse, die bis dahin apathisch« war — jene Kettenreaktion, welche »die Regierung entkräftet und es den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen«.

Wenn auch diese allgemeinen Feststellungen Lenins ohne Zweifel auf die Volkserhebung vom 16. und 17. Juni 1953 durchaus zutrafen — genauso wie späterhin auf die Unruhen in Polen und die Revolution in Ungarn 1956 —, so ist es doch notwendig, auf einige besondere Bedingungen hinzuweisen:

In unserem Falle bestand die herrschende »Oberschicht« keineswegs aus Kapitalisten, Konzernherren oder deren Werkzeugen. Es handelte sich vielmehr um die weithin parasitäre, weitgehend f remd-national bestimmte Funktionärskaste des dirigistischen »Sowjet«-Systems, das sich als »sozialistisch« ausgab. Sie kopierte bis zu Stalins Tode sklavisch die russischen Methoden und war Sachwalterin und ausführendes Organ der imperialen russischen Fremdherrschaft. Die »unabhängige, souveräne« DDR war besetztes Land, das mit dirigistisch-kolonialen Methoden mittels dieser deutschen Statthalterschicht beherrscht wurde. So trat von vornherein neben das ökonomische und innenpolitische auch das nationale Moment. Der Widerstand gegen die Regierung war hier Widerstand gegen eine antinationale Regierung, die als Kollaborateur-, als Quisling-Regierung empfunden wurde.

Als die ökonomischen Losungen in politische umschlugen, war das gleichzeitig der Versuch von Deutschen, über die Gestaltung Deutschlands selbst zu bestimmen und die verhängnisvolle Spaltung Deutschlands durch eigene Aktion zu überwinden.

Die Ereignisse des 16. Juni

Am Dienstag, dem 16. Juni, kamen am frühen Morgen Parteiagitatoren — sie sollten die Bauarbeiter an der Stalinallee politisch »aufklären« und sie vor »unüberlegten« Handlungen »warnen« — fluchtartig zur Bezirksleitung zurück. Die Bauarbeiter wollten ihre Delegation zur Regierung begleiten, um damit ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

An diesem Morgen war in der »Tribüne« (Organ der Staatsgewerkschaften, des FDGB) auf Geheiß Walter Ulbrichts ein provozierender Artikel (von Otto Lehmann) erschienen. Nachdrücklich wurde betont, daß der neue Kurs keineswegs die Normenerhöhung in Frage stelle. Diese sei ganz im Gegenteil »in vollem Umfang richtig« und daher »mit aller Kraft durchzuführen«. Wiederum wurde als Erfüllungstermin der 30. Juni, Ulbrichts Geburtstag, genannt.

Der Artikel war ein Schuß gegen das »Neue Deutschland«. In solchen Formen spielte sich der Rivalenkampf Ulbricht—Herrnstadt ab.

Das stur-primitive Elaborat goß Öl in das Feuer, statt auf die Wogen.

Noch hatte sich der Demonstrationszug am Krankenhausneubau Friedrichshain nicht in Bewegung gesetzt, und schon hatten sich die Kollegen benachbarter Baustellen zu den achtzig Bauarbeitern hinzugesellt. Die beschwörenden Worte der Agitatoren prallten wirkungslos ab. Niemand ließ sich auch nur auf eine Diskussion mit ihnen ein:

»Bist du für oder gegen die Normenerhöhung?« war die ultimativ an sie gerichtete Frage. Auftragsgemäß hatten sie dafür zu sein — damit schon war ihnen das Wort entzogen.

»So sieht es überall in der Stalinallee aus, an sämtlichen Baustellen«, stotterten sie bestürzt, »es wird eine Riesendemonstration geben. Ihr müßt sofort etwas tun ...»

Was zu tun sei, wagten sie nicht offen auszusprechen. Sie waren verstört, ja niedergeschmettert: Zum erstenmal erlebten diese jungen Menschen — meistens Kursusteilnehmer der Kreis-Parteischulen, die nun in der Praxis hatten beweisen sollen, was ihnen an Theorie gelehrt worden war — eine echte Aktion der Arbeiterklasse. Ihnen war unfaß-bar, daß sie gegen die »Partei der Arbeiterklasse« gerichtet war.

Um acht Uhr dreißig rief Bruno Baum mich schon zu sich. Hans Kiefert war bereits bei ihm. Bruno Baum war totenbleich. Zum zweitenmal sah ich ihn unsicher und fahrig. Alle diese Menschen überkamen die Geschehnisse, die jetzt anhüben, wie ein unfaßbares Naturereignis ... Auf die rettende Formel vom »Tage X«, der von »außen« her — den Imperialisten — angezettelt sei, verfielen sie erst, als die russischen Panzer sie aus ihrer hilflosen Lage befreit hatten.

Hans Jendretzky war nicht anwesend — das Pol-Büro tagte routinemäßig (wie jeden Dienstag).

So betroffen waren die beiden, daß es mir Mut gab. Ich sagte klipp und klar: »Jetzt gibt es nur noch eins, das Pol-Büro muß sofort die Normenerhöhung zurücknehmen. Alles andere bedeutet Bürgerkrieg, vielleicht Krieg. Ich fahre jetzt zum Pol-Büro 'rüber und stelle den Antrag. Ganz offiziell. Kann ich nur in meinem oder auch in eurem Namen sprechen?«

»Unbedingt auch in meinem«, sagte Hans Kiefert wie erlöst.

Bruno Baum knurrte: »Ja, ich sehe nun auch keine andere Möglichkeit mehr.«

Ich ließ Hans Jendretzky aus der Pol-Büro-Sitzung herausrufen. Er kam sofort — von Rudolf Herrnstadt begleitet. Sie hörten, was geschehen war, und erklärten sich auf der Stelle bereit, den Antrag zu vertreten.

»Also du meinst, man muß sich hinter die Forderungen der Arbeiter stellen — sie sind berechtigt?« fragte Herrnstadt noch.

»Man muß unbedingt, man hätte es schon längst tun sollen, und nun ist es höchste Zeit«, drang ich in ihn.

»War der Artikel über die Stalinallee im >Neuen Deutschland< wirklich so verfehlt? Der soll jetzt an allem schuld sein«, fragte Herrnstadt unruhig.

»Eine unsinnige Behauptung. Aber dafür ist jetzt doch keine Zeit. Es geht nun wirklich um Wichtigeres.«

Ich saß viele Stunden im Korridor und wartete auf Bescheid. Die Zeit erschien mir endlos. Was mochte inzwischen in der Stalinallee vorgegangen sein?

Auch Bruno Baum erschien jetzt in dem langen Korridor des »Glaspalastes« (so nannten die Berliner das große Gebäude des Zentralkomitees) und brachte neue Hiobspost.

Einmal kam Semjonow aus dem Sitzungszimmer heraus — er ließ sich von sowjetischen Offizieren, die ihn herausgerufen hatten, Informationen geben —, verschwand aber gleich wieder hinter der Doppeltür. Dann erschien Ulbricht, begleitet von Hans Jendretzky. Er verkündete in seiner gestelzten, kalten Art, aber doch sichtlich aufgeregt:

»Das Pol-Büro hat dem Antrag der Bezirksleitung zugestimmt. Eine entsprechende Erklärung geht sofort über den Sender.«

Er erteilte Bruno Baum die Anweisung, die Demonstration »aufzuhalten und aufzulösen«. Es würde genügen, ihr den Beschluß des Pol-Büros mitzuteilen.

Dieser Auftrag war irreal.

Übrigens wurde der Politbüro-Beschluß keineswegs »sofort« verkündet. Es vergingen weitere kostbare Stunden bis dahin. Überdies wurde er in so verklausulierter Form veröffentlicht, daß er seine Wirkung verfehlte. Was da verkündet wurde, klang unglaubwürdig, ja betrügerisch und von nackter Angst diktiert.

Als ich gemeinsam mit Bruno Baum die Demonstration erreichte, war sie bereits am Alexanderplatz, dem Zentrum Ostberlins, angelangt und auf viele tausend Menschen angewachsen. Sie erhielt ständigen Zustrom aus den anliegenden Betrieben, Läden, Verwaltungsstellen und durch Straßenpassanten. Gerade dadurch bewegte sie sich sehr langsam vorwärts — aber mit unbeirrbarer Stetigkeit und elementarer Gewalt.

Der Zug hatte eine innere, natürliche Disziplin. Das war nicht die stumpfe Ordnung der gewohnten Zwangsdemonstrationen. Es war ein dumpfes Brodeln und Summen in ihm, wie er da anquoll, und eine erregende, aufrüttelnde Entschlossenheit. Nur vereinzelt wurden Rufe laut. Gerade die aktive Ruhe war es, welche die Demonstranten so bedrohlich erscheinen ließ. Die Rufe richteten sich gegen die Normenschinderei, gegen Partei und Regierung, vor allem aber gegen Walter Ulbricht.

»Wir wollen freie Menschen sein und keine Sklaven«, hörte man immer wieder. Und »freie Wahlen« blieb vorerst die einzige positive Forderung.

Zwischen den demonstrierenden Arbeitern, den Hausbewohnern, Büroangestellten und Straßenpassanten wuchs spontan und explosiv ein Band der Gemeinsamkeit. Aus den Fenstern der Mietshäuser, der Verwaltungsgebäude gafften, winkten und riefen die Menschen. Es begann die große Verbrüderung auf der Straße.

»Zur Regierung, zur Leipziger Straße«, war das Losungswort, das sich nach allen Seiten fortpflanzte. Die verkehrsregelnden »Volkspolizisten« standen hilflos und verwirrt, umbrandet von Menschen, die selbst nicht glauben wollten, noch gar nicht begriffen, was hier geschah. Die Demonstration weitete sich zusehends zu einer allgemeinen Erhebung aus.

Wie in Andersens unsterblichem Märchen »Des Kaisers neue Kleider« genügte das erste offene Aussprechen der Wahrheit, die erste Gegenüberstellung der Wirklichkeit mit der offiziellen Fiktion, um die Menschen sehend zu machen. Es erwies sich nicht nur die Lüge, sondern auch die Schwäche des Systems.

Mit einem Schlage erlebte ein jeder, daß seine individuelle Ablehnung des Systems — entgegen der offiziellen Legende — kein Alleingang war, sondern mit der Meinung der breiten Masse, des »Mannes auf der Straße« übereinstimmte. Das gab ihnen Mut, vervielfältigte ihre Kräfte.

Jeder Mensch ersehnt wohl eine Stunde, in der er selbst aktiv werden, selbst zur Entscheidung beitragen kann. Er ist gewohnt, ohnmächtig, aber grollend zu sagen: Was können wir Kleinen schon tun? Die da oben machen doch, was sie wollen.

Je unzufriedener der einzelne mit seiner Lage ist, um so mehr erbittert es ihn, daß er ohnmächtig ist. Erst in der Revolution zeigt sich, daß unendlich viel Kleines, wird es integriert, eine endliche Größe darstellt, eine beträchtliche endliche Größe, eine Größe, die Geschichte macht.

Die Bauarbeiter hatten den Funken in die Masse geworfen, und die Stunde war reif. Der Funke wurde zur Flamme. Einst hatte Lenin davon geträumt. Er hatte seine Zeitschrift »Iskra« genannt, »Der Funke«.

»Aus dem Funken wird die Flamme schlagen«, so hatten die vorrevolutionären russischen Dichter des 19. Jahrhunderts verkündet, und die Bolschewiki glaubten, mit ihrer Oktoberrevolution deren humanen Traum verwirklicht zu haben. Hier aber schlugen Funke und Flamme aus einer Arbeiteraktion, die sich gegen ein Regime richtete, das vorgab, im Geiste Lenins zu herrschen.

Die Partei- und Staatsfunktionäre wurden durch die Ereignisse überrumpelt und fortschreitend gelähmt. Etwas Ungeheuerliches, Unfaßbares vollzog sich vor ihren Augen: Der Arbeiter erhob sich gegen den »Arbeiter- und Bauernstaat«.

Alles brach zusammen. Sie hatten, selbst Opfer des Massenbetrugs, die Fiktion für Wirklichkeit genommen. So verstanden sie nicht, was vor sich ging, und waren unfähig, in die Ereignisse einzugreifen.

Eine kleine, zahlenmäßig geringe Schicht von ihnen ging spontan auf die Seite der Arbeiter über. Die überwiegende Mehrheit aber, verärgert, desorientiert, »ideologisch entwaffnet« durch den unerklärlichen Bruch mit allen bisher gültigen Prinzipien und tödlich erschreckt durch das offene Zutagetreten der wahren Stimmung und der elementaren Kraft der Massen, verfiel in ohnmächtige Passivität — ganz zu schweigen von dem Heer der Karrieristen, die sich den Teufel darum scherten, wie es den Werktätigen ging, jedoch keineswegs ihre Haut für die SED zu Markte tragen wollten.

So erwies sich bereits am 16. Juni in Berlin die Partei als manövrierunfähig.

Andererseits war die Bewegung der Massen rein spontan, ohne theoretische und organisatorische zentrale Leitung und organisierende Kraft. Der politischen Aktion war keine geistige Auseinandersetzung vorausgegangen. Der Wunsch war allgemein, das Bestehende fortzuräumen. Aber was sollte an seine Stelle treten? Die Vorstellungen über das Neue

waren äußerst unterschiedlich, vage, dumpf und verworren — bis auf den elementaren Wunsch nach freien Wahlen.

In den Mienen der Bauarbeiter, die an der Spitze des Demonstrationszuges marschierten, lag etwas Trunkenes: »Ich hätte niemals geahnt, daß es so kommen wird. Das ist mehr, als wir alle erwarteten«, sagte einer von ihnen zu mir. Die Massen begannen eben erst ihre eigene Kraft zu erfahren und zu erproben. Noch fehlte jegliche politische Erfahrung im Kampf gegen das System.

Von Beginn an aber richtete sich die Bewegung in spontaner Disziplin ausschließlich gegen die SED und ihre Regierung. Sie vermied jeden unmittelbaren Konflikt mit der Besatzungsmacht.

Nicht nur die SED — auch die politischen Parteien in der Bundesrepublik und in Westberlin wurden durch das Tempo der Entwicklung, durch die explosive Gewalt der Ereignisse überrascht, überrannt. Zwar hatten hier viele die Krise kommen sehen, doch hätte es eines Propheten bedurft, um Termin und Ablauf der Geschehnisse vorauszusehen.

Es gibt in der Geschichte kein Beispiel eines ausschließlich »von außen« ausgelösten Aufstandes. Die Erhebung in der DDR zeichnete sich gerade dadurch aus, daß die terminliche und sonstige organisatorische Auslösung — sei es von innen, sei es von außen — nur in homöopathischen Ansätzen erfolgte. Das spontane Moment war ausschlaggebend. Gerade darum ist das von Ulbricht später erfundene Märchen so besonders primitiv, es handele sich hier um eine teuflische Planung, um die »Ansetzung des Tages X auf den 17. Juni« durch die »faschistischen Provokateure« in »Bonn und New York«.

Wohl versuchten die SPD und die Freien Gewerkschaften, ihre Anhänger in den Betrieben Ostberlins und der DDR zur Bildung von demokratisch gewählten Betriebsausschüssen und örtlichen Selbstverwaltungsorganen zu veranlassen, doch wurden diese spärlichen Ansätze durch das rasche Tempo der Entwicklung überholt, ehe sie organisatorisch oder gar politisch zum Tragen kamen.

Die westlichen Geheimdienste konnten erst recht keinen Einfluß mehr auf die sich spontan ausbreitende Bewegung und den Ablauf der Ereignisse nehmen.

Der einzige mobilisierende Faktor von außen war die Information. Ununterbrochen unterrichteten westliche Sender die Bevölkerung der DDR über die Ereignisse des 16. Juni in Ostberlin.

So hermetisch die innere Informationsblockade auch war — schwiegen doch alle DDR-Massenmedien anfänglich die Erhebung tot —, so transparent war der Informationsvorhang gegenüber der Nachricht, die durch den Äther drang. Die Information von außen — sie war der Funke, der die Flamme auslöste, der die Explosion von Ostberlin auf das Gebiet der DDR übertrug. »Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift«, sobald der »Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden eingeschlagen ist«, hatte Karl Marx einst verkündet.

In unserem Falle wurde die Nachricht zur materiellen Gewalt — die Information wurde zur Kraftquelle: Sie vermittelte die Erkenntnis, daß der ohnmächtige Einzelne, in gemeinsamer Aktion mit seinem Nebenmann verbunden, imstande ist, die Welt zu verändern. Über Nacht steigerte sich die partielle Erhebung einiger Betriebe Ostberlins synchronisch zur Gesamterhebung der Ostberliner Betriebe und wichtiger Industriezentren der DDR. Am Morgen des 17. Juni sahen sich die DDR-Machthaber allerorten von den Arbeitermassen bedroht.

Kaum waren wir dem Demonstrationszug am Alexanderplatz begegnet, da kapitulierte Bruno Baum vor der Aufgabe, die ihm Walter Ulbricht zugewiesen hatte. Baum hatte genug gesehen — er verstand sich ja auf Arbeiteraktionen —, um zu begreifen, daß es hier nicht mehr um ein lokales, »aufzulösendes« Ereignis ging. Dieser Vorgang war bereits irreversibel; eine Volkserhebung war im Entstehen.

Das hier konnte nicht mit einer improvisierten Ansprache eingedämmt werden — sei sie nun lockend oder drohend. So weigerte er sich denn, zu den Demonstranten zu sprechen.

Wie wollte er auch diese vorwärts drängende Menge, deren Wesen die Bewegung war, zum Stehen bringen?

Mit Recht fürchtete er auch, die Bauarbeiter könnten gegen ihn handgreiflich werden, war er doch eben erst vom »Neuen Deutschland« als »Holzhammer-Funktionär« angeprangert worden. Ohnehin galt er seit langem als rücksichtsloser Einpeitscher der Normenschinderei.

»Hier kann ich nichts mehr machen«, meinte Bruno Baum. »Ich muß zurück in die Bezirksleitung, damit wenigstens einer da ist, der leitet.«

Aber er sagte nicht, was er zu tun gedächte, wie er sich unter diesen Umständen das Leiten vorstelle. Sicherlich beabsichtigte er, sich mit Waldemar Schmidt in Verbindung zu setzen, dem damaligen Leiter der Berliner Volkspolizei — und wahrscheinlich auch mit den sowjetischen »Freunden«.

Einstmals hatten wir alle den brutalen Ausspruch von Gustav Noske verurteilt: »Einer muß ja der Bluthund sein« — das war, als Noske sich in den Wirren der Novemberrevolution von 1918 mit den kaiserlichen Generalen, mit den faschistischen Freikorps gegen die aufständischen Arbeitermassen verband.

Auch Waldemar Schmidt und Bruno Baum dachten nun in militärischen Kategorien, wollten den »Putsch« im Keim — mit Waffengewalt — ersticken.

Erst am Nachmittag sollte ich erfahren, wie berechtigt meine Befürchtungen gewesen und woran die abenteuerlichen Pläne gescheitert waren.

Die »Anführer«, die »Rädelsführer« der Demonstration waren keineswegs mehr Herr der Situation; sie führten eine Aktion, die in Stunden, ja in Minuten über ihre ursprünglichen Ziele hinausgewachsen war.

Meine Mitteilung, daß die Normenerhöhung inzwischen vom Pol-Büro der SED zurückgenommen worden sei, übte keinerlei Wirkung aus:

»Das wollen wir von der Regierung, das wollen wir von Walter Ulbricht selber hören«, lautete die Antwort.

Aber gesetzt den Fall, Walter Ulbricht hätte den Mut gefunden, ihnen das hier und jetzt zu verkünden — nichts hätte sich am Ablauf geändert. Ihre Antwort an mich war mehr eine Ausflucht, die verhüllen sollte, wie sehr sie selbst bereits Getriebene in dieser Aktion waren.

Immerhin, meine Mitteilung pflanzte sich schnell im Zuge fort. Doch sie hatte das Gegenteil von dem zur Folge, was Walter Ulbricht von ihr erhofft hatte. Die Demonstranten gingen nicht nach Hause, sondern schritten nur entschlossener ihrem Ziele zu. Ihr Kraftbewußtsein hatte sich erhöht. Der erste große Erfolg der Streikdemonstration war errungen.

Der Zug quoll unaufhaltsam weiter, über den historischen Lustgarten, der nun Marx-Engels-Platz hieß, über die ganze Breite der Straße Unter den Linden, der Friedrichstraße und Leipziger Straße hinweg bis zu dem Platz vor dem Regierungsgebäude.

Die Arbeiterregierung hatte sich eilfertig vor ihren Arbeitern verriegelt. Eiserne Gitter hinderten den Zugang. In Sprechchören wurden Walter Ulbricht und Otto Grotewohl aufgefordert, zu erscheinen und den Arbeitern Rede und Antwort zu stehen. Doch Balkon und Fenster blieben leer.

Da ich den Zug an der Spitze begleitet hatte, kannten mich die Demonstrationsführer und halfen mir auf ein von ihnen mitgeführtes Fahrrad. Sie hielten mich fest, und ich sprach stehend vom Fahrradsattel.

Die Normenerhöhung sei von der Partei mit sofortiger Wirkung zurückgenommen worden, sagte ich. Das sei ein erster großer Erfolg. Nun aber müsse nachgestoßen werden. Das Wichtigste sei jetzt, sofort Arbeiterausschüsse zu wählen, um eine demokratische Grundlage, eine Interessenvertretung in den Betrieben zu sichern. Der neue Kurs müsse zur Wiedervereinigung und zu freien Wahlen führen.

Es gab mehr ungläubige als zustimmende Zwischenrufe: »Wer bist du schon?« — »Sagst du die Wahrheit?« — »Ulbricht, Grotewohl soll uns das sagen.«

Ich weiß heute nicht mehr, wie Robert Havemann auf den Platz gekommen ist. Kaum war ich von dem Fahrrad heruntergestiegen, drängte sich der große, kräftige Robert durch und bestieg selbst das Stahlroß. Was immer er aber sagte, auch er scheiterte an dem allgemeinen Verlangen, unmittelbar von Partei und Regierung selbst zu erfahren, woran die Arbeiter jetzt waren.

Danach ergriffen einige der Demonstrationsführer das Wort.

Auch sie sprachen ins Leere. Die Kundgebung hatte keinen Widerpart. Türen und Fenster des Regierungsgebäudes blieben verschlossen. Partei und Regierung blieben stumm.

Einzig und allein Minister Fritz Selbmann fand den Mut, mit den Arbeitern zu sprechen. Vergeblich. Die Demonstranten ließen ihn nicht zu Worte kommen. Auch ihm sagten sie, daß Walter Ulbricht selbst ihnen Rede und Antwort zu stehen habe.

Nach und nach versickerte die Ansammlung. Aus den Verwaltungsgebäuden der Umgebung hatten sich mittlerweile SED-Funktionäre unter die Arbeiter gemischt. Doch sie diskutierten kaum. Verstört hörten sie die seltsame Mär, daß die Normenerhöhung fallen gelassen worden sei, für die sie doch bis zu diesem Augenblick hatten eintreten müssen. Als die Nachricht später vom Ostberliner Sender bestätigt wurde, fühlten sich insbesondere die Betriebsfunktionäre der Partei durch diesen »Rückzieher« ihrer Führer genasführt und vor ihrer Belegschaft desavouiert. Hatten sie doch auch noch nach dem neuen Kurs die Normenerhöhung wütend gegenüber den Arbeitern verteidigen müssen.

Robert Havemann hatte nach seiner vergeblichen Rede die Demonstranten verlassen und am Gendarmenmarkt einen Lautsprecherwagen der SED bestiegen, von dem aus er die Normenherabsetzung bekanntgab. Kaum aber hatte er damit begonnen, da wurde das Gefährt auch schon von Streikenden angehalten und Havemann heruntergeholt. Nun setzte sich der Lautsprecherwagen, von Demonstranten besetzt, durch die Straßen der Innenstadt in Bewegung. Durch das Mikrofon dröhnte der Aufruf zum Generalstreik und zu einer großen, zentralen Protestdemonstration am Morgen des nächsten Tages auf dem Strauß-berger Platz.

Als ich am frühen Nachmittag des 16. Juni wieder zur Bezirksleitung kam, erhielten wir im Sekretariat eine aufschlußreiche Mitteilung.

Der Chef der Volkspolizei, Waldemar Schmidt, hatte bereits am frühen Morgen — als sich der anfänglich noch kleine Demonstrationszug in der Stalinallee zum Abmarsch formierte und sich durch die Parteiagitatoren nicht beirren ließ — die sowjetische Besatzungsmacht um eine Sondergenehmigung gebeten. Die »Volkspolizei« sollte den Volkszug auflösen und die »Rädelsführer« verhaften.

Doch jegliche Maßnahme solcher Art war ihm strikt untersagt, als »provokatorischer Vorschlag« abgelehnt worden. Nun beschwerte sich Waldemar Schmidt mit hochrotem Kopf über die »knieweichen Freunde«.

»Hätten wir«, so meinte er, »sofort durchgegriffen und die Maßnahmen der Polizei durch einen Schwärm von Agitatoren abgedeckt, dann wäre alles schon längst vergessen.«

Nun bestürmte er Hans Jendretzky, die Russen doch »endlich umzustimmen«. Er fand mit seinem Rat keine Gegenliebe. Jendretzky meinte entschieden, er wolle nicht als »Arbeiterschlächter« in die Geschichte eingehen. Das Gespenst von Gustav Noske schreckte den alten Gewerkschafter.

Die Sekretariatssitzung war ursprünglich für eine ganz andere Aufgabe bestimmt gewesen. Die Bezirksleitung der Berliner SED steckte bis über die Ohren in einer Routinearbeit: Für den Abend war eine entscheidende Parteiaktivtagung angesetzt worden.

Diese außerordentliche Tagung mußte organisatorisch und technisch vorbereitet werden. Das war nicht einfach; denn zwei Tage vorher erst war sie beschlossen worden — als kleiner Erfolg der Opposition gegen Walter Ulbricht. Auf der Parteiaktivtagung sollten Otto Grote-wohl und Walter Ulbricht den neuen Kurs erläutern und zur Diskussion stellen. Endlich war eine kleine Tribüne erstritten, auf der die Führung Farbe bekennen sollte. Angeblich sollte das Referat von Otto Grotewohl — in bezug auf die Fehler der Vergangenheit — sehr scharfe Formulierungen enthalten, mit direkter bzw. indirekter Zielrichtung gegen Walter Ulbricht.

So war Hans Jendretzky in diesen Stunden mit seinem Herzen und in seinem Sinn weitaus mehr mit der bevorstehenden Parteiaktivtagung als mit den umwälzenden Ereignissen beschäftigt, die sich soeben vollzogen und die wir noch gar nicht in ihrem vollen Umfange erfaßt hatten.

Hinzu kam, daß Jendretzky sich ernsthafte Sorgen machte, die Ereignisse in Berlin könnten seinem Einfluß schaden und Ulbricht den Vorwand und auch die Möglichkeit dafür liefern, den alten, harten Kurs aufrecht zu erhalten.

»Wir werden«, so sagte Hans, »während der Parteiaktivtagung mit den Genossen vom Pol-Büro beraten, was zu tun ist.«

Eine einzige Maßnahme wurde in dieser kurzen Sekretariatssitzung festgelegt: Die Sekretariatsmitglieder wurden auf die wichtigsten Großbetriebe aufgeteilt. Jeder von ihnen sollte am nächsten Morgen in einer Belegschaftskundgebung die Rücknahme der Normenerhöhung und den neuen Kurs erläutern.

Weitere Schlußfolgerungen wurden nicht gezogen.

Die Parteiaktivtagung — mit so großen Erwartungen erhofft — nahm einen gespenstischen Verlauf. Ulbricht und Grotewohl sprachen in akademischen Worten und bagatellisierender Form über den Inhalt des neuen Kurses. Sie sprachen so, als hätte sich inzwischen nichts ereignet. Die wahrhaft erschütternden Vorgänge des Tages wurden nur am Rande gestreift. Unter ihrer Einwirkung hatte Grotewohl die schärfsten »selbstkritischen« Passagen seiner Rede gestrichen. Durch die Ereignisse eingeschüchtert und sowohl ihre Fiktionen als auch ihre soziale Existenz in Frage gestellt sehend, wagten die Parteifunktionäre weniger als je, offen zu diskutieren.

Alle dachten daran, keiner sprach von dem, was vorgefallen.

Über der Tagung lag ein drückendes Verschweigen und Nichtsehen-wollen: Nicht weniger als eine Revolution hatte begonnen. Im Dunkel der Nacht schon sollte das Signal der Bauarbeiter aus der Stalinallee die Betriebe Ostberlins und der DDR zur Aktion führen. Ulbricht aber vermeinte, das Übergreifen des Feuers durch die Normenerklärung im Rundfunk verhindert zu haben.

Die Volkserhebung vorn 17. Juni

Am Morgen des 17. Juni stand Ostberlin, stand die DDR im Zeichen der Volkserhebung.

Es kam zu tumultartigen Szenen in den Straßen Ostberlins. Ich sah, wie Funktionärsautos umgeworfen, Transparente und Losungen, auch Parteiabzeichen abgerissen und verbrannt wurden.

In vielen Städten der DDR kam es zum Massensturm auf Gefängnisse, auf Partei- und Regierungsdienststellen, insbesondere solche des Staatssicherheitsdienstes. Zentren der Generalstreikbewegung, des beginnenden Aufstandes waren die traditionellen Industriegebiete Sachsen und Thüringen — von jeher Mittelpunkte der Arbeiterbewegung.

Als ich morgens zu dem mir zugeteilten volkseigenen Großbetrieb Bergmann-Borsig in Berlin-Wilhelmsruh kam, wurde dort keine Hand gerührt. Die Arbeiter diskutierten am Arbeitsplatz und führten in den Hallen kleine Versammlungen durch. Vertrauensleute nahmen von Abteilung zu Abteilung miteinander Verbindung auf, um eine Versammlung der gesamten Belegschaft herbeizuführen. Vor kurzem war hier ein sogenanntes Kulturhaus mit einem riesigen Saal fertiggestellt worden, der allen Belegschaftsangehörigen Platz bot.

Interessant war meine Begegnung mit dem Parteisekretär des Betriebes. Er meinte, im Betrieb würde es »ruhig bleiben«. An Arbeit sei allerdings kaum zu denken.

Ich veranlaßte ihn, die gesamte Belegschaft durch den Lautsprecher in den großen Saal des Kulturhauses zu rufen. In wenigen Minuten war der Riesenraum von einem einzigen Brodeln erfüllt.

In diesem Moment, da die Arbeiter hier in Aktion versammelt waren, so fuhr es mir durch den Kopf, und nur für die Dauer dieser Aktion, gehört dieser Betrieb wahrhaft ihnen. Genau das sagte ich auch.

»Heute ist dieser Betrieb euer Betrieb geworden, aber damit steht auch in eurer Verantwortung, was aus ihm wird. Erstens: nichts zerstören; zweitens: hier und sofort einen Betriebsausschuß wählen!«

Dieser Vorschlag wurde ohne Diskussion angenommen und unmittelbar verwirklicht. Zum Ausschußvorsitzenden wurde ein älterer, erfahrener sozialdemokratischer Arbeiter gewählt. In der Diskussion, die der Wahl des Betriebsausschusses folgte, sprachen etwa zwanzig Arbeiter.

Das war eine elementare, leidenschaftliche Auseinandersetzung, eine historische Abrechnung mit dem SED-Regime. All das, was sich bisher gestaut hatte, nie offen in Versammlungen ausgesprochen worden war,

brach sich jetzt Bahn. Aus eigenem Erleben, in der drastischen, ungekünstelten Sprache des erregten Menschen, der von seinen persönlichen Erfahrungen ausgeht, wurden zahllose empörende Beispiele von Rechtswillkür angeführt. Namen von Arbeitskollegen aus dem Betrieb wurden genannt, die verhaftet, verurteilt, mißhandelt worden waren, deren Angehörige nichts mehr von ihnen gehört hatten.

Es wurde eine Entschließung angenommen, die den gewählten Arbeiterausschuß bevollmächtigte, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Belegschaft zu vertreten und sich mit ähnlichen Ausschüssen in anderen Betrieben in Verbindung zu setzen. Als politisches Hauptziel wurde die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie demokratische Wahlen gefordert.

Am Schluß der Versammlung sprang ein Arbeiter auf das Podium und forderte die Belegschaft auf, sich mittags am Betriebstor zu versammeln, um in das Stadtzentrum zu demonstrieren — überall wären bereits derartige Streikdemonstrationen im Gange.

Unmittelbar im Anschluß an die Versammlung trat der Ausschuß zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen, legte die wichtigsten betrieblichen und politischen Forderungen fest und beschieß, sich an die Spitze der Streikdemonstration zu stellen.

Der Demonstrationszug kam nicht weit. Um 13 Uhr war der Ausnahmezustand eingetreten. General Dibrowa, der sowjetische Stadtkommandant, hatte ihn verhängt. Unmittelbar darauf kämmten sowjetische Truppen die Straßen durch. Die Bergmann-Borsig-Demonstration wurde aufgelöst, die »Rädelsführer« — darunter der sozialdemokratische Vorsitzende des soeben gewählten Betriebsausschusses — verhaftet. Welch glorreiche Aktion der Sowjet(Räte)macht gegen die Räte!

In wenigen Stunden waren die Gefängnisse Ostberlins überfüllt. Sinnigerweise wurden Lagerräume im zentralen Schlacht- und Viehhof — sie standen leer, denn an Fleischvorräten mangelte es — mit verhafteten Streikenden vollgepfercht. Die Gefangenen waren nicht nur menschenunwürdig untergebracht, an ihnen entlud sich die Wut jener Volkspolizeioffiziere, die eben noch ihre Sache verloren gesehen hatten, die erst unter dem Schutz sowjetischer Panzer ihre Sicherheit wiederfanden — und nun um so ingrimmiger ihren Bütteldiensten nachgingen.

Was sich hier abspielte, ging selbst dem hartgesottenen Waldemar Schmidt auf die Nerven. Er berichtete in der Bezirksleitung von den empörenden Vorgängen, und Hans Jendretzky verpflichtete ihn, »diesen Schlacht- und Viehhofmethoden ein Ende zu bereiten«.

Ich hatte gleich nach Beendigung der Belegschaftsversammlung den Betrieb verlassen und war noch, ehe der Ausnahmezustand verkündet war, zu Fuß durch die Innenstadt in die Bezirksleitung zurückgekehrt.

Es war wie zu Beginn eines Bürgerkrieges. Unter die streikenden Demonstranten hatten sich inzwischen auch zahllose Westberliner, zumeist Jugendliche, gemischt.

Funktionärsautos wurden angehalten und umgekippt, Transparente und DDR-Embleme abgerissen und in Brand gesteckt. Spontane Demonstrationszüge und organisierte Sprechchöre, Kuriere auf Fahrrädern, meist Westberliner Herkunft, Ansprachen von Autos und improvisierten Podesten ...

SED-Mitgliedern wurden die Parteiabzeichen abgerissen. Johlende Gruppen setzten sich wirr, auf zufällige Zurufe hin, in Bewegung: »Auf zum Glaspalast!« — »Zum Ministerium!« — »Zum Brandenburger Tor!« Der Erhebung fehlte das Selbstverständnis, also fehlten ihr auch die Lieder. Sie vermochte noch nicht sich zu artikulieren.

So sang man »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«, aber ebenso auch das »Deutsdiland-Lied« — und doch drückte beides nicht das aus, was die Menschen wollten und dumpf empfanden. In der allgemeinen Turbulenz machte mich das Deutschland-Lied am meisten betroffen. Das war das letzte — so empfand ich —, was hierher gehörte.

Gewiß waren es nicht nur Arbeiter, die aus Westberlin hinzugeströmt waren. Gewiß traten auch Rowdys und politische Abenteurer mit dunklen Zielen und dunklen Auftraggebern in Aktion. Sie fanden hier ein günstiges Betätigungsfeld. Aber sie fanden es auf der Grundlage einer elementaren Massenerhebung.

Alles, was ich in diesen Stunden, in diesen Straßen sah, waren immer wieder Arbeiter und Arbeiterinnen, die ihre »volkseigenen« Betriebe verlassen hatten, weil sie die Stunde für gekommen hielten, eine Ordnung zu ändern, die ihnen unerträglich geworden war, sich einer Obrigkeit zu entledigen, die sie nicht mehr dulden wollten.

Wie unscharf und nebulos auch ihre Ziele waren, so wollten sie doch eines gewiß nicht: eine Reise zurück in die Vergangenheit, eine Wiederherstellung der alten Besitzverhältnisse des ostelbischen Großgrundbesitzes und des Konzerneigentums der Wehrwirtschaftsführer und Rüstungsindustriellen.

So manch einer aber von denen, die hier aus Westberlin zum Dienst eingesetzt waren — von obskuren Diensten —, diente gewiß anderen Zielen.

Als ich kurz vor 13 Uhr in der Bezirksleitung eingetroffen war, teilte mir Bruno Baum triumphierend mit, daß unsere »Freunde« endlich ein Einsehen gezeigt und die Sache in die Hand genommen hätten:

»In wenigen Minuten haben wir den Ausnahmezustand, und dann wird aufgeräumt.«

Bruno Baum und Waldemar Schmidt vor allem fühlten sich jetzt als Sieger. »Schließlich«, dozierte Bruno Baum, »ist alles eine Machtfrage. Wehe uns, wenn wir das vergessen und uns die Macht aus den Händen winden lassen. Jetzt hat die Sowjetmacht zugeschlagen, und der ganze Spuk ist vorbei.«

Und tatsächlich, vom Fenster aus — über den August-Bebel-Platz hinweg — sahen wir die Panzer, die Unter den Linden in Richtung Brandenburger Tor rasselten, um die Sektorengrenze hermetisch abzuriegeln und die »Unruhen im Keime zu ersticken«.

Wie oft hatten wir in der Vergangenheit, in den zwanziger und dreißiger Jahren die Arbeiter Berlins aufgerufen, sich gegen die Soldateska, gegen die Panzer zu erheben. Panzer Unter den Linden 1918 bei der Novemberrevolution. Panzer Unter den Linden 1919 bei den Spartakuskämpfen. Panzer Unter den Linden 1920 beim Kapp-Putsch. Und dann der Papen-Putsch am 20. Juli 1932, als ganz Berlin unter Militärrecht gestellt wurde.

Wohin hatten wir es gebracht? Jetzt begrüßten wir die Panzer Unter den Linden, die uns von den Arbeitern befreiten, die wir hatten befreien wollen.

So wie in Ostberlin wurde am 17. Juni auch im gesamten Gebiet der DDR — durch die jeweiligen Kreiskommandanten — der Ausnahmezustand verhängt. Die Volkserhebung war mit Waffengewalt von sowjetischen Besatzungstruppen erstickt worden. Eine neue Form der Konterrevolution hatte über eine neue Form der Revolution gesiegt.

Der Sieg des Aufstandes, die provisorische Machtübernahme durch die spontan entstandenen Betriebsausschüsse und kommunalen Selbstverwaltungsorgane hatte sich abgezeichnet. Es hatte nichts mehr gegeben, was die erbitterten Arbeiter hätte aufhalten können, als die Panzer der Besatzungsmacht. Ulbricht erhielt im sowjetisch beschützten ZK-Ferienheim Kienbaum — dorthin war er während der Unruhen, geflohen — die Nachricht von seiner Rettung (wie ich später von Karl Schirdewan erfahren habe).

Da war keine populäre Figur weit und breit, die der Kreml, die das Pol-Büro der SED jetzt ins Spiel hätte führen können, um die bedrohliche Volksbewegung abzufangen und einzudämmen. Kein Gomulka, kein Nagy bot sich an ...

Die Neuerer im Kreml, in Fraktionskämpfe verstrickt, wagten in dieser Situation nicht, Ulbricht (als Sündenbock) fallen zu lassen und Otto Grotewohl und Rudolf Herrnstadt an die Spitze von Partei und Staat zu stellen. Sie befürchteten wohl nicht zu Unrecht, daß damit nur ein knapper Zeitaufschub, nicht aber eine echte Stabilisierung zu erreichen war.

Sie fanden nicht den moralischen Mut und besaßen auch nicht die innerparteiliche Machtposition zu solch einem waghalsigen Sprung nach vorn. Das Versagen der Westmächte bestand eben darin, durch ihr verständnisloses statisches Verhalten das Risiko solch eines kühnen Unterfangens unangemessen erhöht zu haben.

So ergab sich ein historisches Paradoxon: Eben der moralisch-poli-tische Bankrott des Ulbricht-Systems — durch das Flammenzeichen der Volkserhebung erhellt — führte in dialektischer Wechselwirkung auch dessen Rettung herbei: Er rettete Walter Ulbricht vor dem neuen Kurs, rettete damit seine politische Existenz. Aus den Trümmern seiner Politik, die ihn nach menschlichem Ermessen hätten begraben müssen, stieg er — ein seltsamer Phönix aus der Asche — zu gefestigter Macht empor.

Die Initiatoren des neuen Kurses im Kreml (Berija und Malenkow) und seine Protagonisten in Ostberlin (Herrnstadt, Zaisser und Jen-dretzky) wurden nun zu dessen Prügeljungen, Sündenböcken und Opfern.

Der verhängnisvolle Ausgang ihres Experiments wurde ihnen selbst zum Verhängnis.

»Umwälzungen finden in Sackgassen statt» (Brecht)

Der 17. Juni hatte vor aller Welt offenbart, daß die SED keine Basis im Volke hatte, sich nicht ohne den bewaffneten Schutz der Sowjettruppen an der Macht halten konnte. Er hatte gezeigt, daß die Partei hohl war: Sie barst, als das Volk sich erhob.

Am tiefsten hatte sie getroffen, daß die Industriearbeiter der Großbetriebe sich als der entschiedenste Teil, als die Vorhut des Volkskampfes erwiesen hatten — so, genauso sollte es ja auch nach der eigenen Theorie sein.

Doch nahm die Weltgeschichte einen gänzlich verkehrten Lauf; denn nun war offenkundig geworden, wie sehr das Regime den Interessen der Arbeiter entgegengerichtet war, dem Selbstbestimmungsrecht und dem Unabhängigkeitswillen des Volkes.

Seit diesem 17. Juni mußten die Sowjetunion und ihre SED darauf verzichten, freie Wahlen auch nur als Phrase für eine deutsche Wiedervereinigung in Vorschlag zu bringen.

Doch die spontane Volkserhebung vom 17. Juni machte auch noch ein weiteres offenbar: Die Bundesrepublik und die westlichen Demokratien hatten sich als unfähig erwiesen, jene einzigartige Konstellation, die durch den Diadochenkampf im Kreml nach Stalins Tode ausgelöst worden war, für die damals vorübergehend mögliche, friedliche Wiedervereinigung Deutschlands und eine Gesamtentspannung zwischen den beiden Blöcken zu nutzen. Die Churchill-Malenkow-Ini-tiative war im Vorfeld des Kalten Krieges hängengeblieben.

Jedes Imperium hat immer noch seine militärischen Machtmittel eingesetzt, wenn anders sein Besitzstand nicht mehr zu sichern war. Wie später im Fall Ungarn haben die Westmächte dankenswerter Weise am 17. Juni 1953 dieses historische Gesetz und damit die vertraglich festgelegten Intsressensphären des Status quo respektiert.

Alles andere hätte den gemeinsamen Untergang bedeutet.

Nicht hierin also lagen die versäumten Möglichkeiten; und nur die Unverständigsten in der DDR waren es, die sich »vom Westen im Stich gelassen« fühlten.

Niemand außer den »Stützen der Gesellschaft« fühlte sich durch das Eingreifen der Russen gerettet und befreit. Aber von allen Sehenden war der Alpdruck genommen, das deutsche Volk könne im Feuer eines ost-westdeutschen Bürgerkrieges und durch einen militärischen Zusammenprall der Siegermächte auf deutschem Boden verheizt werden.

Keine der beteiligten Mächte, keine der kämpf enden Parteien hüben und drüben konnte ein Interesse an einer wahrheitsgemäßen Darstellung und Deutung der tragischen Ereignisse haben. Jede Partei zog aus der Tragödie Stoff für ihre spezifische Mythenbildung — Lehren wurden nicht gezogen.

Wer in den westlichen Demokratien hat beachtet, daß jede Entschärfung des Kalten Krieges — wie sie zum Beispiel vorübergehend durch die Malenkow-Churchill-Verhandlungen eingetreten war — die Auflockerung, die Entstalinisierungstendenzen in den »sozialistischen« Ländern wesentlich fördert?

Aber auch der Kreml hatte sich wenig Gedanken über die Geschehnisse in der DDR gemacht — zumindest war er nicht beweglich genug, um wirksame Schlußfolgerungen zu ziehen. Er erwies sich als unfähig, seinen Kolonialkurs in den Satellitenländern zumindest soweit zu lockern, daß Volksaufstände vermieden wurden.

Trotz des Warnsignals vom 17. Juni hat der Kreml den Bierut-Kurs in Polen und den Räkosi-Kurs in Ungarn weiterhin gefördert oder doch geduldet. Die Revolutionen in Polen und Ungarn zeigten dann auf höherer Stufenleiter, was im Keim bereits in der DDR-Volkserhebung vom 16. und 17. Juni zutage getreten war.

Eine Tragödie — als das erschien mir der 17. Juni, und so bezeichne ich ihn heute noch. Ich empfand die Geschehnisse als Tragödie nicht nur deshalb, weil sie mich jäh aus meinen hoffnungsvollen Erwartungen rissen, in die mich die Botschaft versetzt hatte, ein neuer Kurs hebe an.

Was mich bewegte, war nicht so sehr meine persönliche Enttäuschung, sondern die irreversible Entscheidung für einen unabsehbar großen Zeitabschnitt.

Dem Spießer erscheint es als Tragödie, wenn Ordnung und Ruhe und Obrigkeit durch explosive Volksausbrüche zerrüttet werden. Ruhe dünkt dem Untertanen erste Bürgerpflicht. Dem preußischen Funktionär wiederum ist jede spontane Regung suspekt. Er stellt sich die Weltgeschichte als eine Wellenbewegung von generalstabsmäßig organisierten revolutionären Aktionen und konterrevolutionären Tagen X vor, die minutiös ablaufen, wie ein preußischer Eisenbahnfahrplan in der guten alten Zeit oder das Exerzierreglement in den Tagen von Preußens Gloria.

Rosa Luxemburgs geniale Gedanken über die dialektische Wechselbeziehung von Spontaneität und Führung wurden von deutschen Organisationshirnen als Spontaneitätsverherrlichung mitleidig-lächelnd abgetan. Auch Lenin — von Stalin ganz zu schweigen — sprach abfällig über die »Spontaneitätstheorie« der von ihm so sehr geschätzten Rosa.

Nicht deshalb nenne ich den 17. Juni eine Tragödie, weil er — aus diesem oder jenem Mangel — fehlschlug, unterdrückt werden konnte. Ich bezeichne ihn deshalb so, weil seine Helden, die Massen, genau wie in der klassischen griechischen Tragödie, ihren Untergang gerade mit der Aktion herbeiführten, die ihn hatte verhindern sollen. Sie bewirkten das Gegenteil von dem, was sie bezweckten: Sie zerstörten durch ihre Aktion gerade jenen Ansatz, den sie hatten entwickeln wollen.

Wieder einmal fand mein kleiner Freundeskreis sich weit zurückgeworfen — weit hinter unseren Ausgangspunkt. Wieder einmal wollte der Stein gehoben sein. So unfruchtbar der politische Ausgang des 17. Juni war, so schöpferisch wirkte er auf alle ein, die sich das Denken noch nicht abgewöhnt hatten. Hier war etwas geschehen, das zur theoretischen Analyse herausforderte.

Wie sollten wir dieses neuartige Phänomen interpretieren?

Damals begann Robert Havemann über das Problem der Spontaneität tiefer nachzudenken. Zwölf Jahre später, in seinem bekannten »Spiegel«-Artikel, der ihm so viel Ungemach eintrug (»Plädoyer für eine neue KPD«, Spiegel Nr. 55, 22. Dezember 1965) schrieb er, sicher auch im Gedenken an den 17. Juni: »Die schöpferische Kraft der Spontaneität der Volksmassen, aber auch ihre Blindheit und Ohnmacht sind Fragen, die uns heute nicht weniger beunruhigen als vor fünfzig Jahren Rosa Luxemburg.«

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus Heinz Brandt: Ein Traum der nicht entführbar ist - Mein Weg zwischen Ost und West, Westberlin 1977, S. 227-247

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