Kontrovers, aber erfrischend
Berliner Initiative schiebt Diskussion um Neugruppierung der radikalen Linken an

Von Rainer Balcerowiak

06/11

trend
onlinezeitung

Es geht ein Gespenst um in der radikalen deutschen Linken. Gefühlte zwei Dutzend Gruppen und Initiativen beschäftigen sich mit der Organisationsfrage, nicht selten verbunden mit dem Anspruch, selbst bereits den Kern der künftigen Avantgarde darzustellen.

Mit einem 35seitigen Papier haben sich vor einigen Wochen auch fünf gestandene Berliner Aktivisten auf dieses Terrain begeben, allerdings ohne unmittelbar eine Parteigründung vorzubereiten. Die Thesen der »Sozialistischen Initiative Schöneberg« haben – besonders im Internet – ein lebhaftes Echo ausgelöst. Eingefordert wird »eine solidarische und kontroverse, ergebnisoffene und zielgerichtete Debatte« über den Aufbau einer antikapitalistischen Organisation. Als »unverhandelbar« definiert die Gruppe: 1. Konzept des revolutionären Bruchs; 2. Keine Mitverwaltung der kapitalistischen Krise; 3. Klassenorientierung; 4. Einheitsfrontorientierung; 5. Organisatorische Verbindlichkeit. Rund 40 Menschen folgten am Mittwoch trotz Unwetters der Einladung zu einer Diskussionsveranstaltung über die Thesen in der Berliner Mediengalerie.


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Für die Initiative stellte Michael Schilwa einleitend klar: »Wir gründen nichts und wollen auch nichts gründen.« Aber man wolle sich in die Diskussion um die Organisationsfrage einbringen. Generell gelte, daß Kollektive »handlungs- und reflexionsfähiger« seien als Individuen. Schilwa räumte ein, daß das Klassenbewußtsein in Deutschland derzeit schwach entwickelt sei und soziale Auseinandersetzungen kaum über das Niveau von Abwehrkämpfen hinauskämen. Doch wenn die radikale Linke keine umfassende politische und organisatorische Antwort auf die rasant zunehmende Prekarisierung der Erwerbsarbeit finde, »dann sieht es finster aus«. Die Organisationsfrage könne keinesfalls auf die lange Bank geschoben werden, da es absehbar sei, daß die »Bruchlinien in der Partei Die Linke nicht mehr zu kitten sein werden«.

Karl-Heinz Schubert vom Internetportal trend.infopartisan entgegnete, die Initiative sei ein »völlig substanzloser Organisationsversuch«. Revolutionäre Parteien seien zwar immer auch Avantgarde, basierten aber auch auf relevanten gesellschaftlichen Strömungen, die nicht nur Kämpfe um Teilhabe, sondern gegen die kapitalistische Verwertungslogik mit umfassender gesellschaftlicher Utopie führen. Davon sei man weit entfernt. Im Gegenteil: »Arbeitslose kämpfen um Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt, Beschäftigte um ›gerechte‹ Löhne, Mieter um sanftere Mieterhöhungen.« In diesem Umfeld sei eine Parteigründungsdebatte »reine Fiktion«. Schubert erinnerte an die vielfältigen gescheiterten Parteigründungsversuche in der BRD im Gefolge der Studentenrevolte Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Es folgte eine kontroverse, aber erfrischend sachliche Diskussion. Ein Teilnehmer bemängelte, solange Grundfragen wie die Haltung zu EU und Euro und der Zusammenhang zwischen Ökologie und sozialer Emanzipation in der radikalen Linken nicht geklärt wären, sei es »Unfug, über Parteibildung oder gar Aufbau zu diskutieren«. Lucy Redler von der Sozialistischen Alternative (SAV) sieht derzeit keine Basis für den Aufbau einer revolutionären Organisation, da es in der Klasse keine »Aufbruchstimmung« gebe. Andere Diskutanten, meist Vertreter von linken Gruppen, begrüßten dagegen die Inititiative. Die radikale Linke müsse »gesellschaftlich wahrnehmbar« werden, ihre reine Beobachterrolle und das Zirkelwesen überwinden, war der Tenor vieler Beiträge. Der Stein ist jedenfalls ins Rollen gekommen, die Debatte wird weitergehen.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien am 24.6.2011 in der Onlineausgabe der JUNGEN WELT. Wir spiegelten von dort.