Zehn Punkte, über die wir diskutieren sollten
Noch einmal zum Thema Neue Antikapitalistische / Revolutionäre Organisation

von Detlef Georgia Schulze

06/11

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Kürzlich hatte die Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg, ein Diskussionskreises um Michael Prütz (1, 2, 3, 4; vgl. 5) und Michael Schilwa (1, 2, 3), an verschiedenen Stellen im Netz ein Papier mit dem Titel „Neue Antikapitalistische Organisation? Na endlich! Worüber müssen wir uns verständigen und worüber nicht“ veröffentlicht (u.a. trend 3/2011 [ii]). Plädiert wird für eine „solidarische und kontroverse, ergebnisoffene und zielgerichtete Debatte“ zwischen „‚Marxismus’ und ‚Autonomie’, Links-Sozialisten / Links-Kommunisten und Bewegungslinke“. Ich selbst hatte bereits in meinem blog Theorie als Praxis zu fünf Aspekten des Papiers, insbesondere zu den Ausführungen zum Geschlechterverhältnis [iii], Stellung genommen, was eine einigermaßen angeregte Diskussion auslöste. –

Im folgenden möchte ich – anknüpfend an den Untertitel des Papiers der Sozialistischen Initiative – einen Vorschlag zur Strukturierung der weiteren Debatte über jenen Organisierungsvorschlag unterbreiten. Meines Erachtens handelt es sich um zehn Punkte, die vorrangig diskutiert werden sollten.

Frank Braun hatte bei scharf-links vier zu diskutierende Punkte genannt: 1. Auswertung bisheriger Organisierungsprojekte (insb. Linkspartei und Interventionistische Linke); 2. Neue Organisation oder erst einmal nur Netzwerk?; 3. Analyse – Strategie – Taktik; 4. Erweiterung des Kreises der Anzusprechenden.

Ich greife meinerseits Nr. 4 gleichfalls als Nr. 4 auf (Wer/welche soll/en mitmachen?), Nr. 3. als Nr. 7 (Zu Lageanalyse und Strategie) und Nr. 2 als Nr. 10 (Zum weiteren Vorgehen) auf. Der erste der von Frank Braun genannten Punkte scheint mir in dieser Form dagegen im hiesigen Zusammenhang nicht von vorrangiger Bedeutung zu sein, da ich von der pessimistischen Einschätzung ausgehe, daß sich auf absehbare Zeit weder größere Teile der Linkspartei-Linken noch der Interventionistischen Linken dem vorgeschlagenen Projekt anschließen werden, was sich – leider – auch durch Formulieren einer elaborierten Kritik an der IL oder der x.ten Kritik an der Linkspartei nicht ohne weiteres ändern lassen wird. Dafür müßte vielmehr eine überlegene, wahrnehmbare politische Praxis entfaltet werden.

Was m.E. eher dargelegt werden müßte, ist, was denn – bei aller kommunistischen Kritik und autonomen Selbstkritik – an Szene- und Bewegungs-Strukturen richtig bleibt. Es müßte m.E. also glaubhaft gezeigt werden, daß es bei dem vorgeschlagenen Projekt – anders als es jedenfalls faktisch bei den meisten K-Gruppen der 70er Jahre (mit teilweiser Ausnahme des KB und vielleicht auch der GIM) der Fall war – nicht um ein Zurück hinter ’68, sondern um ein über ’68 und auch über die sog. Neuen Sozialen Bewegungen der 80er und auch über die eher theoretischen als politischen Innovationen der 90er Jahre in Sachen De-Konstruktivismus (vgl. 1 und 2) usw. hinaus geht. – Ich gehe darauf im Abschnitt 9. Aktive Mitarbeit / Organisationsstrukturen / Arbeitsweise (S. 27) ein. 

Übersicht:

1. Warum „Organisation“?

2. Nur antikapitalistisch? Oder allgemein revolutionär? (Zum Verhältnis von Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus)

3. Verhältnis zu bestehenden linken Organisationen

a) Linkspartei
b) DKP, MLPD u.a.
c) SPD, Grüne
d) Aktionseinheit – Einheitsfront

4. Wer/welche soll/en mitmachen?

a) Aus dem feministischen Spektrum
b) Aus dem Bereich antirassistischer sowie migrantischer und Flüchtlings-Organisierung
c) Aus dem trotzkistischen Bereich
d) Aus dem Bereich der (post-)autonomen, (post-)antiimperialistischen Szene
e) Gruppen, die in Tradition der sog. „rechten“ Opposition gegen die „Sozialfaschismus“-These der KomIntern stehen
f) Linkspartei-KritikerInnen, insb. aus dem ehemaligen WSAG-Spektrum
g) Reste der maoistischen ML-Bewegung

5. Für eine Organisation von RevolutionärInnen? Oder für eine gemeinsame Organisation von RadikalreformerInnen/GradualistInnen und RevolutionärInnen? (Verhältnis zu IL und isl)

6. Revolutionär oder speziell marxistisch? / Verhältnis zum Anarchismus

7. Zu Lageanalyse und Strategie

a) Wessen Krise?
b) Kein zurück zum Fordismus! – Vorwärts zum Sozialismus jetzt?!
c) Die Volksbewegungen im Mittelmeerraum
d) Zum Problem der ökonomischen und politischen Spaltung der Lohnabhängigen
8. Reizwörter und Reizthemen
a) „Antideutsche“ – „Antiimperialisten“
b) Stalin
c) Diktatur des Proletariats
d) Avantgarde

e) Demokratischer Zentralismus
f) Gewaltfrage
g) Kopftuch

9. Aktive Mitarbeit / Organisationsstrukturen / Arbeitsweise

a) AktivistInnen- oder Karteileichen-Organisation?
b) Das Private ist politisch: Organisation – Szene/Milieu – Bewegung
c) Nicht-klandestin oder halb-klandestin
d) Inner-organisatorische Demokratie

10. Zum weiteren Vorgehen

 

1. Warum „Organisation“?

Die zentrale Frage, die ein Vorschlag, eine neue – sei es speziell antikapitalistische, sei es allgemein revolutionäre – Organisation zu gründen, beantworten muß, ist: Warum überhaupt eine Organisation? Wofür ist eine Organisation (im Unterschied zu lockeren Organisationsformen) nützlich?

Der Text der Sozialistischen Initiative Berlin-Schöneberg scheint die Antwort auf diese Frage als selbstverständlich vorauszusetzen, denn er nimmt nicht explizit dazu Stellung.

In Anbetracht dieses Schweigens möchte ich eine Formulierung zur Diskussion stellen, die ich anläßlich der dokumentarischen Wiederveröffentlichung des „Ich sag’, wie’s ist“-Papieres von 1988 aus der autonomen Szene gewählt hatte:

„Ich würde den AutorInnen im Kern Recht geben – auch wenn die Begrifflichkeit von ‚Kaderorganisation’, ‚demokratischer Zentralismus’, ‚Zellenprinzip’ und ‚Avantgardeanspruch’ schon damals – und heute erst recht – einen etwas altbackenen Klang hat(te). Mit der angeratenen sprachlichen Modernisierung würde ich sagen: Auch heute ist eine Organisation zumindest potentiell politisch wirksamer als bloße autonome Kleingruppen. Sie kann – (eine entsprechende Praxis vorausgesetzt) Wirksamkeitsgrenzen überschreiten, die Kleingruppen oder spontane Bewegungen per se (auch bei der besten Praxis) nicht überschreiten können. Eine kollektive, übergreifende und kontinuierliche Weiterentwicklung von theoretischer und politischer Praxis beinhaltet die Chance, zu besseren Ergebnissen zu kommen. Dies zu erreichen, sollte in der Tat der Anspruch einer solchen Organisation sein – und damit ist dann auch verbunden, in Bewegungen nicht einfach nur mitzuschwimmen, sondern zu versuchen, orientierend zu wirken. Ob derartige Vorschläge dann auch akzeptiert werden – ob also die prätendierte Avantgarde auch tatsächlich Avantgarde ist –, steht dann allerdings auf einem anderen Blatt (wie in dem dokumentierten Text auch schon erkannt wurde). Und eine solche Organisation bedarf auch demokratisch strukturierter verbindlicher Entscheidungsfindung.“

Speziell zu den Fragen des „demokratischer Zentralismus“ und des „Avantgardeanspruch[s]“ siehe unten die Punkte Nr. 8.c) und d). 

2. Nur antikapitalistisch? Oder allgemein revolutionär? (Zum Verhältnis von Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus)

Die nächste Frage, die geklärt werden müßte, lautet: Welche grundlegenden Ziele soll die Organisation anstreben bzw. welche ihrer Ziele soll sie als grundlegend ansehen?

Die Sozialistische Initiative hat dazu einen klaren Vorschlag gemacht, indem sie bereits in der Überschrift ihres Papiers von einer (und zwar insoweit ausschließlich) „antikapitalistischen“ Organisation spricht. Auch im Text nehmen die Autoren eine klare Schwerpunktsetzung vor: „ArbeiterInnen sind […] als Mehrwertproduzenten […] die einzigen, die die Herrschaft des Kapitals unmittelbar und direkt in Frage stellen (können).“ / „Die LohnarbeiterInnenklasse ist nach wie vor das ‚eine’ revolutionäre Subjekt“.

Sie setzen dies implizit den beiden Positionen entgegen, die (laut Grundsatzpapier von 2004) innerhalb von „Avanti. Projekt undogmatische Linke“ vertreten werden:

Die eine Position begreift Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus als grundlegende Strukturen, die unsere heutige Gesellschaft wesentlich organisieren. […]. Sie sind miteinander verwoben, unterstützen sich gegenseitig und widersprechen sich auch manchmal. Alle drei Unterdrückungsformen sind gleichwertig. Wesentlich dabei ist, sowohl den Macht- und Herrschaftsstrukturen die ökonomischen und materiellen Grundlagen zu entziehen, also die geschlechtsspezifische und internationale Arbeitsteilung (bzw. Ausbeutung) aufzuheben und die Produktionsmittel zu vergesellschaften, als auch sich gegen deren kulturelle Ausformungen zu richten. Die andere Position sieht in Kapitalismus und Patriarchat die beiden Grundwidersprüche unserer Gesellschaftsordnung. Eine Gesellschaft, die durch das Privateigentum an Produktionsmitteln und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung an ihrer ökonomischen Basis auf Spaltung und Konkurrenz beruht, bringt auch in ihrem politischen, kulturellen und ideologischen Überbau Ausgrenzungsmechanismen und Herrschaftsstrukturen wie z.B. den Rassismus hervor.“ (S. 31 – Hv. i.O.)

Ich teile meinerseits die erstgenannte Avanti-Position. [1] 

3. Verhältnis zu bestehenden linken Organisationen

Jedes Organisationsprojekt, das Erfolgschancen haben will, wird sich zu den bereits existierenden Organisationen ins Verhältnis zu setzen zu haben. Dies betrifft zum einen das Verhältnis zu den Organisationen, die außerhalb der evtl. neu zu gründenden Organisation bleiben sollten oder dies wahrscheinlich bleiben werden (dazu sogleich). Zum anderen betrifft dies die Organisationen und Gruppen, die nach Möglichkeit in das neue Projekt einbezogen werden sollten (s. dazu sogleich Punkt 4.). 

a) Linkspartei

Hinsichtlich der Linkspartei werden in dem Papier der SI Schöneberg, wie mir scheint, drei Eckpunkte benannt: Es soll um eine organisatorische, aber auf absehbare Zeit nicht: wahlpolitische [2]) Alternative zur Linkspartei gehen; es soll auch nicht um ein Bewegungsanhängsel der Linkspartei bzw. gar einer rot-rot-grünen Regierung gehen; aber die Linkspartei soll auch nicht zum neuen Hauptfeind erkoren werden. Diese Eckpunkte lassen sich m.E. aus folgenden Sätzen des Papiers herauslesen, und ich bin mit ihnen einverstanden.

Ø      „wenn wir nicht oder nicht gut genug erklären können, warum AntikapitalistInnen bei uns und nicht bei der LINKEN mitmachen sollen, können wir gleich wieder einpacken.“

Ø      „Wenn das Konzept der ‚Mosaik-Linken’ so aussieht, dass die einen in der Regierung ‚Sachzwänge’ exekutieren und die anderen auf der Strasse dagegen protestieren und hinterher setzen wir uns zusammen und reden mal drüber – dann sollten wir uns von derartigen Veranstaltungen lieber fernhalten.“

Ø      „Auch wenn es nervt, wir sagen es noch mal, eine unsektiererische Politik gegenüber der LINKEN wird die erste und größte Herausforderung für das neue Projekt, so es denn tatsächlich an den Start geht. Natürlich treten wir in Konkurrenz zur LINKEN (sonst bräuchten wir ja gar nicht loslegen), aber nach unserer festen Überzeugung muss das neue Projekt glaubhaft rüberbringen, dass es sich um eine sozusagen ‚solidarische Konkurrenz’ handelt.“ 

b) DKP, MLPD u.a.

aa) Zur DKP macht das Papier der SI Schöneberg nur eine kurze Bemerkung, auf die unten in dem Abschnitt zur Stalin-Frage zu sprechen kommen sein wird.

Ich möchte ergänzend nur darauf hinweisen, daß die DKP wohl weiterhin – wenn auch auf sehr niedrigem Niveau – eine Mitglieder- und keine AktivistInnenpartei ist. Dies scheint mir mit der für eine Neugründung vorzuziehende Struktur unvereinbar zu sein. M.E. wäre also in Richtung von individuellen Doppelmitgliedschaften und nicht in Richtung von Fusion/Komplett-Übernahme des Mitgliederbestandes zu überlegen.

bb) Auf die MLPD geht das SI-Papier gar nicht (explizit) ein. Abgesehen von der inhaltlichen Ausrichtung, scheint mir auch deren Propaganda-Stil untunlich für das in Rede stehende Neugründungs-Projekt zu sein.

cc) Auch Zeitschriftenprojekte wie Gegenstandpunkt und Krisis scheinen mir für das vorgeschlagene Projekt nicht in Betracht zu kommen. Stehen deren theoretischen Positionen auch qualitativ höher als die der MLPD, so kennzeichnet sie doch eine im vorliegenden Zusammenhang unbrauchbare Politikferne und ein teilweise sektiererisches Diskussionsverhalten und ein hermetischer Schreibstil, für die insoweit das gleiche gilt: jedenfalls für politische Praxis ungeeignet.

Mit derartigen Gruppen sollte m.E. allerdings dessen ungeachtet eine Kooperation in Form der Teilnahme an gleichen Demonstration, ggf. auch in Form der gemeinsamen Organisierung von Diskussionsveranstaltungen u.ä. möglich sein. 

c) SPD, Grüne

Letzteres gilt genauso auch für SPD und Grüne, so auch die Papier-Autoren von der Sozialistischen Initiative: „Das heißt allerdings nicht, SPD und GRÜNE aus Aktionseinheiten auszugrenzen.“ In Anbetracht deren heutiger politischer Linie sind allerdings kaum mehr in Betracht kommende Anlässe abzusehen als Anti-AKW- und Antifa-Demos. 

d) Aktionseinheit – Einheitsfront

Darüber hinaus sehen die Papier-Autoren in Bezug auf die Linkspartei die gesteigerte Zusammenarbeitsform der „Einheitsfront“ vor: „Auf wen bezieht sich die oben dargelegte Orientierung? Natürlich auf die LINKE und den DGB, aber natürlich nicht auf SPD und GRÜNE, die spätestens seit ihrer ‚Agenda-Politik’ (wir brauchen das nicht auszuführen) gewöhnliche bürgerliche Parteien geworden sind.“

Was organisatorisch genau den Unterschied zwischen Aktionseinheit und Einheitsfront ausmacht, scheint mir – wie in meinem blog-Beitrag (Anmerkung 3.) dargelegt – erläuterungs- und ggf. diskussionsbedürftig zu sein. Falls es tatsächlich Sinn hat, an einer Unterscheidung zwischen „Aktionseinheit“ und „Einheitsfront“ festzuhalten, wäre m.E. des weiteren zu diskutieren, ob sich das „Einheitsfront“-Angebot nur an DGB und Linkspartei oder auch an Gruppen der in Abschnitt 3.b) genannten Art zu richten hätten. Jedenfalls die unten in Abschnitt 5. genannten Gruppen wären m.E. in solche eine privilegierte Zusammenarbeit einzubeziehen. 

4. Wer/welche sollen mitmachen?

Das SI-Papier nennt nur eine Gruppe explizit, die sich nach Ansicht der Autoren an dem Organisationsgründungsprojekt beteiligen sollte: Das schon erwähnte Avanti-Projekt. Das scheint mir in Anbetracht dessen, daß diese Struktur einen etwas verbindlicheren Organisierungsansatz als der Rest der Interventionistischen Linken (IL) [3], zu der Avanti gehört, zu verfolgen scheint, eine angemessene, aber bei weitem nicht ausreichende Orientierung zu sein.

Frank Braun von der Sozialistischen Kooperation wandte bei scharf-links diesbzgl. außerdem ein: „[…] gerade die Gruppe ‚Avanti’ hatte sich ja seinerzeit bewußt aus dieser Tradition von Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung abgeseilt und in der besagten Grundsätzerklärung wird sich konsequent um das Thema ‚Klassenkampf in seinen zeitgemäßen Formen’ herumgemogelt. Wie dieser positive Spezialbezug auf die Gruppe ‚Avanti’ zu erklären ist, das werden die Autoren in einem späteren Aufschlag sicher noch erläutern, da sie ja ohnehin, wie sie selbst schreiben, nicht schon Pflöcke einschlagen wollten.“

Mir scheint zwar zweifelhaft zu sein, ob von „abgeseilt“ zu sprechen ist, denn, wenn ich recht sehe, kommt diese Gruppe ja nicht aus der ArbeiterInnenbewegungs-Tradition, sondern ist aus einem Selbstkritik-Prozeß in der autonomen Szene entstanden. Auffällig ist allerdings in der Tat, daß die Wörter „Klassenkampf“ und „Gewerkschaften“ in deren knapp 100-seitigen Grundsatzpapier genau drei- bzw. viermal – und das in eher beiläufigen Weise – vorkommen. Allerdings scheint mir dies kein vorab-Unvereinbarkeitskriterium zu sein, sondern ein Punkt der, wie andere Fragen auch, diskutiert werden muß. Immerhin wird das Privateigentum an den Produktionsmitteln und das Ziel, dieses zu überwinden, in dem Papier öfters erwähnt. –

Ich denke, es wären – über die Papier-Autoren und Avanti hinaus – folgende Beteiligungen an dem Diskussionsprozeß anzustreben; inwieweit sich dann inhaltliche Einigungen erreichen lassen, wird sich zeigen müssen: 

a) aus dem feministischen Spektrum

Wie schon anhand der Anmerkungen in meinem blog deutlich geworden sein sollte, halte ich eine relevante feministische Beteiligung für unabdingbar für einen Erfolg des Projektes. Dort schrieb ich: Eine „Chance auf eine […] gesellschaftliche Dynamik besteht allenfalls mit einer revolutionären Organisation, die sich nicht auf Antikapitalismus konzentriert, sondern auch in Sachen Feminismus und Antirassismus (sowie Ökologie, die aber kein eigener gesellschaftlicher Widerspruch ist) auf der Höhe der Zeit / dem Stand der Diskussion ist.“

Nun existiert allerdings eine ganze Reihe von Hindernissen, die der Realisierung dieses Ziels im Weg stehen:

1. Die aller meisten MarxistInnen sind in diesen Fragen nicht auf dem Stand der Debatte, was allein schon einer produktiven – wenn auch kontroversen – Debatte entgegensteht.

2. Das Verhältnis zwischen Feministinnen und MarxistInnen ist immer noch von der Nebenwiderspruchs-Debatte der 70er Jahre belastet. Für Feministinnen ist es logischerweise nicht attraktiv, in einer Organisation mitzuarbeiten, die mehrheitlich den Geschlechterwiderspruch als Nebenwiderspruch ansehen würde.

3. Feministische Organisierung hat – mit Ausnahme der Feministischen Partei Die Frauen und feministischen Strukturen innerhalb der Grünen in den 80er und frühen 90er Jahren – eher Ähnlichkeiten mit den Organisationsformen der linksradikalen Szene als denen von (nicht nur theoretisch, sondern auch politisch aktiven) MarxistInnen. Dies macht es schwer, kontinuierlich eine spezifische Position vertretende Gruppen zu identifizieren und ggf. anzusprechen.

4. Die internen Fraktionierungen der Frauenbewegung (Gleichheit – Differenz – Dekonstruktion; Heteras – Lesben – queers; Separatismus; etc.) verlaufen häufig entlang anderer Frontlinien als innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, auch wenn sich die Kontroverse zwischen Gleichheits- und Differenzfeminismus mit der zwischen Sozialdemokratismus („Volkspartei“, „Sozialpartnerschaft“) und Arbeitertümelei sowie die zwischen Autonomie und Institution mit der zwischen Linksradikalismus, Marxismus und Sozialdemokratismus vergleichen lassen. Bestimmte Fraktionen von Feministinnen können also (intern) ähnliche Auffassungen in Bezug auf das Geschlechterverhältnis vertreten, aber zu den Kontroversen zwischen Bakunin und Marx, Bernstein und Luxemburg, Spontis und ML-lerInnen oder auch Grünen und Autonomen gänzlich unterschiedlicher oder gar keiner Meinung sein. Auch dies macht es schwierig, potentielle Ansprechpartnerinnen zu identifizieren.

5. So wie die Linke im allgemeinen und MarxistInnen im besonderen seit 1989 massiv geschwächt wurden, ist auch unter den Feministinnen der Anteil derjenigen mit Bezug zum Marxismus geringer geworden.

6. Auch der Anteil der Feministinnen, die in Bezug auf das Geschlechterverhältnis revolutionäre Positionen einnehmen, ist angesichts von Konzepten wie gender mainstreaming (neoliberale EU-Bürokratie), Geschlechterdemokratie (Grüne) und Geschlechtgerechtigkeit (Linkspartei) und der zweischneidigen Auswirkungen von queer (mit weiteren Literaturhinweisen am Ende) geringer geworden. 

Dies erfordert besondere organisatorische und inhaltliche Anstrengungen, das vorgeschlagene Projekt für Feministinnen attraktiv zu machen:

1. MarxistInnen (und für viele AnarchistInnen gilt das Gleiche) müssen sich auf den Stand der feministischen Debatten der letzten Jahre bringen statt noch einmal die – ohnehin nur erneut und zurecht zu verlierenden – Schlachten der 70er Jahre um den Nebenwiderspruch (FN 5 - 7) zu schlagen.

2. Es müssen feministische Strukturen angesprochen werden, die als solche zwar vielleicht kapitalistischkritisch (oder als Ganzes nicht einmal das) sind, aber nicht im strengen Sinne antikapitalistisch sind, um dort einzelne antikapitalistische Feministinnen zu erreichen.

3. So wie es in der evtl. zu gründenden Organisation insgesamt eine Fraktionsfreiheit (innerhalb der Grenzen des Gemeinsamen geben) muß, muß eine solche relative programmatische Autonomie auch für feministische Strukturen in der Organisation existieren (vgl. immerhin RIO: „Auch innerhalb der revolutionären Linken können […] sexistische Verhaltensweisen reproduziert werden. Deswegen […] treten wir für das Recht von Frauen und auch von sexuellen Minderheiten innerhalb der Arbeiterbewegung und der Linken ein, sich eigenständig zu treffen und zu organisieren, […]“).

4. So wie generell Strukturen für den Austausch mit kritischen SympathisantInnen geschaffen werden müssen (die Avanti-Struktur verfügt über sog. Freundeskreise [S. 87]), müssen – distanzierte – Zusammenarbeitsmöglichkeiten für Feministinnen geschaffen werden, die zwar in Bezug auf das Geschlechterverhältnis einen revolutionären Anspruch vertreten, aber nicht bereit sind in geschlechtergemischten Strukturen mitzuarbeiten oder in Bezug auf die kapitalistische Produktionsweise ein eher diffuses Konzept von „Ökonomiekritik“ vertreten. Vielfach wird überhaupt erst einmal wieder ein Gesprächfaden geknüpft werden müssen, bevor sich halbwegs umfassende gemeinsame inhaltliche Positionen entwickeln und gemeinsame Organisations-Vollmitgliedschaften möglich sein werden.

5. Grüne Konzepte wie 50 %-Quotierung und quotierte Redelisten sowie linksradikale Szene-Konzepte, wie Definitionsmacht (dazu so auch immerhin SoL, S. 30, FN [v]; vgl. außerdem dies), müssen auch in der angestrebten Organisation akzeptiert werden. 

b) aus dem Bereich antirassistischer sowie migrantischer und Flüchtlings-Organisierung

Hier stellen sich ähnliche Probleme wie in Bezug auf die Beteiligung von Feministinnen. Und hinzukommt, daß auch die migrantische Linke längst nicht mehr nur aus GewerkschafterInnen und Auslandssektionen von trikontinentalen ML-Organisationen besteht, und die avancierten Positionen in Sachen Antirassismus sicherlich nicht gerade von letzteren vertreten werden.

Auch hier wird also viel daran hängen, von Anfang an zumindest Diskussions- und Bündniszusammenhänge herzustellen, um zumindest auf den Stand der Debatte zu kommen und die eigene Programmatik entsprechend zu gestalten, auch wenn das vielleicht erst einmal nicht in eine gemeinsame Organisationsperspektive und d.h. Mitgliedergewinn mündet. 

c) aus dem trotzkistischen Bereich

aa) die Papier-SchreiberInnen: Sozialistische Initiative Berlin-Schöneberg.
bb) der RSB
cc) die SAV.

Die Positionen der Gruppe Revolutionär Sozialistische Organisation (RSO) kenne ich nicht gut, aber jedenfalls legen sie ja selbst – wie auch in dem Papier der Schöneberger zitiert wurde – gerade Wert auf ihre organisatorische Eigenständigkeit, u.a. gegenüber der SAV, obwohl diese ihnen noch relativ nahesteht, wie sie selbst schreiben. [4]

Die Positionen von RIO kenne ich ebenfalls nicht hinreichend, da sie aber zusammen mit anderen marxistischen, auch nicht-trotzkistischen, Gruppen sowie verschiedenen Szene-Gruppen am Berliner Klassenkampfblock-Bündnis, der diesen 1. Mai zum dritten Mal zur Teilnahme sowohl an der morgendlichen DGB- als auch abendlichen Szene-Demo aufrief, beteiligt oder mit diesem verbunden sind (s. die dortige Verlinkung in der rechten Randspalte unter „Politische Gruppen“), könnten sie für ein solches Projekt vielleicht durchaus in Frage kommen. In dem Papier der SI Schöneberg wird an RIO kritisiert: „Auf der LL-Demo 2011 skandierten die GenossInnen von RIO den (aktuell ergänzten) Klassiker: ‚Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer war mit dabei? Die Linkspartei!’ Klingt hübsch, ist aber total dämlich.“ – Ich halte meinerseits zwar auch nichts von Verrats-Vorwürfen (1. Jede Aufgabe auch von falschen, ehemaligen Positionen ist gewissermaßen ein ‚Verrat’. 2. Was haben denn SPD und Linkspartei ‚verraten’? An welchem Maßstab werden sie denn mit der Parole gemessen? Am Maßstab des Godesberger Programms?); allein diese Demo-Parole würde es mir aber nicht unsinnig erscheinen lassen, dennoch in einen gemeinsamen Diskussionsprozeß einzutreten. 

d) aus dem Bereich der (post-)autonomen, (post-)antiimperialistischen Szene

aa) die von den Papier-SchreiberInnen genannte Avanti-Struktur
bb) die Perspektive-Gruppen in Berlin, Hamburg und Stuttgart
cc) die in Hamburg und Nordrhein-Westfalen existierende – und nicht mit der gleichnamigen Strömung innerhalb der Linkspartei zu verwechselnde – Organisation Sozialistische Linke.
dd) etwaige (weitere) Überbleibsel aus dem Teil des alten antiimperialistischen Spektrums, das die neue RAF-Politik nicht unterstützt(e), sowie Gruppen und Einzelpersonen, die in der Tradition (autonom-kommunistischer) Selbstkritik der linksradikalen Szene (einschl. Lupus-Gruppe Frankfurt/M., die allerdings – wenn ich recht sehe – nicht auf den Begriff „Kommunismus“ Bezug nahm) stehen.

Darüber hinaus gibt es in der Szene teilbereichs-bezogene bundesweite oder lokale vergleichsweise verbindliche Organisierung, insb. in den Bereichen Antifa und Antirepression. Wenn ich den Vorschlag der SI Schöneberg richtig verstehe, schlägt diese aber eine allgemein-politische Organisation vor, was auch das ist, was mich anspricht. Das heißt, daß derartige Teilbereichs-Organisationen und Gruppen m.E. in die vorgeschlagene neue Organisation jedenfalls nur dann aufgehen könnten, wenn sie darauf verzichten, daß ihr jeweiliger Teilbereich im Organisationsnamen auftaucht.

Eine andere, gesondert zu diskutierende Frage wäre, wenn derartige Gruppen Interesse hätten, der evtl. zu gründenden Organisation nahestehende ‚Massenorganisationen’ für den jeweiligen Teilbereich zu werden. Das müßte zumindest unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen inhaltlichen Kriterien und unter dem Gesichtspunkt eines Gruppen-Pluralismus im jeweiligen Teilbereich diskutiert werden (Sollten mehrere Gruppen für den gleichen Teilbereich den ‚nahestehend’-Status bekommen? Oder sollten diese fusionieren und einen internen Fraktionspluralismus sicherstellen?). 

e) Gruppen, die in Tradition der sog. „rechten“ Opposition gegen die „Sozialfaschismus“-These der KomIntern stehen

aa) Gruppe Arbeiterpolitik
bb) Gruppe Arbeiterstimme.

f) Linkspartei-KritikerInnen, insb. aus dem ehemaligen WSAG-Spektrum

Ich befürchte, daß ein Großteil dieser Linkspartei-KritikerInnen (hier gemeint i.S.v. ehemaligen und noch-Mitgliedern der Linkspartei und deren Vorläufern WASG und PDS) für das vorgeschlagene Projekt nicht in Betracht kommt, da sich ein erheblicher Teil deren Kritik aus einem inhaltlich nicht ausgewiesenen ‚gute Basis versus böse Funktionäre’-Gegensatz speist (eine Haltung die – entsprechend – schon die Grünen Fundis der 80er charakterisierte, und auf die sich politisch wenig bauen ließ).

Wünschenswert erschiene mir aber die Einbeziehung der oben schon erwähnten Sozialistischen Kooperation, einem Zusammenschluß mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen, der in etwa zeitgleich mit der Veröffentlichung des Prütz-Papieres zur Bildung eines „Antikapitalistischen Pols“ aufrief:

„Im Rahmen dieser grob skizzierten Zielsetzungen streben wir eine Kooperation bereits existierender antikapitalistischer, jedoch meist zersplitterter Kräfte an. Es gilt, einen gesellschaftlich wahrnehmbaren antikapitalistischen Pol aufzubauen, der die solidarische Debatte zur Lösung anstehender Fragen pflegt und darüber hinaus gemeinsame Kampagnen und Initiativen voranbringt. Dabei erwarten wir keinen ‚Bruch’ und auch kein ‚Abschwören’ von der eigenen biografischen Vergangenheit oder organisatorischen Bindungen. Jede/r ist willkommen, der/die sich solidarisch einbringen.“

Was ich aus dem linkeren Linkspartei-Spektrum (+ Umfeld), in dem Fall der Bildungsgemeinschaft SALZ, in letzter Zeit – inhaltlich in dem einen und taktisch in dem anderen Falle – ansprechend fand, waren die Einladung zu einer Ökosozialismus-Konferenz in Kassel (1, vgl. 2) und die Erklärung von Angehörigen der gleichen Struktur zur letztjährigen NRW-Wahl (vgl. von mir zum gleichen Thema: 1 und 2). Ob und ggf. inwieweit diese Affinität auch organisationspolitisch tragfähig gemacht werden könnte, müßte die weitere Debatte zeigen. 

g) Reste der maoistischen ML-Bewegung

Die in den 1970er Jahren durchaus starken maoistischen Gruppen sind mittlerweile weitgehend von der politischen Bühne verschwunden: KPD/AO und KBW verabschiedeten sich schon früh in Richtung grüner Realpolitik vom Marxismus. Der KB zerfiel nach 1989 in eine Strömung, die ins antideutsche Lager abwanderte, einzelne Mitglieder, die in der PDS (heute: Linkspartei) Funktionen übernommen haben, und den Resten, die den ak (heute: analyse & kritik; früher: Arbeiterkampf) in die ‚neue Zeit’ hinüberretteten, aber eher eine Linie radikaler Bewegungspolitik, als explizit marxistische Politik vertreten. Der BWK löste sich schon in den 1990ern in die PDS auf. Allein der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) und eine Abspaltung von diesem und mehrere kleine Nachfolgegruppen der ehemaligen KPD/ML (langjähriger Vorsitzender: Ernst Aust) scheinen noch zu existieren [5], von denen die KPD/Roter Morgen im 3A-Bündnis, an dem auch die o.g. Perspektive-Gruppen beteiligt sind, beteiligt ist.

Auch, wenn mir die Hauptorientierung des AB gegen den deutschen Imperialismus und die genannte Bündnisarbeit der KPD/Roter Morgen zusagt, bin ich doch nach kursorischem Blick auf die web-Präsensen dieser Gruppen sehr skeptisch (vgl. bspw. das im erste Falle und das [Abschnitt „Statt eines Schlusswortes – die Kernpunkte zur RGO-Strategie“] im zweiten Falle), ob dies für eine gemeinsame Organisationsperspektive ausreicht – was zumindest voraussetzen würde, daß die Gruppen akzeptieren würden, mit den genannten/verlinkten Positionen eine kleine Minderheit in dem etwaigen neuen Projekt zu sein.

Trotzdem scheint mir mit dieser eher erschütternden Bilanz des parteiförmigen oder partei-ähnlichen Maoismus in der BRD keinesfalls das letzte Wort über die theoretischen und politischen Positionen Maos gesagt zu sein, sodaß auch Einzelpersonen und Kleingruppen, die aus maoistischer Tradition kommen, in einer etwaigen neuen Organisation der hier diskutierten Art einen Platz haben sollten. 

Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, gehe ich nicht davon aus, daß es z.Z. möglich ist, alle subjektiv revolutionären Kräfte oder auch nur alle, die nicht nur ihrem Anspruch nach, sondern auch tatsächlich einen Beitrag zu revolutionärer Politik leisten, in einer gemeinsamen Organisation zusammenzufassen. Diese – in Anbetracht einer Vielzahl unterschiedlicher Richtungen von RevolutionärInnen wohl nur allzu realistische – Auffassung bedeutet nicht, jenen ihren revolutionären Anspruch und diesen ihren tatsächlichen Beitrag abzusprechen. Es geht hier nur um das Minimum an darüber hinaus gehender Gemeinsamkeit das erforderlich ist, um gemeinsam in einer Organisation handlungsfähig zu sein (s.u. S. 13).

Spiegelbildlich sollen sich auch alle diejenigen Gruppen und Einzelpersonen angesprochen fühlen, die in diesem Papier nicht namentlich erwähnt sind (sei es aus Platzgründen oder, weil ich sie nicht kenne), aber trotzdem eine Affinität zu den beschriebenen Positionen und Tendenzen haben. 

5. Für eine Organisation von RevolutionärInnen? Oder für eine gemeinsame Organisation von RadikalreformerInnen/GradualistInnen und RevolutionärInnen?

a) Die Papier-Verfasser schreiben – anscheinend auch auf das „Einheitsfront“-Verständnis, das die nach ihren Vorstellungen zugründende Organisation vertreten soll, gemünzt –: „RevolutionärInnen sollten sich deshalb nur an solchen Regierungen beteiligen, die den tatsächlichen Bruch angehen wollen und können, sich also auf revolutionäre Mobilisierungen, Massenstreiks etc. und nicht auf Parlamentsmehrheiten stützen.“ (meine Hv., dg).

Außerdem zitieren die Autoren aus einem Avanti-Text, „Unsere Überzeugung war und ist, dass die heutige Gesellschaft revolutionär verändert werden muss und dass die hierfür notwendige gesellschaftliche Gegenmacht nicht allein aus spontanen Bewegungen bestehen kann, sondern die Beteiligung revolutionärer Organisationen braucht.“ (S. 7 – meine Hv., dg), und fügen dann hinzu: „Wenn Ihr euch jetzt noch traut, ‚Beteiligung’ durch ‚Führung’ zu ergänzen (nicht zu ersetzen!) sind wir uns schon einig.“ (vgl. zum Begriff „Führung“ unten S. 23).

Auch in weiterer Sätzen, wie diesem Satz: „Deshalb muss es u. E. in einer revolutionären Organisation das Recht auf die Bildung von Tendenzen / Plattformen geben, ohne dass das dazu führt, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen.“, spricht die SI Schöneberg von „revolutionäre[r] Organisation“.

Ich gehe danach davon aus, daß es nach den Vorstellungen der Papier-Schreiber um die Gründung einer Organisation gehen soll, die explizit einen revolutionären Anspruch vertritt, und ich finde diesen Vorschlag richtig (wobei nach dem gegenwärtigen Stand der Debatte strittig ist, was diese in Bezug auf die Überdeterminierung von Klassen-, Geschlechter- und Rassenherrschaft und deren Überwindung heißt).

b) An anderer Stelle des Papiers wird – noch deutlicher (?) – „das Konzept des revolutionären Bruchs“ als einer von „5 unverhandelbare[n] Punkte[n]“ bezeichnet, wobei mir aber nicht ganz klar, ob dies ausschließlich heißen soll, daß die Verfasser nicht bereit sind (für sich) von diesen Punkten abzugehen, oder daß diese fünf Punkte Konsens in der eventuell zu gründenden Organisation sein sollen. Jedenfalls bin ich selbst der Ansicht, daß ein revolutionärer Anspruch dahingehend konkretisiert werden muß, daß deutlich gesagt wird, daß

Ø      eine Revolution zwar kein einmaliger Akt, sondern ein Prozeß ist, daß dieser Prozeß aber einen Bruch einschließen muß; daß früher oder später in diesem Prozeß (so er denn überhaupt stattfindet) die „Machtfrage“ auf den Tisch kommt.

Ø      folglich ein revolutionärer Anspruch und eine revolutionäre Praxis von Konzeptionen der bruchlosen Anhäufung von graduellen Veränderungen, wie sie sowohl in autonomen „Freiraum“-, spät-RAF-lerischen „Gegenmacht“- und links-linksparteilichen „Transformations“-Konzeptionen in (je unterschiedlicher Weise) artikuliert werden, zu unterscheiden sind. Streben derartige Konzeptionen zwar – ebenso wie revolutionäre – eine qualitative (d.h.: nicht nur reformerische) Gesellschaftsänderung an, so setzten sie doch auf eine untaugliche – da machtpolitisch naive – politische Strategie.

c) Damit scheint allerdings eine Beteiligung des Mittelspektrums zwischen Linkspartei- und Bewegungs-mainstream (isl, IL) einerseits sowie RevolutionärInnen (und Linksradikalen) andererseits an dem neuen Projekt ausgeschlossen zu sein, sofern das Mittelspektrum

Ø      nicht auf explizit revolutionäre Positionen übergeht

bzw.,

Ø      soweit es sie eh schon einnimmt, in Zukunft weiterhin nicht bereit sein sollte, sie offensiv in sozialen Bewegungen, Bündnissen usw. zu vertreten (wenn auch nicht zur Bündnisvoraussetzung zu machen).

Denn die isl charakterisiert sich zwar selbst als revolutionär, aber die von ihr angestrebte Neuformulierung der Linken soll anscheinend breiter angelegt sein: „In einer möglichen neuen Kraft der Zukunft werden wahrscheinlich viele mitmachen, deren Ausgangspunkt kein revolutionärmarxistisches Selbstverständnis ist wie bei uns.“ (http://www.islinke.de/pdf/isl-extra14.pdf, S. 3 [Randspalte: „Was wir wollen“]). [6]

Die IL tendiert in einem Selbstverständnis-Text von 2008 sogar dahin, den Begriff „revolutionär“ mit als falsch angesehenen Haltungen und Praxen in Verbindung zu bringen, und „antagonistisch“ für die als richtig angesehenen zu verwenden. Der Sprachgebrauch ist allerdings nicht ganz eindeutig. [7] Und die Rede über „Organisierungsprozesse mit antagonistischer Perspektive“ (meine Hv.) macht es schon sprachlich schwierig, über die spezifische Aufgabe von Organisationen für die Wiedergewinnung einer „antagonistischen“ – oder revolutionären – Perspektive zu sprechen. [8] 

6. Revolutionär oder marxistisch? / Verhältnis zum Anarchismus

Zu klären wäre des weiteren, ob die Organisation eine revolutionäre, klassenkämpferische (ggf. auch feministische und antirassistische) Organisation, also auch für klassenkämpferische AnarchistInnen offen sein soll oder ob sie, soweit es den Klassenkampf anbelangt, speziell eine marxistische sein soll.

Ich sehe diesbzgl. (mindestens) drei Problempunkte:

Ø      AnarchistInnen, die nicht für das Konzept der Einheitsfront bzw. der Aktionseinheit auch von oben, also zur Bereitschaft zu Bündnissen nicht nur mit einzelnen ReformistInnen, sondern auch mit reformistischen Organisationen, zu gewinnen sind, kommen m.E. für eine Beteiligung nicht in Betracht.

Ø      Das Gleiche gilt meiner Überzeugung nach für AnarchistInnen, die einen syndikalistischen – also sowohl partei-ähnlichen als auch gewerkschaftlichen – Charakter der evtl. zu gründenden Organisation zur Bedingung ihrer Mitarbeit machen würden.

Ø      Die – auf absehbare Zeit für die politische Praxis nicht entscheidungsbedürftige – Frage eines revolutionären Übergangsstaats könnte dagegen m.E. zurückgestellt werden, solange denn klar ist, daß es jedenfalls eines revolutionären Bruchs mit dem bisherigen Staatsapparat bedarf.

Mir schiene i.d.S. die von einer Anarchistischen Gruppe / Rätekommunisten in einem Text in trend-online 5/11 gefundene Formulierung auf absehbare Zeit ausreichend: „Klar muss uns allen aber sein, dass eine Revolution, die das Ziel hat, alle bisherigen Verhältnisse umzukrempeln, kein friedliches Idyll sein wird. Die ProfiteurInnen des alten Systems werden ihre Entmachtung und Enteignung mit allen Mitteln erst zu verhindern und dann rückgängig zu machen versuchen.“ –

Auch, was diese Rätekommunisten am Ende ihres Textes zu internen Organisationsstrukturen schreiben, scheint mir, so wie sie es dort schreiben, zunächst einmal akzeptabel (genauer dazu unten in Abschnitt 9., S. 29). Bedenken habe ich allerdings insofern, als dieser Text dazu tendiert, die herrschenden Verhältnisse in sehr schwarzer Farbe zu malen und den Massenrückhalt des Systems allein im psychologischen Bereich verortet, sodaß der ganze Text eine etwas psychologistische Schlagseite bekommt. 

7. Zur Lageanalyse

Der nächste Punkt, der für eine politische Organisation – im Unterschied zu einem theoretischen Diskussionskreis oder einem strömungsübergreifenden Zeitschriftenprojekt – unbedingt klärungs- und einigungsbedürftig ist, ist die Einschätzung der aktuellen Lage, weil sich nur daraus Aktionsformen, Parolen und Themen der Massenarbeit in alten und neuen sozialen Bewegungen begründen lassen. [9] Ein gemeinsamer revolutionärer Anspruch im allgemeinen reicht also als Grundlage für die Bildung einer gemeinsamen Organisation nicht aus.

Zwar rechtfertigt der bekannte Marx-Satz, „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“, nicht, auf Theorie-Fragen falsche antworten zu geben (wie sich auch aus Marx’ Nachsatz ergibt [10]), aber er rechtfertigt, Theorie-Fragen offen (unentschieden) zu lassen. Dagegen ist gemeinsame Handlungsfähigkeit in aktuellen politischen Auseinandersetzungen unabdingbar für eine politische Organisation. – Zu klären ist also, von welcher Analyse der aktuellen Lage eine eventuelle Organisation ausgehen soll: 

a) Wessen Krise?

Seit der Finanzmarktkrise seit 2007 sind in der Linken zum Teil sehr optimistische Einschätzungen verbreitet. So hieß es im Aufruf zur revolutionären 1. Mai-Demo 2009 in Berlin: „Der 1. Mai 2009 steht im Zeichen der Krise des Kapitalismus. Es sieht nicht gut aus für die herrschenden Klassen, […].“

Mir scheint dagegen: Es handelt sich weiterhin nicht um eine Krise des Kapitalismus, sondern um eine Krise im Kapitalismus. [11] Und auch für die herrschenden Klassen als gesellschaftliche Gruppen mit einer bestimmten Position in der gesellschaftlichen Struktur sieht es nicht schlecht aus; vielmehr haben einige Mitglieder dieser Klassen einen persönlichen (individuellen) finanziellen Absturz erlebt – aber die Hauptlast der Krise tragen die Lohnabhängigen, ohne daß es dagegen mehr als (regional sehr unterschiedlich verteilten) hinhaltenden Widerstand gibt.

Mir ist dagegen immerhin dieser Teil der Lageeinschätzung des Sozialistischen Initiative Berlin-Schöneberg sympathisch: „Das zugegebenermaßen handwerklich sehr geschickte Krisenmanagement (Abwrackprämie, Verlängerung des Kurzarbeitergeldes, kein Frontalangriff auf die regulär Beschäftigten, sondern auf die Marginalisierten) konnte sich […] nicht nur auf die deutsche Gewerkschaftsbürokratie (insbesondere der IGM), sondern auch auf die Stimmung in vielen Betrieben stützen – ‚Lieber den eigenen Standort sichern als kämpfen’ lautete vielfach die Losung. Und es scheint ja zu funktionieren: Moderate Lohnerhöhungen wie bei VW und Sonderzahlungen wie bei Daimler lassen ein ‚Krisengefühl’ erstmal nicht aufkommen.“

Andere Formulierungen in dem gleichen Papier erscheinen mir aber – wie in meinem blog-Beitrag bereits ausgeführt [12] – als noch zu optimistisch.  

b) Kein zurück zum Fordismus! – Vorwärts zum Sozialismus jetzt?!

In dem Aufruf des Antifaschistisch-antimilitaristischen Aktionsbündnis zum diesjährigen 1. Mai heißt es:

„Aktuell wird von bürgerlichen Medien und Parteien behauptet, die Krise sei überwunden, ein erneuter Aufschwung sei im Gange und alles in allem funktioniere der Kapitalismus wieder hervorragend. […]. Für den Großteil der Weltbevölkerung bleibt das Gerede von Aufschwung und sozialer Marktwirtschaft nichts als reiner Hohn. Der Kapitalismus wird auch zukünftig nicht so funktionieren, wie es uns die bürgerliche Propaganda weismachen will. Dieses System gibt es nicht ohne Krisen, nicht ohne Profitstreben, nicht ohne Zerstörung der Natur, nicht ohne die Zunahme von Armut und nicht ohne die Verschwendung von Ressourcen für Waffen und lediglich aus kommerziellen Beweggründen produzierten Ramsch. […]. Seine Krisenhaftigkeit wird auch zukünftig zu Zuspitzungen des Klassenkampfs von oben führen. Und zu politischen Krisen, in denen sich die verschiedenen Kapitalfraktionen und bürgerlichen Parteien nicht mehr einigen können und sie ihre Unfähigkeit, dieses System in den Griff zu bekommen, offenbaren. Dadurch verlieren sie weiter das Vertrauen der Bevölkerung. […]. Der Sturz der von den imperialistischen westlichen Staaten gestützten Regimes in Nordafrika, haben einmal mehr gezeigt, dass staatliche Krisen auch für fortschrittliche Veränderungen genutzt werden können. […].“

Diese Einschätzung trifft m.E. in mehrfacher Hinsicht nicht die entscheidenden Punkte und dürfte wohl auch eine m.E. falsche strategische Orientierung zur Folge haben.

(Dieser Aufruf wurde u.a. von den drei o.g. Perspektive-Gruppen mitunterschrieben, und ich spreche diese Frage hier an, da mir deren Beteiligung an dem Diskussionsprozeß „Neue Antikapitalistische / Revolutionäre Organisation“ von zentraler Bedeutung zu sein scheint, wenn es dabei um mehr als die Vereinigung einer trotzkistischen und einer autonomen Gruppe gehen soll.)

Im Unterschied zu der zitierten Passage würde ich sagen:

1. Auch nur wenige bürgerliche PolitikerInnen, JournalistInnen oder gar TheoretikerInnen behaupten, daß ein krisenfreier Kapitalismus möglich sei. Das war vielmehr in allererster Linie eine in Teilbereichen der klassischen (vor-neoliberalen) Sozialdemokratie vertretene Auffassung.

2. Die kommunistische Ablehnung der kapitalistischen Produktionsweise speist sich nicht aus der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, sondern daraus, daß die kapitalistische Produktionsweise auch in den Aufschwungphasen Ausbeutung, private Aneignung des Mehrwertes, bedeutet.

3. „Für den Großteil der Weltbevölkerung bleibt das Gerede von […] sozialer Marktwirtschaft nichts als reiner Hohn.“ – Das mag objektiv so sein; nur fordert dieser „Großteil der Weltbevölkerung“ schlechterdings weder den Kommunismus, noch auch nur einen vagen „Sozialismus“, sondern – sofern denn überhaupt etwas gefordert wird – sozialdemokratische „soziale Gerechtigkeit“, also „soziale Marktwirtschaft“.

4. Daher ist m.E. übertrieben, pauschal zu sagen, daß „die verschiedenen Kapitalfraktionen und bürgerlichen Parteien […] weiter das Vertrauen der Bevölkerung“ verlieren. Die sinkende Wahlbeteiligung in vielen Ländern mag darauf hindeuten, aber sie geht auch ansonsten – unabhängig von Wahlen – vielfach mit einer politischen Apathie einher; und für den Fall der Fälle stehen auch noch rechtspopulistische Parteien als bürgerliche Alternative zu den etablierten christ- und sozialdemokratischen sowie liberalen und grünen Parteien bereit. – Und die Umstürze in Nordafrika zeigen in allererster Linie, welche Anziehungskraft die klassen- und geschlechter-indifferente [13] Rede über „Demokratie“ und „Menschenrechte“ vs. „Diktatur“ weiterhin hat.

5. Gleichfalls scheint es mir unzutreffend zu sein, aus der „Krisenhaftigkeit“ des Kapitalismus“ eine „auch zukünftig[e …] Zuspitzungen des Klassenkampfs von oben“ als anscheinend zwangsläufige Konsequenz abzuleiten. Im Gegensatz zur Ansicht, daß die „Kapitalfraktionen und bürgerlichen Parteien […] ihre Unfähigkeit, dieses System in den Griff zu bekommen, offenbaren“, würde ich vielmehr sagen, daß auch heute noch die RAF-Auffassung von 1972 zutreffend ist: „Die politischen Möglichkeiten des Imperialismus sind hier weder in ihrer reformistischen noch in ihrer faschistischen Variante erschöpft, seine Fähigkeiten, die von ihm selbst erzeugten Widersprüche zu integrieren oder zu unterdrücken, nicht am Ende. Das Konzept Stadtguerilla der Roten Armee Fraktion basiert nicht auf einer optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und Westberlin.“

Diese nüchterne Einschätzung sollte m.E. auch dem heutigen Vorschlag, eine nicht-klandestine, speziell antikapitalistische oder allgemein revolutionäre Organisation zu gründen, zugrundegelegt werden. 

Die optimistische Einschätzung des 3A-Bündnisses scheint mir dagegen eine voluntaristisch, linksradikale Strategie zur Folge zu haben. Zwar wird richtig gesagt: „die auf Kooperation und Kompromisse ausgerichtete Gewerkschaftslinie hier [beeinträchtigte] zentrale Angriffe von Staat und Kapital auf die Beschäftigten in Form der Heraufsetzung des Rentenalters oder die weitere Ausrichtung von Gesundheits- und Bildungswesens nach Kapitalinteressen nicht im Geringsten. […].“ Aber es wird ‚vergessen’ zu sagen, daß die Lohnabhängigen auch auf absehbare Zeit nicht um Kompromisse herumkommen werden. Wir sind weiterhin weit von einer jener historischen Ausnahmesituationen entfernt, in der nicht die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Kompromissen die wichtige Frage ist, sondern die Alternative ‚Kompromiß oder Revolution’ auf der Tagesordnung steht (falls sie denn Überhaupt jemals auf der Tagesordnung steht; keine der historischen Revolutionen dürfte ohne – falsche und richtige – Kompromisse vonstatten gegangen sein).

Und insofern ist auch dieser Satz aus dem Aufruf zwar zutreffend, aber er lädt ohne eine erforderliche Ergänzung zu Mißverständnissen ein: „Wir, die Gruppen, die diesen Aufruf veröffentlichen, sind uns darin einig, dass eine politische Kampforganisation notwendig ist, die sich nicht mit der Verbesserung des Kapitalismus beschäftigt, sondern an seiner Überwindung arbeitet.“

Zwar ist es niemals die Aufgabe von KommunistInnen den Kapitalismus zu verbessern, aber sehr wohl ist es auch heute noch die Aufgabe von KommunistInnen, für eine Verbesserung der Lage der Lohnabhängigen sowie der anderen Ausgebeuteten und Unterdrückten auch im Kapitalismus zu kämpfen, und sich nicht auf die Propaganda und Vorbereitung der Revolution zu beschränken. Und dafür sind auch heute noch Bündnisse mit ReformistInnen, die sich – im Unterschied zu KommunistInnen – in der Tat die Verbesserung des Kapitalismus zur Aufgabe gemacht haben, notwendig. Lenins Linksradikalismus-Kritik ist auch im Jahre 2011 noch aktuell. 

Was allerdings zutreffend ist, daß es kein zurück zur fordistischen Kompromißkonstellation geben wird (und, daß dies auch nicht wünschenswert wäre [was im übrigen impliziert, daß ein zukünftiger Sozialismus/Kommunismus, der nur ein in den politischen Strukturen leicht modifizierter ‚Real’sozialismus wäre, aber ansonsten versuchen würde, die gesamte fordistische Arbeits- und sonstige gesellschaftliche Kultur des ‚Real’sozialismus wieder aufleben zu lassen, für mich nicht sonderlich attraktiv wäre]): „Die Nachkriegs-Vollbeschäftigung + Sozialstaat im OECD-Raum war eine Ausnahmeepoche – geschuldet einer Ausnahmekonstellation: der Systemkonkurrenz mit dem ‚Realsozialismus’ (trotz dessen grundsätzlicher Fehlentwicklung nach dem Tod Lenins und der ungelösten Probleme, vor denen die Sowjetunion schon vor diesem Tag stand), der Erfolglosigkeit der faschistischen Option einiger europäischer Kapitalfraktionen, dem Wiederaufbaubedarf nach dem Krieg, einem bestimmten Geschlechterverhältnis (Familienernährer-Hausfrauen-Ehe) und einem zerstörerischen Naturverhältnis.“ (Selbstzitat aus einem Artikel, der in der österreichischen Zeitschrift Grundrisse erschienen war).

Das heißt aber wiederum nicht, daß jede andere Kompromiß-Struktur – z.B. ein sozialökologischer new deal, wie er an den linkeren Rändern von SPD, Grünen und Linkspartei diskutiert wird – von vornherein unrealistisch ist und nicht von RevolutionärInnen gegen rechts zu stützen wäre – was freilich nicht heißt, sich ein derartiges Projekt zu eigen zu machen. 

c) Die Volksbewegungen im Mittelmeerraum

Und daran, daß Lenins Linksradikalismus-Kritik nach wie vor aktuell ist, ändert auch der Sturz von „von den imperialistischen westlichen Staaten gestützten Regimes in Nordafrika“ nichts. Zum einen sind es (bisher) genau zwei, und das evtl. demnächst hinzukommende dritte Regime ist ein etwas anders gelagerter Fall (sowohl, was die Opposition als auch die Geschichte der Regierungspolitik als auch die Haltung von einigen Linken zu dieser früheren Regierungspolitik anbelangt). Zum zweiten sind die Regierungen, die jetzt in Ägypten und Tunesien an die Macht gekommen sind und vielleicht demnächst in Libyen sowie in einigen Ländern auf der arabischen Halbinsel an die Macht kommen werden, sicherlich nicht weniger pro-westlich als die vorherigen.

Statt umstandslos vom Sturz von „von den imperialistischen westlichen Staaten gestützten Regimes in Nordafrika“ und von „fortschrittliche Veränderungen“ (3A-Aufruf für den 1. Mai 2011) zu sprechen, scheint es mir richtiger die Widersprüchlichkeit und Grenzen der dortigen Entwicklungen zu analysieren, wie dies in einem gemeinsamen Flugblatt von Bolşevik Partizan (Nordkurdistan/Türkei) und TROTZ ALLEDEM! (Deutschland) gemacht wird:

„Ihre Geschäfte wollten sie [Bin Alis „‚Hauptsponsoren‘ Frankreich, Deutschland, Italien und USA“] nun mit den ‚neuen‘ Machthabern weiterführen. Plötzlich entdeckten sie, dass Tunesien seit vierzig Jahren von einem ‚fürchterlichen‘ und ‚autoritären‘ Diktator beherrscht wurde. Zudem war, so empörten sie sich, der Staat durch und durch korrupt! Diese imperialistischen Heuchler! […] der bisherige Verlauf [ist] so, dass einige verhasste Vertreter des Regimes durch andere ersetzt werden. Aber das System der Ausbeutung und die Abhängigkeit vom Imperialismus bleiben bestehen. Es werden neue Koalitionen von Gruppen der alten Elite, und vor allem der ‚moderat islamischen‘ Opposition, die bisher von der Macht ausgeschlossen war geschmiedet. Das wird als Demokratisierung verkauft. Zwar werden einige […] bürgerlich demokratische Schritte unternommen, bzw. dahingehende Versprechungen gemacht, aber wirkliche Freiheit und Demokratie für das werktätige Volk gibt nicht. […]. Alle imperialistischen Mächte USA, EU, Kanada, China und Russland usw. machen sich diese Rebellionen der Völker zunutze. […]. Der bisherige Verlauf der Volksaufstände zeigt als wichtigsten Mangel der Bewegung das Fehlen einer kommunistischen Organisation und Führung. Die enorme Schwäche der kommunistischen Bewegung lässt den Imperialisten und ihren Helfershelfern Raum für ihre Manöver. […].“ (vgl. meine kurze Anmerkung zu einer etwas ausführlicheren Fassung dieses Zitat).

Auch eine Erklärung des Europäischen Büros des Komitees für eine Arbeiterinternationale (CWI), zu dem in der BRD die SAV gehört, betont (auch, wenn sie insgesamt optimistischer ausfällt als das vorstehend zitierte Flugblatt) zur jemenitischen und libyschen Situation immerhin:

„Doch das Willkommen, das diesem General [dem Stabschefs der Armee] von der jemenitischen Opposition beschert wurde, verdeutlicht gelinde gesagt deren konfuses Bewusstsein an der Basis.“

und

„Volkskomitees entstanden, diese wurden jedoch leider durch kleinbürgerliche und bürgerliche Kräfte, etwa durch einige ehemalige Minister des Gaddafiregimes, dominiert.“

Insbesondere zu Ägypten wird zunächst „die mangelnde Vorbereitung der Massen, de[r] Mangel an unabhängigen Kräften und de[r] Fakt, dass der Militärapparat der alten Regimes nicht völlig abgebaut worden war“ sowie „de[r] Mangel echter revolutionärer ArbeiterInnenparteien“ betont. Trotzdem habe aber „jeder konterrevolutionäre Versuch sture Opposition gegen die Reste des alten Regimes hervorgerufen, die Massenbewegung wurde immer wieder zum Leben erweckt wenn es den Anschein eines Einschlafens oder Abflauens gab.“ Später wird dann aber doch von einer „Entgleisung der Revolution“ in Ägypten gesprochen, schließlich allerdings im letzten Abschnitt des Textes wie folgt optimistisch resümiert: „Auf gewisse Weise hat diese Periode Elemente einer pre-revolutionären Situation, betrachtet man die europäische und Weltebene. Außerdem sind die Ereignisse in Nahost und Nordafrika eine Generalprobe für die revolutionären Stürme, die bald anderswo wehen werden.“ Dann wir aber – realistischer – nachgeschoben: „Aber es besteht immer noch eine große Verbindungsstörung zwischen der objektiven Situation und dem Bewusstseinsniveau der Massen, selbst unter den bewussteren Schichten. Die Arbeiterklasse hat noch nicht – in den meisten Ländern – ihre Illusionen darin erschöpft, dass der Kapitalismus einen Ausweg finden und sich wieder auf Vorkrisenniveau stabilisieren kann.“ –

Neben diesem Schwanken zwischen optimistischen und realistisch(er)en Sätzen wirkt auf mich auch die mehrfache Verwendung von Formulierungen wie „Unsere Forderung“ durch ein Europäisches Büro (einer internationalen Organisation) in Bezug auf die Lage in nicht-europäischen Länder befremdlich.

Angemessener scheint mir, wenn – wie in dem zuvor zitierten Flugblatt – von ausländischen Kräften formuliert wird: „Wir unterstützen …“ und dann präzise gesagt wird, worin die beste Unterstützung besteht: „In diesem Sinne rufen wir alle auf: Kämpft gegen die imperialistische Intervention und gegen den Krieg der Imperialisten in Libyen. Dies ist auch die beste Unterstützung des Kampfes der Völker Libyens […]. Wirkliche Befreiung wird nur durch die Revolution der Völker Libyens erreicht werden.“ Oder wie es in einem anderen Trotz alledem-Text heißt: „[Wir …] stellen […] uns auf die Seite der Proletarierer und unterdrückten Völker aller Länder. Unsere Haltung ist nicht, die Völker [….] müssen selber sehen, wie sie mit ihren Schlächtern fertig werden. […] Unser schlagkräftigster Beitrag ist in unseren jeweiligen Ländern den Imperialismus anzugreifen und zu schlagen.“ 

d) Zum Problem der ökonomischen und politischen Spaltung der Lohnabhängigen

Kommen wir zurück zu dem Schöneberger Text – und gleichzeitig zurück zur Analyse der hiesigen Lage: „Was wir in die reformistischen Großorganisationen tragen müssen, ist das Bewusstsein, dass es nicht nur um altruistische Solidarität mit den ‚überausgebeuteten’ Prekären geht, sondern auch um ‚egoistisches’ politisches Kalkül. Denn Leiharbeiter z.B. führen den Stammbelegschaften tagtäglich ihre eigene Ersetzbarkeit vor Augen und die Armee von ‚Hartzern’ zeigt brutal deutlich, wie schnell jede(r) ‚ganz unten’ landen kann. Eigentlich eine uralte Erfahrung / Erkenntnis der Arbeiterbewegung – je größer die industrielle Reservearmee desto erpressbarer auch die organisiertesten Teile der Klasse und damit die Klasse insgesamt.“

Damit spricht der Text m.E. das zentrale strategische und taktische Problem, vor dem – nicht nur die revolutionäre – Linke gegenwärtig steht, an: die ökonomische, kulturelle und politischen Spaltung der Lohnabhängigen, wobei es m.E. nicht nur zwei Lager (die Kernbelegschaften und die Prekären) sind, sondern drei: die Prekären sind ihrerseits kulturell und politisch gespalten: a) kulturell aa) in ein ‚postmodernes’ (PoMo) und bb) ein tendenziell ‚subproletarisches’ Lager, wobei b) Lager aa) politisch teils eher zu den Grünen (in geringeren Teilen auch zur Emanzipatorischen Linken in der Linkspartei) und teils zu den (Post)Autonomen tendiert

und

Lager bb) teils ebenfalls zur linksradikale Szene tendiert (sei es eher autonom oder eher ‚neo-antiimp’ akzentuiert), teils aber auch zur Linkspartei oder aber vielfach schlicht politisch apathisch ist.

Inge Viett hatte bei der Rosa-Luxemburg-Konferenz in diesem Jahr den Unterschied zwischen den Kernbelegschaften bzw. der Linkspartei (zusätzlich wären die weiterhin an der SPD orientierten Teile der Gewerkschaften zu nennen) einerseits und dem ‚postmodernen’ Lager ziemlich gut herausgearbeitet. Als drittes politisches Lager nannte sie noch den vor 1989er Kurs revisionistischer KPen wie der DKP sowie KPF und KPI (wohl vor deren eurokommunistischen Wenden), der mir aber heute praktisch nicht mehr relevant zu sein scheint.

Davon ausgehend entwickelte sie einen vierten Vorschlag, auf den unten in Abschnitt 9. (s. S. 28) noch genauer zurückzukommen sein wird. Hier soll aber erst einmal nur interessieren, daß sie jene Unterschiedlichkeit/Fraktionierung – wenn ich recht verstanden habe – ausschließlich beschrieb und als Ausgangspunkt hinnahm, aber diese Spaltung als solche nicht als Problem thematisierte, sondern neben die drei genannten Linien ihren vierten Vorschlag stellte. Dies scheint mir dann logisch zwangsläufig darauf hinauszulaufen, die Kernbelegschaften Kernbelegschaften und die ‚Postmodernen’ ‚postmodern’ sein zu lassen und sich selbst v.a. auf die nicht-‚postmodernen’ Prekären zu stützen.

Das ist aber keine Lösung des Problems, sondern ein Teil Problems: Die hauptsächliche Orientierung auf die Prekären wäre weder von einem marxistischen Klassenbegriff gedeckt noch machtpolitisch in irgendeiner Weise realistisch, sondern bestenfalls die Wiederholung des heroischen Scheiterns der Thälmann-KPD als radikaler Arbeitslosen-Partei oder eher zur Albernheit tendierender 80er Jahre-Szene-Kübel-Aktionen gegen SchickiMicki-Konsum. Das sollten auch all diejenigen Bedenken, die bei diesjährigen 1. Mai-Demos die – historisch in dieser Weise belastete – Parole „Klasse gegen Klasse“ (die außerdem übersieht, daß gerade der Neoliberalismus – statt der behaupteten Polarisierung der Klassenstruktur – neue ‚kleinbürgerliche’ Schichten [Selbstständige und selbst mit hoher Stundenzahl arbeitende KleineigentümerInnen von Produktionsmitteln mit einer handvoll Beschäftigten/WerkauftragnehmerInnen in den Branchen Computer, Medien, Kultur usw.] hervorgebracht hat) wieder ausgegraben haben. –

Nun ist es sicherlich ausgeschlossen, daß das hier diskutierte Projekt in absehbarer Zeit die Lohnabhängigen in Gänze politisch repräsentieren wird. Aber m.E. ist das A & O des Erfolgs eines derartigen Projektes, daß von Anfang nicht versucht wird, es in einem oder zwei der von mir beschriebenen Lager, sondern in allen drei Lagern (Kernbelegschaften, PoMos und Subproletarische) zu verankern und dort für revolutionäre Positionen zu werben. Das heißt beispielsweise: Das Projekt hätte sich m.E. in Bezug auf die Linkspartei-Kontroverse zwischen Existenzgeld-BefürworterInnen und Gewerkschafts-Flügel kulturell in der Mitte und politisch radikaler als beide Lager zu positionieren. 

8. Reizwörter und Reizthemen

a) „Antideutsche“ – „Antiimperialisten“

Zu den Reizwörtern „antideutsch“ und „antiimperialistisch“ schreiben die Schöneberger: „Dem ganz breiten ‚anti-imperialistischen’ Bündnis von Kim über Ahmadinedschad und Lukaschenko bis Scheich Nasrallah sollte unser ‚Projekt’ keinesfalls beitreten. Wir sollten uns klar gegen diese außenpolitische Linie der ‚Jungen Welt’ und die Argumentation der ‚Anti-Imps’ stellen, denn für uns hören die Klassengegensätze nicht an den Grenzen des Trikont auf zu existieren […]. Diese klare Frontstellung muss sich allerdings ihrerseits scharf distanzieren vom militanten ‚Anti-Anti-Imperialismus’ der so genannten ‚Anti-Deutschen’, die eben keine ‚linken Anti-Deutschen’, sondern ‚(verdammt) deutsche Anti-Linke’ sind. In ihren schärfsten Ausformungen handelt es sich um offenen Pro-Imperialismus.“

Ich stimme dieser doppelten Abgrenzung von ‚Anti-Deutschen’ (jedenfalls jenen ‚Anti-Deutschen’, die gar nicht mehr anti-deutsch sind) und jenen AntiimperialistInnen, die nichts anders als „Antiimperialismus“ zu bieten haben, zu.

Das heißt im Umkehrschluß, daß ich also jene Antideutschen, die keine NATO/OECD-Kriege unterstützen, und die für eine nicht-sektiererische Bündnispolitik (nicht nur ggü. neo-„Antiimps“, sondern auch ggü. der Linkspartei [z.B.: Lafontaine]) zu haben sind, insb. soweit sie einen kommunistischen Anspruch vertreten, gerne dabei haben wollen würde. In früherer Zeit gefielen mir bspw. die Zeitschrift 17° C (von Anfang der 90er Jahre) und die Gruppe Demontage (aus späterer Zeit) und von deren beiden Nachfolgegruppe diese besser als jene.

Und entsprechend in Bezug auf jene Neo-„Antiimps“, die keinen Hauptwiderspruch Imperialismus-Antiimperialismus vertreten, sondern diesen Widerspruch mindestens dem Klassenwiderspruch unterordnen: Unter den von mir in Abschnitt 4. positiv angeführten Gruppen dürften sicherlich einige sein, die von ex-antideutschen westlichen KulturkämpferInnen als „Anttimps“ gelabelt werden, die ich aber trotzdem dabei haben wollen würde. 

b) Stalin

In dem Text der SI Schöneberg heißt es: „Auch wenn dies momentan völlig unrealistisch ist, muss darüber hinaus eine Zusammenarbeit auch möglich sein mit ‚Traditionskommunisten’, die – ohne gleich zu Trotzkisten oder Anarchisten zu mutieren – (ernsthaft) ‚poststalinistische’ Positionen beziehen (Wir nennen mal exemplarisch den Genossen Steigerwald). Schluss (nicht mit der Bereitschaft zu Diskussion und Aktionseinheit, aber mit der Bereitschaft zur Bildung einer gemeinsamen Organisation) ist für uns da, wo 70 Jahre Stalinismus abgesehen von einigen ‚Exzessen’ (‚Wo gehobelt wird, da fallen Späne’) gerechtfertigt oder sogar verklärt werden und der Zusammenbruch von 1989 auf den Verrat von Chrustschow und / oder Gorbatschow zusammenschnurrt (ebenfalls nur exemplarisch: Kurt Gossweiler, Hans Heinz Holz).“

Ich weiß nicht, welche Positionen Holz einerseits und Steigerwald andererseits heute genau vertreten. Aber ich schließe mich Unzeit-gemäß an, der in dem blog Entdinglichung zu diesem Punkt das SI-Papier wie folgt kommentierte: „Man sollte mit Stalinisten weniger über die Vergangenheit und mehr über die Gegenwart und Zukunft debattieren.“

In diesem Sinne würde ich gut finden, wenn Trotz alledem – wenn ich recht sehe die ehemalige BRD-Auslandssektion der türkisch-kurdischen Organisation Bolschevik Partizan – dabei wären – trotz deren Position zur Stalin-Frage und wegen deren scharfen Blicks auf den deutschen Imperialismus sowie auf die Grenze zwischen internationaler Solidarität einerseits und Alternative-Imperialismus / europäischem Paternalismus andererseits sowie deren Positionen zum Geschlechterverhältnis, die selbst für nicht-stalinistische MarxistInnen bemerkenswert wären (auch, wenn sie auch noch nicht feministisch sind), z.B.: „Physische und sexuelle Gewalt ist das brutalste und grausamste Machtinstrument von Männerherrschaft. Frauen werden weltweit vergewaltigt, geschlagen, ermordet. Sie sind der Männergewalt überall ausgesetzt: In der Familie/Partnerschaft, auf der Strasse, am Arbeitsplatz, im Stadtteil, in der Dorfgemeinschaft, in gesellschaftlichen Institutionen (vom Sportverein bis hin zu Religionsgemeinschaften); […]. Schaffen wir eine kommunistische Frauenorganisierung!“ (meine Hv.).

Und im Fall des ebenfalls schon erwähnten Arbeiterbundes für den Wiederaufbau der KPD würde mich weniger dessen Antwort auf die historische „Stalin-Frage“ als vielmehr dessen industrialistisch-naturwissenschafts-gläubiges Weltbild, das sie auch heute noch eine post-kapitalistischen Nutzung der Atomenergie propagieren läßt, stören, während mir andererseits auch dessen scharfer Blick auf den deutschen Imperialismus und auf Antisemitismus durchaus sympathisch ist.

Grüppchen wie die MLPD sollten m.E. dagegen – ganz unabhängig von ihrer Position zu Stalin, sondern – wegen ihres heutigen (pseudo-)populistischen Propagandastils keinen Einfluß auf die Organisation haben.

Ebenfalls keine fruchtbare organisations-interne Zusammenarbeitsmöglichkeit sehe mit Gruppen wie der Kommunistischen Initiative, an der u.a. der o.g. Kurt Gossweiler beteiligt ist,

Ø      deren heutige politische Identität sich vor allem daraus speist, die Parole vom Aufbau „eine[r] einheitliche[n] Kommunistische[n] Partei, die fest auf dem Boden des Marxismus-Leninismus steht“, auszugeben,

Ø      ohne auch nur die Frage aufzuwerfen, ob schon der Marxismus-Leninismus Stalins eine Revision sowohl des Marxismus als auch des Leninismus darstellte

und

Ø      im übrigen daran arbeiten, realsozialistische Post-StalinistInnen, wie Gossweiler, wieder ins Lager der expliziten StalinstInnen zu integrieren,

und

Ø      zur Gegenwart im übrigen nicht vielmehr zu sagen haben als, „Faschisierungstendenzen“ einerseits und Hizbollah als „heroisches Beispiel“ andererseits zu beschwören.

 

c) Diktatur des Proletariats

Zur Frage der Diktatur des Proletariats zitiert der Text der Schöneberger Initiative zunächst die Avanti-Grundsatzerklärung „Theoretisch und praktisch unbrauchbar geworden ist nach unserer Auffassung die Formel von der ‚Diktatur des Proletariats’.“ (S. 63), und hält dem dann entgegen: „Praktisch ja, theoretisch nein. Denn jeder Staat ist eine Form der Klassenherrschaft (s. o.), aber natürlich ist der Begriff missverständlich und weckt unschöne Assoziationen. Da wir mit dem Begriff ‚Rätedemokratie’ eine wunderbare Alternative haben, sollten wir die ‚Diktatur des Proletariats’ aus unserer täglichen Agitation und Propaganda streichen, aber trotzdem genug Arsch in der Hose und theoretische Kenntnisse haben, um sie gegen Attacken von rechts inhaltlich zu verteidigen.“

Ich könnte mit der Sprachregelung der SI leben, denn ich würde ja – wie oben in Abschnitt 6. erwähnt – sogar vorschlagen zu prüfen, ob die Frage eines – an seinem eigenen Absterben arbeitenden – postrevolutionären Übergangsstaates vielleicht im Interesse der Einbeziehung von klassenkämpferischen AnarchistInnen sogar ganz offengelassen werden sollte. Das zur Position der eventuell zu gründenden Organisation. –

Für meinen eigenen Sprachgebrauch bin ich mir nicht sicher, ob der ‚böse’ Ausdruck „Diktatur des Proletariats“ wirklich hinter den Wörtern „Klassenherrschaft“ und „Rätedemokratie“ versteckt werden sollte. Der Ausdruck „Klassenherrschaft“ legt das Mißverständnis nahe, daß es sich um rein gesellschaftliche (außer-staatliche) Herrschaft handele.

Ich sehe das Problem daher weniger beim Ausdrucks-Bestandteil „Diktatur“. [14] Ich sehe es vielmehr zum einen darin, daß sich vom „Proletariat“ gemeinhin ein Bild gemacht wird, daß mit der heutigen Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse – trotz neoliberaler Verarmungsstrategien – wenig zu tun hat. Und zum anderen sehe ich das Problem darin, daß der Ausdruck einseitig auf die Klassenverhältnisse fokussiert. Ganz genauso, wie es einer transitorischen sozialistischen Staatsmacht zur Niederhaltung der ehemaligen ProduktionsmittelbesitzerInnen bedarf, bedarf es aber einer feministischen und antirassistischen Staatsmacht, die den Machttransfer von Männern und Weißen zu FrauenLesben und Schwarzen schützt und begünstigt. [15] 

d) Avantgarde

Zum Begriff der „Avantgarde“ äußern sich die Schöneberger Papier-Autoren wie folgt: „Im übrigen kennen wir auch keine einzige Gruppe oder Strömung mit revolutionärem Anspruch, die heute noch behauptet ‚Avantgarde’ zu sein (na gut, vielleicht mit Ausnahme der ‚Spartacist Arbeiterpartei’) – alle (oder viele) wollen es werden. Bitte sehr, nehmen wir’s doch einfach sportlich – wer die beste Politik macht, hat den größten Einfluss in der revolutionären Bewegung.“ Damit wäre ich einverstanden, wenn in dem Satz das „zu sein“ unterstrichen wird – und wir noch hinzufügen, daß es selbstverständlich darum geht, Vorschläge zu machen, die Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung voranbringen (dt. vor = frz. avant); ansonsten könnten wir uns jede politische Aktivität eh gleich sparen und anderen Freizeitvergnügungen nachgehen.

(Angemerkt sei noch, daß ich intuitiv den Begriff „Führung“ [S. 11] zur Beschreibung des Verhältnisses Organisation – Bewegung problematischer finde, als den der Avantgarde.) 

e) Demokratischer Zentralismus

Der Begriff „demokratischer Zentralismus“ wird von der SI Schöneberg mit folgender plastischer Formulierung verteidigt: „‚Demokratie ohne Zentralismus’ führt zum Modell II. Internationale (oder zu so was wie der IL), ‚Zentralismus ohne Demokratie’ führt zum Modell III. Internationale nach 1924.“ Ich bin einverstanden. 

f) Gewaltfrage

aa) Wenn ich in Abschnitt 5.a) geschrieben hatte, „daß früher oder später in diesem Prozeß (so er denn überhaupt stattfindet) die ‚Machtfrage’ auf den Tisch kommt“, so heißt dies auch, daß diesenfalls sehr wahrscheinlich auch die Gewaltfrage auf den Tisch kommt. Erfahrungen wie Spanien 1936 und Chile 1972 zeigen, daß die Gewaltapparate des Staates nicht nur gegen Verletzungen des staatlichen Gewaltmonopols zum Einsatz kommen. Sie kommen vielmehr im Zweifel auch gegen radikale Reformen und/oder legale Transformationsversuche zum Einsatz. Wer/welche dennoch nicht vom Anliegen der Systemtransformation Abstand nehmen will, wird daher – früher oder später – die Frage, wie die physische Gewalt der staatlichen Apparate gebrochen werden kann, nicht nur in der theoretischen Praxis beantworten müssen.

Daß die physische Gewalt des Staates ohne physische Gegengewalt gebrochen werden kann, ist zumindest ziemlich unwahrscheinlich. Die 1989er-Systemtransformationen in Osteuropa und die Entkolonialisierung Indiens dürften keine besonders überzeugenden bzw. weittragenden Gegenbeispiele sein. Der intern weitgehend gewaltfreie Charakter der osteuropäischen Umstürze (weniger die Tatsache der Umstürze als solches) dürfte

Ø      kaum ohne den – im internationalen und historischen Vergleich – relativ geringen (um nicht zu sagen: einmalig geringen) Umfang der ökonomischen Privilegien der ‚real’sozialistischen FunktionärInnen

Ø      und noch weniger ohne das vorhergehende militärische Wettrüsten zwischen den ‚Blöcken’ und d.h.: letztlich dadurch, daß die osteuropäischen Umstürze die NATO-Armeen im Rücken hatten, erklären lassen.

Und die Entkolonialisierung Indiens dürfte sich kaum

Ø      ohne die vorhergehenden Weltkriege und die Existenz der Sowjetunion (beides hoch gewaltsame Phänomene)

sowie

Ø      ohne den innerimperialistischen Hegemonie-Wechsels vom Vereinigten Königreich zu den USA (auch kein rein ökonomisches Phänomen, wenn wir an den anti-britischen Unabhängigkeitskrieg als eine seiner Voraussetzungen denken)

und

Ø      ohne die daraus folgende Konsequenz, daß die Entkolonialisierung nicht systemsprengend war und deshalb – je nach den konkreten Umständen – entweder geduldet oder gewaltsam verzögert werden konnte,

erklären lassen. Auch die ‚Gewaltfreiheit’ dieser Transformationen hatte also Grenzen – und soweit sie bestand, war sie angesichts sehr spezifischer Sonderfaktoren möglich. [16]

bb) Und ich würde auch nicht sagen, daß sich diese Gewaltfrage nach dem – eher imaginären als realen – Modell des Sturms auf das Winterpalais stellt. Lange vor dem Sturm auf das Winterpalais gab es den Partisanenkrieg (und die Schrift von Lenin dazu). Und auch zwischen der Zeit des Partisanenkriegs und dem Sturm auf das Winterpalais gab es vielleicht keine Kombination von legalen und besonders gewaltsamen, aber doch eine Kombination von legalen und illegalen Methoden – und das war auch die offizielle Linie der KomIntern.

cc) Auch heutige RevolutionärInnen, auch heutige RevolutionärInnen, die eine nicht-klandestin arbeitende, also legale Organisation gründen wollen, haben an diesen Einsichten m.E. nichts verleugnen. (Und ich denke, es dürfte auch kaum ernstzunehmende bürgerliche HistorikerInnen und TheoretikerInnen der Politik geben, die diese Einsichten leugnen.) Insofern würde ich jedenfalls dem ersten Teil des folgenden Satzes der Revolutionären Perspektive Berlin zustimmen: „Die Grundlagen der marxistischen Theorie wie: […] die Anerkennung der Notwendigkeit revolutionärer Gewalt sind verbindliche theoretische Grundsätze der Organisation und müssen sich in unserer Praxis widerspiegeln.“

Angesichts sowohl drohender Repression als auch angesichts dessen, daß das KomIntern-Modell (von dem m.E. sowohl das maoistische als das guevaristische Modell zu unterscheiden ist) nach der Oktober-Revolution nirgends eine erfolgreiche Revolution hervorbrachte, ist aber zu fragen: War die enge organisatorische und personelle Koppelung legaler und illegaler Strukturen richtig? Oder war sie nicht vielmehr sowohl der legalen als auch der illegalen Arbeit abträglich? – Ich tendiere dahin, die Frage im zweiten Sinne zu beantworten.

dd) Letzteres heißt m.E.: Eine nicht-klandestine revolutionäre Organisation kann zwar – wie es selbst Linksliberale und LinkssozialdemokratInnen tun – zu Aktionen des zivilen Ungehorsams (à la gewaltfreie Sitzblockade und Volkszählungsboykott) aufrufen und sie mit vorbereiten, sie kann auch eine Meinung zu militanten Aktionen haben, aber: Eine nicht-klandestine Organisation ist weder der Ort der Vorbereitung noch der Anregung noch der Durchführung militanter Aktionen. Wer/welche solche für richtig und notwendig hält, muß sich – je nach Geschmack: statt dessen oder zusätzlich – anderweitig organisieren.

ee) Und was die nachträgliche Meinungsäußerung zu anderweitig vorbereiteten und durchgeführten militanten Aktionen anbelangt, so sollte m.E. folgende Leitlinie gelten: keine generelle Distanzierung, aber, falls politisch erforderlich, punktuelle Kritik – aber nicht wegen Unterwerfung unter die Staatsräson, sondern wegen mangelnder Effektivität der Mittel. [17]

ff) In diesem Sinne würde ich den zweiten Teil des zitierten Satzes der Revolutionären Perspektive Berlin modifizieren: „Die Grundlagen der marxistischen Theorie wie: […] die Anerkennung der Notwendigkeit revolutionärer Gewalt […] müssen sich in unserer Praxis widerspiegeln.“ und den dort anschließenden Satz („Für uns ist die Theorie kein von der Praxis abgekoppelter Bereich.“ – meine Hv., dg) ergänzen: Sehr wohl aber muß zwischen genereller theoretischer Einsicht und aktuell und in spezifischen Kontexten angemessenen Praxisformen unterschieden werden [theoretische, politische und militärische Praxis sind unterschiedliche Praxisformen mit jeweils relativer Autonomie] – was auch einschließt, daß es historische Situationen geben kann, in denen die Gewinnung militanter Handlungsfähigkeit den Vorrang vor der Gewinnung politischer Handlungsfähigkeit hat (und in denen dann daraus die entsprechenden Konsequenzen hinsichtlich Zeitaufwand und Organisationsstrukturen zu ziehen sind). Aber vor dieser Frage stehen wir m.E. heute und auch in absehbarer Zeit nicht. 

g) Kopftuch

Auch das Reizthema „Kopftuch“ wird von den Schöneberger – vermutlich auch vor dem Hintergrund der entsprechenden Debatte in der französischen NPA – angesprochen: „Es gibt keine ‚Kopftuchpflicht’ im Koran, insofern hat das nichts mit religiöser Selbstbestimmung zu tun (auch wenn das viele Muslima natürlich subjektiv anders sehen), sondern v. a. mit religiös verbrämter patriarchalischer Unterdrückung der muslimischen Frauen.“

Wie schon im blog Entdinglichung kommentiert hatte, sehe ich die Sache etwas anders: „Ich würde sagen: Mit dem Kopftuch verhält es sich nicht anders als mit den Kindern: Ob Kopftuch oder keines – entscheidet jede alleine. – Wer/welche wirklich freiwillig (!) ein Kopftuch tragen will (egal aus welchen – u.U. wie irrtümlich auch immer – Gründen) soll dies tun dürfen. – Das wirklich schwierige Problem scheint mir zu sein, inwieweit unter gegenwärtigen Bedingungen rechtliche Interventionen des Staates (und das heißt des bürgerlich-patriarchal-rassistischen Staates) hilfreich sein können, um eine wirkliche Freiwilligkeit der Entscheidung sicherzustellen. Da wäre ich grundsätzlich sehr skeptisch (die gerade eingeführte Sondergesetzgebung zu Zwangsehen, ergänzend zur ohnehin bestehenden Strafbarkeit von Nötigung, scheint mir den Frauen praktisch wenig zu nutzen [18], aber starke kulturkämpferische, euro- und christentum-zentristische Symbolik zu sein); ich würde aber auch nicht von vornherein jede vielleicht denkbar Regelung ausschließen. Also: schwieriges Thema.“ 

9. Aktive Mitarbeit / Organisationsstrukturen / Arbeitsweise

a) AktivistInnen- oder Karteileichen-Organisation?

In dem SI-Papier wird vorgeschlagen: „Das neue Projekt sollte keine Mitgliederpartei, kein Verein von ‚Karteileichen’ sein, sondern eine Organisation von Aktivisten.“ Dagegen wendet Karl Mueller im Editorial zu trend-online 4/11 polemisch ein: „Im ZK-Kader-Modell dieser selbsternannten Avantgarde ist für ‚Mitglieder’ selbstredend kein Platz, alle müssen ‚Aktivisten’ sein.“

Ein Argument kann ich hier allerdings nicht sehen. Was ist denn so schrecklich an einer Organisation ohne inaktive Mitglieder? M.E. nix. Eine Organisation, in der nicht alle Mitglieder AktivistInnen sind, kann m.E. nur auf zweierlei Weise arbeiten:

Variante 1: Das Modell bürgerliche Parlamentspartei oder auch SED & Co.: die Mitglieder folgen der jeweiligen Parteiführung durch dick und dünn und dienen dieser als Kulisse. Ab und an treten dann einige – oder in historischen Umbruchsituationen: auch in Massen – Mitglieder aus, die sich von der Führung ‚betrogen’ fühlen, obwohl sie deren Kurs doch oft Jahrzehnte passiv mitgetragen haben.

Variante 2: Das Modell Grüne der 80er und frühen 90er Jahre: Die Mitglieder bleiben weitgehend passiv, verfolgen die Parteidiskussion allenfalls aus den herrschenden Medien und werden und mobilisieren sich selbst zu entscheiden Abstimmungen als Stimmvieh. Methode: Abstimmungen ohne gründliche Diskussion; auch nicht besonders demokratisch. Politischer Effekt bei den Grünen: Die mehr oder weniger linken AktivistInnen wurden zwischen Parlamentsfraktionen und Basismitgliedern, die ‚praktische’ Erfolge ohne große Anstrengungen wollten, zerrieben. – Ein Vorbild für heutige revolutionäre Organisierung?! 

b) Das Private ist politisch: Organisation – Szene/Milieu – Bewegung

Wichtiger als der Einwand von Karl Mueller scheint mir daher die Frage zu sein, die die Schöneberger selbst aufwerfen, aber nicht beantworten:

„Wie […] kriegen wir es hin, dass Mensch, auch ohne ‚unbezahlter Berufsrevolutionär’ zu sein, also mit sagen wir 2 - 3 Terminen pro Woche am Organisationsleben nicht nur teilnehmen, sondern es auch tatsächlich mitbestimmen kann?“

aa) Im Gegensatz zu gewissen ‚stil-diktierenden’ Tendenzen (der berühmte ‚proletarische’ Kurzhaarschnitt im Ggs. zu den langen Hippie-Haaren, teilweise wohl auch Verbot von partei-externen Liebesbeziehungen usw.) bei den K-Gruppen der 70er Jahren sollten zwar Freizeit, Wohnen usw. von organisierter Praxis unterschieden werden. Auch hinsichtlich des politischen Verhaltens am Arbeitsplatz, von dem die Existenzsicherung abhängt, sollte nichts Unmögliches verlangt werden. Die politische Linie einer Organisation muß immer auch die persönlichen Kräfte und Möglichkeiten der einzelnen Mitglieder in Rechnung stellen.

Aber: Das heißt nicht, daß Leben, Arbeit und Politik von einander getrennt sind; auch Leben und Arbeiten, ‚das Private’ – wie die Frauenbewegung und viele andere 68er sagten –, sind politisch. M.E. gibt es keine revolutionäre Praxis, die hinter diese Einsicht zurückfällt.

Das heißt aber auch, daß es nicht schlicht ‚Privatsache’ der einzelnen Mitglieder sein kann 2, 3 Termine pro Woche für das „Organisationsleben“ freizuschaufeln.

D.h. bspw.: Während Sitzungen muß Kinderbetreuung gewährleistet sein, damit Eltern teilnehmen können und sich die herkömmliche patriarchale Arbeitsteilung ‚Männer machen Politik und Frauen kümmern sich um die Kinder’ nicht wieder durchsetzt. D.h. auch: Es ist eine Frage an die gesamte Organisation, wie Leuten mit 40 Std./Woche-Job (und weiteren Verpflichtungen) möglich gemacht werden kann, an Sitzungen teilzunehmen und zwar so vorbereitet teilzunehmen, daß sie real inhaltlich Einfluß nehmen können.

Es heißt auch einerseits theoretisches Wissen und technische, z.B. Software-, Kenntnisse an alle Mitglieder zu verbreiten und andererseits der spontanen Tendenz entgegenzuwirken, daß StudentInnen, arbeitslose Ex-StudentInnen und FreiberuflerInnen sowie etwaige Hauptamtliche bei der Gewerkschaft oder freigestellte BetriebsrätInnen – qua zeitlicher Flexibilität – die inhaltliche Diskussion bestimmen – und die andere die technischen HandlangerInnen sind.

bb) Die Medaille ‚Das Private ist das Politische’ hat auch noch eine andere Seite: Erfolgreiche Politik benötigt auch ein entsprechendes lebensweltliches Umfeld. Und genau daran fehlte es den K-Gruppen der 70er Jahre weitgehend, während es SPD und KPD bis zum NS in Form von Arbeiter(Innen)bildungs- und Sportbewegung sowie später Spontis der 70er sowie Autonome und Grüne der 80er Jahre in Form des Alternativ-Mileu und der Projekte-Szene hatten.

Daraus ergibt sich die zentrale Frage: Was heißt das für die neoliberalen Bedingungen, wo es

Ø      weder mehr die starke kulturelle Polarität Bourgeoisie – Proletariat, sondern sowohl eine Globalisierung/Universalisierung kultureller Stile als auch deren gleichzeitige massive Pluralisierung/Ausdifferenzierung gibt,

Ø      noch mehr das sozialstaatliche Rückgrat „Staatsknete“ der 70er und 80er Jahre? 

c) Nicht-klandestin oder halb-klandestin

Obwohl die Frage in dem Text der SI Schöneberg nicht ausdrücklich angesprochen ist, habe ich diesen Text dahingehend verstanden, daß die Schöneberger eine nicht-klandestine Organisationen vorschlagen – anders dürfte die vorgeschlagene Bündnisorientierung kaum machbar sein. (Aus diesem Grund gehe ich in diesem Papier nicht auf die Revolutionäre Linke um die Zeitschrift radikal ein, deren Positionen ich an anderer Stelle ausführlich diskutiert hatte.)

Inge Viett ist dagegen der Ansicht (und das scheint zugleich ihr viertes Modell als Alternative zu den o.g. drei falschen Linien [s.o. S. 19]) zu sein: „Eine Organisation/Partei, kann zwar fortschrittlich, antikapitalistisch, marxistisch/leninistisch sein, aber nicht revolutionär, wenn sie nicht in bestimmten Bereichen (Kommunikation, Strukturen, Verantwortlichkeiten) klandestin ist.“

Und: „Nicht die Theorie macht eine Organisation zu einer revolutionären, sondern allein ihre kämpferische Praxis, und diese stößt unweigerlich auf Repression. Aus diesem Grund dürfen eine revolutionäre Organisation nicht komplett offen vom Klassengegner einzusehen, die Mitglieder und Strukturen nicht alle bekannt, das inhaltliche, logistische und finanzielle Vermögen nicht jederzeit angreifbar sein usw. Dennoch muß sie in den betrieblichen und politischen Auseinandersetzungen als organisierende kämpferische Kraft sichtbar und ansprechbar sein.“

Während mir das Modell der RZ – legale lebende Mitglieder, die in allen möglichen politischen und kulturellen Kontexten eingebunden blieben; klandestine Organisation sowie klandestine Aktionsvorbereitung und -durchführung – eine funktionierende Alternative sowohl zur Beschränkung auf Nicht-Klandestines als auch der RAFschen Voll-Klandestintität gewesen zu scheint, scheint mir der Vorschlag von Inge Viett die Nachteile beider Modelle miteinander zu verbinden:

-- einerseits; leichte Infiltrierbarkeit und daher beschränkte Handlungsmöglichkeiten

-- andererseits: Erzeugung von Mißtrauen, Spott und Verschwörungstheorien innerhalb der Szene/Massen wegen eines klandestinen Gehabes, das aber nicht wirklich klandestin ist; politische Positionen und v.a. Praxen und die politische Verantwortlichkeit für umstrittene Aktionen werden unter dem Deckmantel der Konspirativität der politischen Diskussion entzogen; wenn das „logistische und finanzielle Vermögen nicht jederzeit angreifbar sein“, also klandestin verwaltet werden soll, dann bedeutet das im Kontext einer größeren halb-klandestinen Organisation, die gleichzeitig in „betrieblichen und politischen Auseinandersetzungen […] sichtbar und ansprechbar“ ist, zwangsläufig, daß darunter auch die innerorganisatorische Demokratie leiden muß (einigen Kadern, die den meisten Mitgliedern in dieser Funktion unbekannt sind, wird das Vermögen anvertraut – mit allen Risiken, die das bedeutet: von der Unterschlagung für persönliche Zwecke bis zur Manipulation der politischer Entscheidungsfindung).

Ich würde zwar sagen, daß die leninsche Forderung nach Verbindung legaler und illegaler Methoden weiterhin richtig ist. Aber ich würde – sowohl aus Gründen der Repressionsabwehr, der letztlichen Handlungsunfähigkeit des Militärapparates der Weimarer KPD und der anderenfalls entstehenden Risiken für die Demokratie innerhalb größerer Organisationen – auch sagen, daß diese Verbindung nur in der Person einzelner AktivistInnen (und in Zusammenarbeit mit anderen einzelnen AktivistInnen innerhalb und außerhalb der Organisation) passieren kann, getrennt von den Strukturen der legalen Organisation. Legale und illegale Strukturen müssen getrennt sein, und die Verbindung erfolgt ausschließlich in Form der politischen Bewußtheit der AkteurInnen. 

d) Inner-organisatorische Demokratie

Noch einmal zurück zu dem oben schon erwähnten Papier der Anarchistischen Gruppe / Rätekommunisten. Die Gruppe plädiert für eine

„Organisierung, die unsere Utopie einer befreiten Gesellschaft schon enthält. Uns nützen keine autoritären Strukturen und hierarchischen Organisationen. Wer eine von Ausbeutung und Unterdrückung freie Gesellschaft aufbauen möchte, kann sich nicht in Parteien begeben, die selbst hierarchisch strukturiert sind, die also die Herrschaftsprinzipien der heutigen Klassengesellschaft übernehmen, statt sie aufzuheben, die von ihrer Basis erwarten, daß sie die Beschlüsse von ‚oben’ unhinterfragt umsetzt. ‚In der Organisation und Gemeinschaft der Kämpfenden erscheint trotz aller Disziplin, die in der Notwendigkeit, sich durchzusetzen begründet ist, etwas von der Freiheit und Spontaneität der Zukunft. Wo die Einheit von Disziplin und Spontaneität verschwunden ist, verwandelt sich die Bewegung in eine Angelegenheit ihrer eigenen Bürokratie, ein Schauspiel, das schon zum Repertoire der neueren Geschichte gehört.’ (Max Horkheimer) Eine künftige revolutionäre Organisation muß die Negation des Bestehenden sein – die freie Vereinigung der RevolutionärInnen wird auf Kooperation, nicht auf Unterordnung setzen. Sie kann nur als ein Zusammenschluß funktionieren, der Platz läßt für Widersprüche, der unterschiedliche Meinungen, Einschätzungen und Vorgehensweisen in seinen Reihen aushält.“

Ich stimme dem im Großen und Ganzen zu und denke, daß das auch in etwa mit dem übereinstimmt, was in dem Schöneberger Papier zu Fraktionsbildungsfreiheit steht: „es [muss] u. E. in einer revolutionären Organisation das Recht auf die Bildung von Tendenzen / Plattformen geben, ohne dass das dazu führt, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen.“

Ich befürchte allerdings, daß die Genossen Rätekommunisten schon Strukturen und Praxen als „autoritär und hierarchisch“ bezeichnen, die ich bei weitem nicht so bezeichnen würde.

Und was den allerersten Satz („Eine Organisierung, die unsere Utopie einer befreiten Gesellschaft schon enthält.“) des Zitates anbelangt: Ja und Nein. Zwar sind Mittel (zum Zweck) ausschließlich Handlungen und Formen, die dem Zweck auch tatsächlich dienen und ihn nicht (trotz bestem Willen) konterkarieren. Aber die Organisierung in einer nicht-befreiten Gesellschaft kann die befreite Gesellschaft nicht schon in Gänze enthalten. Der Weg ist nicht schon das Ziel, sondern etwas anderes als das Ziel. (Falls ich auch mal einen ‚Frankfurter’ zitieren darf: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ [Adorno].) Das muß sowohl gegen Bernstein als auch gegen AnarchistInnen festgehalten werden. – Und gegen StalinistInnen muß festgehalten werden, daß ein Weg der nicht zum Ziel führt, nicht der richtige Weg ist. 

10. Vorschlag zum weiteren Vorgehen

Die Sozialistische Initiative hatte in ihrem im März veröffentlichten Papier einen ziemlich straffen und ehrgeizigen (Zeit)plan vorgeschlagen: „D.h. ein Start mit z.B. 600 Leuten wäre kein wirklicher Schritt vorwärts im Vergleich zum Bestehenden, denn es gibt so was wie die ‚Magie der (großen) Zahlen’. 1000 ernsthaft Interessierte / Beteiligte bis Mitte / Ende diesen Jahres sind ein anspruchsvolles, aber realistisches Ziel.“ (meine Hv., dg). Frank Braun ist bescheidener (und wohl auch realistischer – jedenfalls, wenn es nicht um „Interessierte“, sondern um künftige Mitglieder geht): „Mir würden fünfhundert GenossInnen schon reichen.“ –

Mittlerweile ist „Mitte [… des] Jahres“ – und es gibt bisher keine einzige (öffentliche) Gruppen-Stellungnahme zu dem Papier. Letzteres scheint mir der wichtigere Gesichtspunkt zu sein – denn, wie soll in Bezug auf eine Idee, die bisher keine Struktur hat, von (Individuen als) „Interessierte / Beteiligte“ gesprochen werden?! Wie sollen die gezählt werden?

Mir erscheint vielmehr wichtig, daß sich im Lauf der nächsten rund zwei Monate eine Reihe von Gruppen (und gruppen-unabhängigen Einzelpersonen) – jeweils mehrere aus verschiedenen Spektren (feministisch, marxistisch der unterschiedlichen Colleur, linksradikale Szene der unterschiedlichen Colleur) finden, die bereit sind, sich verbindlich an dem Diskussionsprozeß zu beteiligen.

Dieser Diskussionsprozeß wird sich m.E., wenn er ernsthaft geführt werden und Schnellschüsse mit vorschnellen Unvereinbarkeitserklärungen zwischen einzelnen Gruppen/Sub-Szenen vermieden werden sollen, sicherlich nicht im Laufe dieses Jahres abschließen lassen.

Ich würde daher die folgenden nächsten Schritte vorschlagen wollen:

 

Ø      Im Laufe der nächsten zwei, drei Monate Erarbeitung eines – von einer gewissen Anzahl von bereits existierenden Gruppen/Organisationen und Einzelpersonen zu unterzeichnenden Aufrufes (im Umfang von 2 - 4 Seiten) zu einem spektren-übergreifenden linken Diskussionsprozeß, in dem der Vorschlag zur Gründung einer Neuen Antikapitalistischen bzw. Revolutionären Organisation geprüft wird.

Ø      Kurzfristige (d.h.: vorher) Schaffung eines blogs, in dem die zu klärenden Fragen breit diskutiert werden können, sodaß die Anfänge der blog-Diskussion bereits eine Vorarbeit für das Aufruf-Schreiben darstellen.

Ø      Gezieltes Ansprechen von linken Feministinnen (als Mitautorinnen und -diskutantinnen) für die ersten beiden Arbeitsschritte und um im Herbst – als erste große Diskussionsveranstaltung zu dem Projekt – eine FrauenLesben-Konferenz „Feminismus und antikapitalistische Organisierung“ zu veranstalten.

Ø      Gründung einer online-Zeitschrift „Debatte. Zeitschrift für die Wiedergewinnung einer revolutionären Perspektive“. Erscheinungsweise 4- bis 6-mal im Jahr; Themen der ersten Hefte:

o  Lageeinschätzung, Strategien, Bündnisse

o  Grundwiderspruch / Hauptwiderspruch / Nebenwiderspruch – Determinierung / Überdetermierung – Intersektionalität / triple oppression

o  Spaltungslinien innerhalb der Lohnabhängigen / Prekarisierung

o  Organisierung: Der Wert von Organisationen – Organisation / Bewegung – Reizbegriffe: „Kaderorganisation“, „demokratischer Zentralismus“ / „Avantgarde-Anspruch“ – „undogmatisch“

o  Theorie- und Organisationsgeschichten, Fehler & Lehren

o  Politisierung der Kultur oder Kulturalisierung der Politik? – Ein Rückblick auf die 90er und die Debatten zwischen Avantgarde & Proletkult im ‚Real’sozialismus

Ø      Vor der oder kurze Zeit nach der Einrichtung des blogs: Schaffung eines Debatten-Orga-Komitees: vielleicht 12 oder 15 Personen aus unterschiedlichen Gruppen, davon mind. 6 (besser: 7) bzw. (bei 15) mind. 8 FrauenLesben (ohne Trans-Wesen); mindestens 4 unter 30-jährige Personen + mindestens 1 unter 20-jährige Person; Beteiligung aus mindestens sechs unterschiedlichen Bundesländern.

Ø      Nach Erscheinen des dritten Heftes der vorgeschlagenen Zeitschrift Veranstaltung einer Reihe von Arbeitskonferenzen im Winter 2011/12 und Frühjahr 2012 in unterschiedlichen Städten (Hamburg, Berlin, Ruhrgebiet, Frankfurt/M., Dresden [?], Ulm [oder Stuttgart und Nürnberg]) [19]

Ø      Danach Klärung, ob die inhaltlichen und personellen Grundlagen für eine Organisationsgründung ausreichen, oder es realistischerweise besser bei einem Netzwerk bleibt:

Frank Braun schreibt dazu in seinem Diskussionsbeitrag: „Ich kann nicht einschätzen, ob diese Gruppen [die bereits existierenden antikapitalistischen Klein-Organisationen und Gruppen] nicht doch noch […] einen relevanten Teil des Rückgrats der antikapitalistischen Linken darstellen. Wir sollten das nicht auch noch zerkloppen bevor dazu eine Alternative steht. Die Konsequenz: Es sollte im ersten Anlauf um ein antikapitalistisches Netzwerk als Organisationsform gehen und es sollte bloß die Erwartung auf eine dann anzustrebende einzige Organisation statt vieler kleiner Zentralkomitees zum Gegenstand eines programmatischen Papiers gemacht werden.“

Ich würde meinerseits zwei Präzisierungen vorschlagen: „Prüfung“ statt „Erwartung“, und das Ergebnis der Prüfung kann auch sein, daß dem genannten ersten Schritt (Netzwerk/Prüfungsdebatte) auf absehbare Zeit kein zweiter Schritt (Organisationsgründung) folgt, sondern das Netzwerk (ohne eine konkrete Organisationsgründungsabsicht) für gemeinsame Demonstrationsaufrufe, inhaltlichen Austausch u.ä. fortgeführt wird.

Ø      Sollte sich dagegen die Gründungsidee nach Ansicht einer hinreichenden Anzahl von Beteiligten als inhaltlich und personell hinreichend tragfähig [20] erweisen: Durchführung einer Gründungsvollversammlung Mitte nächsten Jahres irgendwo im geographischen Zentrum der BRD. [21]

Ø      Im Fall einer Gründung: Verabschiedung einer Gründungserklärung begrenzten Umfangs (ca. 10 [?] Seiten); Beginn einer umfassenden ‚Programm’diskussion erst, wenn die Strukturen der Organisation arbeitsfähig sind und sich der Mitgliederbestand konsolidiert hat (Abwarten von Neueintritten in der ersten Zeit nach der Gründung). 

Zu dem blog-Vorschlag:

Aus jedem diskussionsbedürftigen Punkt sollte ein eigener blog-Beitrag gemacht werden, der kurz die bisher bekannten, unterschiedlichen Positionen darstellt. Dabei dürfte es sich aus Gründen der Übersichtlichkeit (themenspezifischen Diskussion) anbieten, aus den Unterpunkten der hiesigen Abschnitte 3. und 4. sowie 7. bis 9. jeweils eigene blog-Beiträge zu machen. Auch das im letzten Absatz von FN 17 angesprochene Problem dürfte einen eigenen blog-Beitrag wert sein.

In den Kommentaren kann dann themen-spezifisch zu den unterschiedlichen Auffassungen und etwaigen weiteren Auffassungen zum jeweils gleichen Thema diskutiert werden. Gruppen und Einzelpersonen, deren Beteiligung gewünscht wird, sollten vor Einrichtung des blogs informiert und um Stellungnahmen gebeten werden, sodaß nach Einrichtung des blogs hoffentlich zeitnah die ersten Gruppen-Stellungnahmen eingehen. 

Zu den Aufgaben des Debatten-Orga-Komitees:

Das Komitee sollte m.E. folgende Aufgaben übernehmen:

-- Moderation des blogs: Sicherstellung einer kontroversen inhaltlichen Debatte; gezielte Ansprache von Gruppen und Einzelpersonen aus unterschiedlichen Spektren, deren Diskussionsbeiträge erwünscht sind; Zulassung und Einladung [22] auch von (bspw. autonomer oder linksparteilicher) Kritik, die einem oder diesem Organisations-Projekt grundsätzlich ablehnend gegenübersteht, aber kein Zulassen des Zuspamens des blogs; sofern etwaige Querfrontangebote von nationalrevolutionären u.ä. Gruppen nicht ohnehin gelöscht werden, muß ihn klar entgegengetreten werden.

-- Verfassen eines Entwurfs für den o.g. Debatten-Aufruf

-- Vorbereitung der o.g. Konferenzen in Zusammenarbeit mit jeweiligen lokalen Gruppen

-- Übernahme der Redaktion für o.g. online-Zeitschrift oder – in Absprache mit den am Diskussionsprozeß beteiligten Gruppen/Kleinorganisation – Formierung einer von anderen Personen gebildeten Redaktion dafür (Ansprache der Personen; Einladung zu und Organisation einer ersten Redaktionssitzung)

-- im späten Frühjahr 2012: Verfassen einer möglichst konsensuellen* Bilanz des Diskussionsprozesses – mit dem Vorschlag an die beteiligten Gruppen, Kleinorganisationen und Einzelpersonen eine Organisations-Gründungsvollversammlung durchzuführen oder es aber bei einem Netzwerk zu belassen (das Debatte Orga-Komitee wäre dann – je nachdem in ein Gründungs-Komitee oder ein Koordinierungsgremium zu transformieren) oder aber ggf. auch das Scheitern des gesamten Prozesses festzustellen. 

* Meine persönliche Position wäre: Lieber ein Netzwerk mit allen auch an der Vor-Diskussion Beteiligten, als eine Organisationsgründung bei der ein 1/5 oder mehr der an der Vor-Diskussion Beteiligten wegbräche. 

Ende Mai 2011

Anmerkungen

[i] Siehe Abschnitt „Das TrägerIn-Subjekt“

[ii] Weitere Veröffentlichungsorte: Linke Zeitung (wo es in den Kommentaren eine LeserIn-Diskussion zu dem Text gibt), scharf-links (wo auch drei daran anschließende Texte veröffentlicht wurden [1, 2, 3]) sowie die blogs Rappelkiste (bei blogsport.de) und Rote Predigt (bei over-blogs, die zu dem social bookmark-Dienst wikio gehören); sowie auf der homepage der Sozialistischen Kooperation; Verlinkung des Textes bei: Entdinglichung (vgl. dort auch diese Diskussion: http://entdinglichung.wordpress.com/2011/05/17/hinweis-auf-einen-debattenbeitrag-zu-neue-antikapitalistische-organisation-na-endlich-woruber-mussen-wir-uns-verstandigen-und-woruber-nicht/#comment-3146 und die folgenden Kommentare). 

[iii] Ähnliches wie dort zum Geschlechterverhältnis geschrieben, wäre zum Rassismus zu sagen. In dem Text der SI Schöneberg heißt es diesbzgl.: „Es geht nicht um Ursachen und Funktion (!, dg) von Rassismus (da werden wir uns schnell einig), [...]. Unsere Botschaft lautet: Hier geht’s um Klassen-, nicht um Rassenfragen!“

Genauso wenig, wie im Falle des Geschlechterverhältnisses reicht es in Bezug auf den Rassismus auf seine teilweise Kapitalfunktionalität hinzuweisen. Vielmehr ziehen weiße Lohnabhängige – unabhängig von ihrem individuellen rassistischen oder antirassistischen Bewußtsein – reale Vorteile aus der rassistischen Struktur der nationalen und internationalen Arbeitsteilung (auch wenn die Mehrwertproduktion auch weiterhin nicht nur im Trikont, sondern auch in den imperialistischen Metropolen stattfindet), aus der Koppelung von Sozialleistungen u.ä. und Wohnsitz/Staatsangehörigkeit sowie aus kultureller Hegemonie und damit verbundenen formellen und informellen größeren Durchsetzungsmöglichkeiten. Alldies hat nicht nur mit ‚von oben’ indoktriniertem „falschem Bewußtsein“ zu tun; und der materielle – in dem Fall: körperliche – Interessensgegensatz zwischen weißen SchlägerInnen und zusammengeschlagenen MigrantInnen und Flüchtlingen liegt auf der Hand. Deshalb ist es zu einfach, zu sagen: „Hier geht’s um Klassen-, nicht um Rassenfragen!“ In Form von Pässen und Grenzen und daran anknüpfenden und von der Staatsgewalt angewendeten und durchgesetzten Gesetzen sowie von (formellen) Qualifikations- und Lohnunterschieden sind Rassen eine materielle, soziale Realität; in diesem Sinne gibt es eine „Rassenfrage“, die die Frage der Überwindung weißer Herrschaft und weißer Bevorteilung in der Arbeitsteilungsstruktur und Gesetzgebung ist. Vgl. http://theoriealspraxis.blogsport.de/2011/05/06/rassismus-vorurteil-oder-gesellschaftliche-struktur/

[1] In meinem Diskussionsbeitrag zu dem SI-Papier hatte ich geschrieben: „die Überlagerung mehrerer Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse bewirkt nicht deren schlichte Addition, sondern deren gegenseitig Modifikation: Das Patriarchat ‚funktioniert’ in der ArbeiterInnenklasse anders als in der Bourgeoisie, aber es ‚funktioniert’ in beiden Klassen.“ Und bei früherer Gelegenheit hatte ich bereits formuliert: „Ich würde sagen, hypothetisch kann es eine Gesellschaft geben, die kapitalistisch ist, ohne sexistisch und ohne rassistisch zu sein. Die kapitalistische ‚Logik‘ ist als solche indifferent gegenüber den Geschlechtern und Rassen. Sie ist historisch kontingent mit Patriarchat und weißen Rassismus verbunden; genauso kontingent könnte sie auch mit umgekehrten Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen oder eben auch mit der Auflösung dieser Verhältnisse verbunden sein. [….]. Eine ganz andere Frage wäre es, ob es in Anbetracht der (historisch kontingent) gegebenen Verpflechtung der verschiedenen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse faktisch möglich ist, sie unabhängig von einander wirklich erfolgreich zu bekämpfen. Da bin ich skeptisch, […].“

Vgl. dazu auch noch die vom blog Entdinglichung gefundene Formulierung: „historisch aber konnte der Kapitalismus sich aber nur rassistisch und patriarchal entwickeln, ein nichtrassistischer und nichtpatriarchaler Kapitalismus ist zwar logisch und abstrakt denkbar aber historisch-praktisch unmöglich, da die Lasten der Vergangenheit und die trägen Ideologien nicht einfach abgestreift werden können; bezüglich patriarchaler und rassistischer Strukturen steht das (strukturell amoralische) Kapital vor dem Dilemma, dass diese sowohl Hindernis (bezüglich der Verfügbarkeit der Ware Arbeitskraft) andererseits auch Notwendigkeit (Reproduktion der Ware Arbeitskraft, Extraprofite durch unfreie Arbeit, Spaltung der Klasse, etc.) waren bzw. sind … zum Triple Oppression-Ansatz ist zu sagen, dass er vom Anspruch her richtig und sympathisch aber in aller Regel analytisch ungenügend ist und vor 20 Jahren als billige Begründung zur Nichtbeschäftigung mit der Klasse instrumentalisiert wurde“. 

[2] Über die Bedeutung Linkspartei als Wahlpartei heißt es in dem Papier: „Zum ersten Mal nach dem zweiten Weltkrieg gibt es eine wahlpolitisch relevante Partei links von der Sozialdemokratie in der Bundesrepublik, von der Episode der Grünen in den 80ern abgesehen.“ Vgl. dazu auch den Kommentar von Unzeit-gemäß bei Entdinglichung: „Verhältnis zur LINKEN: Vielleicht sollte man [sich, dg] gar nicht so sehr damit beschäftigen. Die LINKE zu wählen nützt nix, schadet aber auch nicht. In dem Votum für diese Partei drückt sich ein rudimentäres Klassenbewußtsein aus, aber auch eine gewisse Hilflosigkeit (Aufblicken zu charismatischen Talkshow-Promis, Hoffen auf Schutzgesetze für die kleinen Leute). Grundsätzlich gilt: nicht mit den Leuten über ihr Wahlverhalten diskutieren, sondern über die Möglichkeit von Streiks u. ä.“ 

[3] Vgl. zur IL meine eher improvisierte Einschätzung: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2009/09/29/ich-sag-wies-ist-papier-und-interventionistische-linke/

[4] Aus der Einleitung einer Broschüre zur SAV-Strömung: „In den Grundsätzen der RSO haben wir dazu folgendes formuliert: ‚Eine neue revolutionäre Internationale wird nicht linear aus einer der bestehenden Organisationen mit revolutionärem Anspruch entstehen. Keine dieser Organisationen kann legitimerweise behaupten, dass nur sie ‚wirklich revolutionär’ ist. Mit allen größeren subjektiv revolutionären internationalen Strömungen haben wir freilich so relevante Differenzen, dass wir uns nicht auf einer ernsthaften politischen Grundlage anschließen könnten. Wir wollen unsere Differenzen mit anderen Organisationen nicht verwischen oder totschweigen, aber wir wissen auch, dass wir von GenossInnen mit revolutionärem Anspruch in anderen Ländern/Kontinenten auch viele Dinge lernen können. […].’ […]. Mit der SAV gab es beispielsweise in und um die WASG-Berlin eine sehr positive und solidarische Zusammenarbeit. […]. Für solche sinnvolle Formen der Zusammenarbeit sehen wir auch in Zukunft ein Potenzial.“ (meine Hv., dg) 

[5] Vgl. zu BWK, AB und KPD/ML http://de.wikipedia.org/wiki/Bund_Westdeutscher_Kommunisten, http://de.wikipedia.org/wiki/Arbeiterbund_f%C3%BCr_den_Wiederaufbau_der_KPD und http://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_Deutschlands/Marxisten-Leninisten

[6] Das von der isl anvisierte Projekt könnte sich nur dadurch von der Linkspartei merklich unterscheiden, daß der dortige Regierungs-Flügel diese verlassen oder der Nicht-Regierungsflügel ein neues Projekt ins Leben rufen würde. Ob sich RevolutionärInnen dann an einem solchen Projekt beteiligten sollten, muß hier nicht diskutiert werden. Was sich jedenfalls aus dem Schicksal der Z-Fraktion um Rainer Trampert und Thomas Ebermann in den Grünen der 80er Jahre lernen läßt, ist, daß sich RevolutionärInnen auf ein solche Bündnis-Projekt mit GradualistInnen (und vielleicht sogar RadikalreformistInnen) nur einlassen sollten, wenn sie eigene Strukturen außerhalb des Bündnisprojektes behalten und nicht voll und ganz in dem dortigen Fraktionskampf aufgehen. 

[7] So heißt es dort bspw. „Historisch war das Verhältnis von moderaten und radikalen Linken und der sozialen Bewegungen stets durch die Polarisierung auf ein letztes Entweder-Oder bestimmt: Reform oder Revolution, […].“ Das ist Geschichtsklitterung: Das mag in Bezug auf den Gegensatz von Sozialdemokratie und AnarchistInnen, von Grünen und Autonomen zutreffen; die Positionen von Lenin, Trotzki und auch Luxemburg oder auch in den 70er und 80er Jahren die des KB, werden damit nicht getroffen.

Weiter wird bspw. davon gesprochen, daß unter bestimmten Bedingungen ein „revolutionärer Anspruch zur Darstellung der eigenen Identität“ verkomme, „die das Kernelement revolutionärer Aktion – den Kampf und die Bewegung der Vielen – aufgegeben hätte“. Das ist sicherlich wahr; aber es ist trotzdem etwas anderes, als zu sagen: „Wir verstehen uns als RevolutionärInnen, was für uns heißt, nicht auf den Alleingang der bereits Überzeugten zu setzen, sondern den Kampf und die Bewegung der Vielen anzustreben.“

Und, wenn unter der Zwischenüberschrift „Revolutionäre Organisation und Autonomie sozialer Bewegungen“ das Wort „revolutionär“ nicht wiederholt, sondern statt dessen geschrieben wird, „Wir wollen nie wieder zurück hinter den Pluralismus der Bewegungen und Subjektivitäten, nie wieder zurück zur Unterordnung der Bewegungen unter ‚die’ Organisation. Organisierungsprozesse mit antagonistischer Perspektive wie die IL sind besondere Medien der sozialen und politischen Kämpfe, sie sind aber nur ein Medium unter anderen.“, dann hört sich das danach an, daß

Ø      „revolutionär“ mit „Unterordnung der Bewegungen unter ‚die’ Organisation“ in Verbindung gebracht wird

Ø      und „Organisierungsprozesse mit antagonistischer Perspektive“ nicht einfach ein Synonym für „Revolutionäre Organisation“ ist, sondern die Akzente bewußt anders setzt.

Sicherlich mag es mit einem bloßen „Pluralismus der Bewegungen und Subjektivitäten“ antagonistische – i.S.v. radikal oppositionellen – Praxen geben. Wie es aber revolutionäre, d.h.: umstürzende, Handlungsfähigkeit ohne ein Minimum von Vereinheitlichung geben kann (bzw. ob es sie nach Vorstellung der IL überhaupt geben soll), wird nicht gesagt. 

[8] Der Satz, „Interventionistische Politik möchte die antagonistische Perspektive und den Bezug auf das Gemeinsame mit den konkreten Bewegungen und Kämpfen verbinden, deren Teil wir sind.“, sagt jedenfalls nicht explizit, daß es der Sinn der ‚Interventionen’ der IL ist, eine „antagonistische Perspektive“ in die „konkreten Bewegungen und Kämpfe“ hineinzutragen; vielmehr scheint sich die IL darauf beschränken zu wollen, für sich selbst den Bezug auf derartige Bewegungen und Kämpfe sowie – anscheinend – das schlichte ‚Haben’ einer „antagonistische Perspektive“ zu verbinden.

Es heißt zwar auch, „Eine radikale Linke [als deren Teil sich die IL insoweit anscheinend versteht] wird im Dazwischengehen deshalb immer auch sag-, sicht- und streitbar machen, dass rebellische Wünsche und emanzipatorische Kämpfe konsequent nur in einer Politik des offensiven Bruchs mit den bestehenden Herrschaftsverhältnissen ausgefochten werden können.“ – Dieser Satz geht aber in einem weitschweifigen Gerede über „lange Prozesse“ und „Kommunikation“ ziemlich unter: „Die Interventionistische Linke ist eine Linke in und zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen, eine Linke, der es vor allem anderen darum geht, solche Bewegungen in Kommunikation und Aktion zu bringen. Kommunikation meint hier weit mehr als Papiere zu schreiben, meint vielmehr den tatsächlichen Austausch, den Blick über den eigenen Tellerrand und das Ausloten gemeinsamer und unterschiedlicher Interessen und Aktionsperspektiven: Kommunikation ist das Medium, in dem sich verschiedene soziale Kämpfe gemeinsam in Richtung auf ein alternatives (welt-)gesellschaftliches Projekt radikalisieren können.“ – Die Kämpfe radikalisieren „sich“ – einen spezifischen Beitrag von Organisationen scheint es dazu nicht zu geben, denn sie sind – wie bereits in FN [7] zitiert – nach Ansicht der IL „nur ein Medium unter anderen“. 

[9] Vgl. dazu noch einmal den bereits zitierten Text von Franz Braun: „vor allem muß ein Begriff vom dem ermittelt werden, was den real existierenden Kapitalismus heute ausmacht. Und natürlich muß ebenso auf den Punkt gebracht werden, was getan werden muß, um einigermaßen erfolgreich attackieren zu können. […]. Es ist eine Strategie und Taktik als Ausdruck von diesen klugen Analysen und dazu passenden politischen Schlußfolgerungen auszuarbeiten und es ist deren praktische Erprobung auf den Weg zu bringen. Das wäre die dritte Aufgabe, die ebenso kollektiv anzugehen ist.“ 

[10] Die Sätze nach dem zitierten Satz lauten: „Konnte man also nicht – und die Zeitumstände ließen das nicht zu – ÜBER das Eisenacher Programm hinausgehn, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktionen gegen den gemeinsamen Feind abschließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt diese bis zur Zeit aufzuschieben, wo dergleichen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung mißt. […] Hätte man ihnen [den Lassalleaner] von vornherein erklärt, man lasse sich auf keinen Prinzipienschacher ein, so hätten sie sich mit einem Aktionsprogramm oder Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion begnügen MÜSSEN.“ 

[11] Vgl. zu derartigen begrifflichen Differenzierungen: http://theoriealspraxis.blogsport.de/2009/10/29/vier-zitate-zum-krisen-begriff/

[12] „Trotzdem scheint mir aber auch dieser Text noch zu optimistisch zu sein, wenn es weiter unten heißt: ‚Den Stand des Klassenbewusstseins bringt Kollege Riexinger sehr schön auf den Punkt: >Die Leute sagen, so wie die Franzosen müssten wir’s machen< – was zweierlei zum Ausdruck bringt: Wir haben die Schnauze voll, aber es wäre schon schön, wenn andere für uns kämpfen.’ Und mehr noch, wenn es später – anscheinend noch weitergehend – heißt: ‚Wir treten ein in eine Phase von Revolution und Konterrevolution.’, ohne auch nur die Wörter ‚Phase’ und ‚Revolution’ (Politische Revolutionen [‚regime changes’]? Oder Umwälzungen der Produktionsverhältnisse?) zu erläutern. – Auch diese Formulierungen, vom Ende des Textes, scheinen mir allzu allgemeine (und insofern voluntaristische Schlußfolgerungen nahelegende) Wahrheiten zu sein: ‚Keine Angst vor der eigenen Courage. Eigentlich muss mensch nur zwei Sachen wissen, um loszulegen: >Eure Ordnung ist auf Sand gebaut< und >Etwas Besseres als den Tod finden wir überall<.’“ 

[13] Vgl. dagegen die Feministische Kritik von 1993: „im kontext der ‚herrschenden verhältnisse’ von ‚menschen’ zu sprechen, negiert die gesamte ausbeutungs- und gewalthierarchie im imperialistischen patriarchat.“ 

[14] Daß dieser Begriff hier nicht im staatsrechtlichen, sondern im staats- und gesellschaftsanalytischen Sinne zu verstehen ist, läßt sich relativ einfach klarstellen. Es ist darzulegen, daß eine parlamentarische Republik ebenso eine Form der „Diktatur der Bourgeoisie“ ist wie eine Militärdiktatur und daß sich folglich eine „Diktatur des Proletariats“ – abgesehen von Notstandssituationen – nicht in erster Linie hinsichtlich der juristischen Formen, in denen sie ausgeübt wird (Meinungspluralismus, freie und geheime Wahlen), von einer parlamentarischen Republik unterscheidet bzw. sich hinsichtlich dieser juristischen Formen gerade durch einen stärker direkt-demokratischen Charakter auszeichnet. Der entscheidende Unterschied liegt vielmehr darin, daß die Herrschaft der Minderheit der ProduktionsmittelbesitzerInnen ersetzt wird durch Niederhaltung dieser Minderheit durch die Mehrheit bis zum Absterben der Klassen und des Staates 

[15] Vgl. Monique Wittig: „Thus it is our historical task, and only ours, to define what we call oppression in materialist terms, to make it evident that women are a class, which is to say that the category ‘woman’ as well as the category ‘man’ are political and economic categories not eternal ones. Our fight aims to suppress men as a class, not through a genocidal, but a political struggle. Once the class ‘men’ disappears, ‘women’ as a class will disappear as well, for there are no slaves without masters.“ – wobei ich meinerseits nicht die Geschlechter nicht als „Klassen“ bezeichnen würde, aber ansonsten diese Analogie teile. Zu betonen ist, daß diesen Sätzen – wie sich aus „political and economic categories“ ergibt – eine nicht-biologistische Geschlechterdefinition zugrunde liegt: ‚Mann’ und ‚Frau sein’, heißt nicht, eine je bestimmte Anatomie zu haben, sondern eine bestimmte Position in der gesellschaftlichen Struktur einzunehmen.
Vgl. zu Wahrheit und Grenzen der Wahrheit dieser Biologismus-Kritik: http://theoriealspraxis.blogsport.de 

[16] Und selbst unterhalb eines antagonistischen Systemkonflikts kann nur, wer/welche im Wolkenkuckucksheim lebt, behaupten, daß ‚Gewalt kein Mittel der Politik ist’. Gewalt ist ein Mittel der Politik. Jeden Tag: Angefangen von Kanonenbootpolitik bis zur Besetzung ganzer Länder; vom Pflasterstein bis zum Guerillakrieg.

Diese Realität mag moralisch bedauert werden; aber wer/welche ihre Existenz bestreitet, kann auch anfangen, die Frage aufzuwerfen, ob die Erde nicht vielleicht doch eine Scheibe ist. Und es spricht wenig dafür, daß diese gewaltsame Realität ohne Gegengewalt gebrochen werden kann (s. oben).

Unterhalb dieser politischen und politikwissenschaftlichen Banalität kann und muß natürlich viel diskutiert werden: Wann Gewalt? Welche Gewalt? Wie kann verhindert werden, daß sich die Mittel gegen die schließlichen Ziele des Gewalteinsatzes auswirken? etc. 

[17] Derartige nachträgliche Meinungsäußerungen könnten wie folgt nuanciert werden von: „falsch und unverständlich“, über „falsch, aber verständlich“ bis „verständlich und hatte sogar einen positiven Effekt“.

Heikel wird es dann allerdings, wenn JournalistInnen nachfragen: „Und waren Sie an dem, was den ‚positiven Effekt’ hatte, auch beteiligt?“

Eine Antwortmöglichkeit, die mir sinnvoll erschiene, wäre: „Sie wissen, daß ich hier auf diese Frage nur eine Antwortmöglichkeit habe. In solch einer Sprechsituation, in der ich ‚nein’ sagen ‚muß’, ziehe ich es vor, lieber gar nichts zu sagen – egal, ob das ‚Nein’ im konkreten Fall zutreffend oder unzutreffend wäre. – Im übrigen haben wir [= unsere Organisation] auch nicht den Anspruch, daß nicht auch Leute außerhalb unserer Organisation gute Sachen machen. Die revolutionäre Linke reduziert sich nicht auf uns.“

Soweit nicht auch noch eigene Leute auf frischer Tat festgenommen werden, müßte sich das so wohl auch bei scharfen Distanzierungskampagnen durchhalten lassen – zumindest, wenn man/frau/lesbe auf absehbare Zeit nicht ins Parlament will.

(Ein Verein kann verboten werden, indem „durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt [wird …], daß seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder daß er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet“ [§ 9 Vereinsgesetz]; dagegen können die Verwaltungsgerichte angerufen werden. Einzelne Straftaten reichen für die Erfüllung des ersten Verbotskriteriums nicht aus. Ob die Absicht, bspw. die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG und die Entschädigungspflicht in der Art. 15 GG abzuschaffen sowie die parlamentarische in eine Rätedemokratie umzuwandeln, plus Aussprechen der Prognose, daß sich diese Absicht, nicht im Wege der gewaltfreien Grundgesetzänderung gem. Art. 79 oder 146 GG erreichen lassen wird, bereits das zweite Kriterium [gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet] erfüllt, dürfte auch innerhalb des rechtswissenschaftlichen mainstreams umstritten sein. – Ob eine etwaige bestehende Verbotsmöglichkeit auch tatsächlich genutzt wird, hängt bekanntlich von vielen außer-juristischen Faktoren ab. Bevor eine nicht-klandestine revolutionäre Organisation gegründet wird, sollte dieser Möglichkeit freilich ins Auge gesehen werden – was die Frage einschließt, ob sich denn im Fall der Fälle gegen ein etwaiges Verbot juristisch mit dem Argument gewehrt werden soll, daß die eigene Tätigkeit und die eigenen Zwecke nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet seien.) 

[18] Ergänzende Anmerkung: Das wirkliche Problem, das von dieser Strafnorm nicht angegangen wird, liegt vielmehr auf zwei anderen Ebenen:

1. Eine Nötigung – ob nun im allgemeinen oder speziell zur Ehe – kann kaum bewiesen, also auch nicht bestraft werden, wenn sich das Nötigungsopfer der Nötigung beugt und die Nötigung selbst dann bestreitet, falls Dritte die – vermeintliche – Tat anzeigen. Dieses Problem kann auch durch Schaffung eines Sonderstraftatbestandes gegen Zwangsehen nicht umgangen werden.

2. Noch schwieriger wird es, wenn das vermeintliche Nötigungsopfer den von Dritten wahrgenommenen Zwang selbst gar nicht als solchen wahrnimmt, sondern alles als ganz ‚natürlich’ oder ‚normal’ empfindet. Angesichts dieser Situation dürfte kaum strafrechtlicher Zwang des Staates, sondern feministische Agitation und Propaganda das Mittel der Wahl sein – wobei auch diese darauf zu achten hätten, die Grenze zu Pater- bzw. vielmehr Materialismus nicht zu überschreiten. 

[19] Zu überlegen wäre, ob diese Arbeitskonferenzen jeweils zu einen spezifischen Thema (ich würde sagen: jeweils einem der vorgeschlagenen Zeitschriften-Schwerpunkte) oder zu einer Vielzahl von Themen stattfinden sollen. Das Ziel einer intensiven und konzentrierten inhaltlichen Diskussion spräche für Möglichkeit 1; das Ziel, über kurze Anfahrtswege möglichst vielen eine einigermaßen unkomplizierte Teilnahme-Möglichkeit (an wenigstens einer Konferenz, ohne daß dadurch inhaltliche Beteiligungsmöglichkeiten in der ganzen thematischen Breite verloren gehen) zu verschaffen, für Möglichkeit 2. (Eine Möglichkeit, beide Ziele zu verbinden, wäre vielleicht, auch diese Konferenzen in den zentral gelegen – in FN 19 genannten – Städten zu veranstalten.)

Auch die Reihenfolge der Orte der Arbeitskonferenzen müßte genau bedacht werden – sowohl unter dem Gesichtspunkt der zu erwartenden TeilnehmerInnenzahl als auch der zu erwartenden Spektren. 

[20] Für mich sind derartige inhaltliche und personelle ‚Hinreichenheits-Kriterien’:

-- Eine deutliche Mehrheitsposition der neuen Organisation in Sachen Geschlechterverhältnis und Rassismus, die nicht nebenwiderspruchs-theoretisch ist. (Würde sich dies nicht durchsetzen, aber der Rest ‚stimmen’, so würde ich überlegen, ob ich mich in eine SympathisantInnen-Struktur einklinken würde.)

-- mindestens jeweils rund 100 Teilnehmerinnen bzw. -Innen an der Konferenz „Feminismus und antikapitalistische Organisierung“ und den nachfolgenden Arbeitskonferenzen (mit maximal einem Ausreißer nach unten)

-- mehrere dieser Konferenz mit einer TeilnehmerInnenzahl von um die 200, und die Entwicklung der TeilnehmerInnenzahl in einer Weise, die – bei Berücksichtigung regionaler Unterschiede – darauf hin deutet, daß das Projekt von Konferenz zu Konferenz an Anziehungskraft und Dynamik gewinnt

-- Einigkeit, daß es – was die Vollmitglieder anbelangt – um eine Organisation von RevolutionärInnen (ohne GradualistInnen) geht

-- von der gesamten Organisation umgesetzte deutliche Mehrheits-Bereitschaft zu Bündnissen mit reformistischen Organisationen und nicht nur mit Basismitgliedern von reformistischen Organisationen

-- Es beteiligen sich mehrere überregionale trotzkistische Gruppen/Kleinorganisationen

-- Es beteiligt sich mindestens eine überregionale nicht-trotzkistische marxistische Gruppe/Kleinorganisation

-- Es beteiligen sich mehrere aus der linksradikalen Szene kommende Gruppen

-- Der Gründungsbeschluß wird auf einer Gründungsvollversammlung von mindestens 500 Personen mitgetragen. 

[21] Marburg, Erfurt, Kassel, Jena? 

[22] Auch aus ganz oder teilweise falschen Positionen kann immerhin die Schärfung der eigenen Argumentation gelernt werden; und es ist auch wichtig immerhin als kritikwürdig und nicht als irrelevant wahrgenommen zu werden.

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten diese Stellungnahme von Detlef Georgia Schulze  für diese Ausgabe.