Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Kurz vor der Renten„reform“

06/10

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Auf ihrem Gewerkschaftstag schwingt die CFDT (zweitstärkster französischer Gewerkschaftsverband) sich zum Regierungskritiker auf – und stimmt doch einem der Eckpfeiler der regressiven „Reform“ ausdrücklich zu. Die „Reform“ dürfte gesamtgesellschaftlich auf einige erhebliche Akzeptanzprobleme stoßen. Nächste Demonstrationen der Gewerkschaften dagegen am 24. Juni.

Die CFDT – der zweitstärkste gewerkschaftliche Dachverband in Frankreich, hinter der CGT – hatte jüngst, vom 07. bis 11. Juni, ihren Kongress (Gewerkschaftstag) im zentralfranzösischen Tours versammelt. Am Mittwoch (o9.o6.10) gab ihr Generalsekretär François Chérèque dort bekannt, sein Verband befinde sich derzeit „nicht in einer Position, über das Regierungsvorhaben“ (zur so genannten Renten„reform“) „zu verhandeln“. Vielmehr verteidige sie „ein Alternativvorhaben“ für eine Reform der Rentensysteme, und wolle nicht „über bloße Anpassungen des Regierungsprojekts“ reden. Zuvor hatten am Mittwoch 86,8 % der Delegierten dem Rechenberechenschaftsbericht der amtierenden, rechtssozialdemokratischen, Führung des Dachverbands zugestimmt. Zu deren Bilanz zählt freilich auch die Zustimmung zur bisher letzten (Stufe der) Renten„reform“, jener vom April/Juli 2003, die damals die Anhebung der erforderlichen Beitragsjahre zur Pensionskasse von 37,5 auf 40 Jahre – für alle abhängig Beschäftigten, inklusive der bis dahin nicht betroffenen Staatsbediensteten – zum Gegenstand hatte.

Die Regierung wird ihren Entwurf zur nächsten (Stufe der) Renten„reform“, die voraussichtlich die Zahl der Beitragsjahre weiter – von 40 etwa auf 42 oder 42,5 – anheben wird, aller Voraussicht nach am Mittwoch früh (16. Juni 2010) vorlegen. Sein genauer Inhalt ist bislang noch nicht bekannt. Chérèque erklärte dazu auf dem Gewerkschaftstag, er werde nicht „in die Falle der Regierung tappen“, deren Taktik darauf hinauslaufe, den Inhalt ihrer Pläne nur „scheibchenweise“ bekannt zu geben. Neben der Anhebung der Anzahl erforderlicher Beitragsjahre wird die „Reform“ absehbar auch das Renten-Eintrittsalter anheben. Derzeit bestehen dazu drei Regelungen:

- ein Mindestalter, ab dem in Rente gehen kann, wer die erforderlichen Beitragsjahre zusammen hat (derzeit 60, nach der nächsten „Reform“ mutmaßlich 62 oder eher 63);

- ein sozusagen offizielles Rentenalter, ab dem keine Abschläge an den Pensionen derer, die nicht genügend Beitragsjahre gesammelt haben, wegen fehlender Beitragszeiten mehr vorgenommen werden (derzeit 65, es wird künftig ebenfalls angehoben werden, in bislang noch unbekannter Höhe):

- und ein Höchstalter, ab dem sozusagen von der Lohnabhängigkeit in den Ruhestand gegangen werden muss (seit Ende 2008 wurde es von 65 auf 70 angehoben).

Äußerst unpopuläre „Reform“ zeichnet sich ab

Die „Reform“ erweist sich derzeit als ausgesprochen unpopulär. Auch und gerade bei den jüngeren Generationen, obwohl zu Anfang des Jahres Beobachter/innen bisweilen noch behaupteten, das Rententhema sei für ihre Angehörigen „relativ weit weg“ (zumal auch Ressentiments gegen die heutigen Rentner als den „privilegierten“ älteren Generationen, die es früher leichter gehabt hätten, bestünden) und nicht von primärer politischer Bedeutung. Laut den Zahlen von Umfrageergebnissen, die ,Libération’ dazu in ihrer Ausgabe vom Montag, den o7. Juni 10 publizierte, ist die Ablehnung in diesen Generationen jedoch massiv. Diesen Angaben zufolge finden etwa 72 % der Industriearbeiter, aber „nur“ 48 % der höheren Angestellten die sich abzeichnende so genannte Reform „ungerecht“. Und demnach opponieren 67 % unter den 18- bis 24jährigen, aber nur 38 % der bereits heute in Rente gegangenen Generationen (über 65 Jahre) gegen eine Heraufsetzung des gesetzlichen Rentenalters.

Anders als 2003, als die CFDT-Spitze am 15. 05. 03 (nur 48 Stunden nach der ersten erfolgreichen Demonstration gegen die „Reform“, welche sie noch unterstützt hatte) „umfiel“ und sich der Regierungsposition anschloss, möchte auch dieser Dachverband heute nicht als im Schlepptau der Regierung stehend dastehen.

Dabei hatte ihre Führung unter Generalsekretär François Chérèque jedoch bereits vor Wochen signalisiert, dass sie über eine Erhöhung der Anzahl obligatorischer Beitragsjahre durchaus mit sich reden lasse. Ablehnend stehe sie hingegen einer Erhöhung des (Mindest-)Eintrittsalters für die Rente gegenüber. Da die Regierung aber offenkundig beides plant, also an beiden Reglern (Beitragsdauer und Eintrittsalter) drehen möchte, wirkt sogar die CFDT im Augenblick –jedenfalls vordergründig - ziemlich pampig. Ihr Chef, Chérèque, sprach sogar davon, die Regierung habe sich für die „ungerechteste“ Reformoption entschieden, da sie auch das Alter – und nicht ausschließlich die Beitragsdauer - erhöhen möchte. (Vgl. http://www.boursorama.com/ )

Die CFDT schluckt jedoch ausdrücklich die Erhöhung der Zahl der Beitragsjahre

Am Donnerstag Nachmittag (10. Juni 10) fällte die CFDT dann jedoch auf ihrem Gewerkschaftstag einen Beschluss, der eine Erhöhung der vom Gesetz her geforderten Beitragszeiten zu den Rentenkassen unverkennbar befürwortet. Eine Anhebung auf 40,5 Beitragsjahre schon 2011 und dann auf 41 Beitragsjahre schon im Jahr 2012 wird ausdrücklich im „Alternativentwurf“ zu den Regierungsplänen vorgesehen.

Ein Antrag einer Minderheit von Delegierten auf dem Gewerkschaftstag, die vorschlugen, die CFDT solle in ihrem „Alternativprojekt“ eine Anhebung der Beitragsjahre durch die Regierungs„reform“ ablehnen, wurde mit 58,9 % Neinstimmen – gegen 41,1 % Befürworterstimmen – abgeschmettert. Die Urheber der Vorlage schlugen ihrerseits vor, man solle der Regierung keinen „Blankoscheck“ für ihre Vorhaben ausstellen, unterlagen damit jedoch. (Vgl. http://www.liberation.fr  )

In dem Beschluss heißt es ferner, die CFDT akzeptiere zwar längere Beitragszeiten (die Zahl der obligatorischen Beitragsjahre wird nach der sich abzeichnenden „Reform“ nach Regierungsvorstellungen voraussichtlich von derzeit 40 auf 42 oder 42,5 angehoben werden; der Arbeitgeberverband MEDEF trommelt hingegen für 45), verteidige jedoch energisch das Recht, im Lebensalter von 60 Jahren in Rente zu gehen.

Diese scheinbar paradoxe Beschlusslage läuft auf einen Deal hinaus, dergestalt: Wir akzeptieren, dass Ihr unsere Jüngeren (später, später) erst in relativ hohem Lebensalter in Rente gehen lasst – wenn Ihr nur heute unsere Senioren, die schon vor 60 ihre genügenden Beitragsjahre beisammen haben, den Abgang machen lasst. Dies betrifft vor allem ältere Lohnabhängige, die zu ihrer Zeit mit 14, 15 oder 16 zu arbeiten anfingen.

Der doppelte Haken daran: Einerseits wird dieser Personenkreis immer kleiner, denn die nachrückenden Generationen haben in aller Regel deutlich längere Schul- und Ausbildungszeiten durchlaufen (heute gilt ohnehin Schulpflicht bis mindestens 16). Zudem wird er noch zusätzlich verringert, wenn man künftig statt 40 noch mehr Beitragsjahre von ihm verlangen wird. Im übrigen sind seit 2008 die Anerkennungsregelungen, also die Beweisregeln für oft Jahrzehnte zurückliegende Trimester früherer Lohnarbeit, erheblich verschärft (vgl. http://abonnes.lemonde.fr/) – wehe etwa dem, der keine Dokumente dazu mehr hat. (Vor einiger Zeit genügte es noch, zwei Zeugen aus jenen Jahren benennen zu können.) Andererseits wäre es selbstverständliche Pflicht einer – dieses Namens würdigen – Gewerkschaftsorganisation der Lohnabhängigen gewesen, darauf hinzuweisen, dass man zwar die Rentenregelungen verschärfen, aber deswegen den „älteren“ Lohnabhängigen noch lange keinen Job verschaffen kann. Deutlich unter 40 Prozent der 56- bis 65jährigen sind heute in den Frankreich in Lohn & Brot, weil sie als vermeintlich „Unproduktive“ nur schwerlich einen Job finden, wenn sie einmal keinen mehr haben.

Generalsekretär François Chérèque wurde am Donnerstag Abend einstimmig (!) vom Vorstand der CFDT im Amt bestätigt. Zuvor war der Vorstand mit 95,3 % der Delegiertenstimmen wiedergewählt.

Jedoch musste die Führung dennoch eine kleine Abstimmungsniederlage hinnehmen. In einem Leitantrag hatte sie zwar die Sparpolitik der Regierung in den öffentlichen Diensten verbal scharf kritisiert, aber gleichzeitig ihre prinzipielle Bereitschaft erklärt, eine verringerte Zahl von Stellen – also ihren Abbau – hinzunehmen. Ein Antrag der Branchengewerkschaft im Bildungswesen SGEN-CFDT, der den Stellenabbau (der vor allem im öffentlichen Schuldienst dramatisch ausfällt) verurteilt, wurde aber mit 56,8 % gegen 43,2 % der Delegiertenstimmen angenommen.

Nur wer körperlich bereits kaputt genug ist...

Eine weitere Spur, die etwa durch die CFDT verfolgt wird und welche 2003 auch der damalige Sozi-Oppositionspolitiker (und jetzige Direktor des IWF) Strauss-Kahn verteidigte, besteht darin, Lohnabhängigen in bestimmten Berufsgruppen einen „Erschwernis-Abschlag“ bei den Beitragsjahren zu gewähren. Dies bedeutet, dass die körperliche „Erschwernis“ bestimmter Tätigkeiten – und das dadurch bedingte, durchschnittlich frühere Altern – berücksichtigt werden soll, um bestimmten Beschäftigtenkategorien etwas weniger Beitragsjahre abzuverlangen als den anderen. Im Jahr 2003 wurden, im Rahmen der damals losgetretenen Renten„reform“, dann auch Verhandlungsrunden der so genannten „Sozialpartner“ zum Thema „Erschwernis“ (französisch: ,pénibilité’) eröffnet. Der Haken dabei ist: Letztere kamen nie zum Anschluss, da grundsätzlich kein Konsens zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erzielt werden konnte. Denn Letztere waren an einem Abschluss nicht wirklich interessiert – hätte er doch aus Sicht des Kapitals „nur Geld gekostet“.

Die Regierung, die in diesem Punkt weitestgehend den Vorgaben des Arbeitgeberverbands MEDEF folgt, plant jedoch, voraussichtlich nur in individuellen Fällen die „Erschwernis“ anzuerkennen. Dies bedeutet konkret: Nur wer bereits körperlich kaputt ist und dies auch vom Arzt oder der Ärztin bescheinigt erhält, wird aufgrund anerkannter „Erschwernis“ im Arbeitsleben ein paar (wenige) Beitragsjahre erlassen bekommen. Es handelt sich also um eine medizinische Einzelfallregelung, und keineswegs um eine allgemeine Rentenregelung für (besonders) harte Lohnarbeit. „Wir wollen nur keine Sonderregelungen (Régimes spéciaux) mehr“, tönte Präsident Sarkozy dazu, nachdem er es im Winter 2007/08 schaffte, die früher für Eisenbahner/innen geltenden ,Régimes spéciaux’ – mit relativ geringfügigen Widerständen – abzuschaffen. (Labournet berichtete damals, anlässlich des Streiks der Transportbeschäftigten dagegen im November 2007, ausführlich.)

All die Lohnabhängigen, die etwa durch den Umgang mit Chemikalien, krebserregenden Stoffen, durch Lärmeinwirkung usw. allmählich kaputt gehen, bei denen die Langzeitfolgen sich aber oft erst in fortgeschrittenem Alter voll bemerkbar machen, werden – sofern sie kein bombensicheres ärztliches Attest vorlegen – von den neuen (individuellen) Ausnahmeregelungen also keinen Nutzen ziehen können.

Gewerkschaftliche Mobilisierung: Am 24. Juni wird wieder demonstriert

Gegen die neue „Reform“, deren Inhalt (jedenfalls zum Gutteil) bis dahin näher bekannt sein wird, wollen die französischen Gewerkschaften am 24. Juni dieses Jahres erneut auf die Straße gehen. Dies wurde am 31. Mai durch mehrere Gewerkschaftsverbände – CGT, FSU, Bildungsgewerkschaft FSU, Union syndicale Solidaires, UNSA- beschlossen. Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/ und http://abonnes.lemonde.fr/societe ) Die Regierung ihrerseits rechnet an dem Datum bereits mit „mehr Demonstranten als noch am 27. Mai“, wie Arbeits- und Sozialminister Eric Woerth dem CGT-Generalsekretär Bernard Thibault selbst gesteckt haben soll – sofern eine dies bestätigende Information der Sonntagszeitung ,JDD’ (vom 13. Juni) denn zutrifft. Es scheint die Regierung aber nicht sonderlich zu stören oder gar in ihren Plänen zu beeinträchtigen.

Hingegen ruft der populistisch-schillernd auftretende Dachverband FO (Force Ouvrière), bislang einsam und allein, verbalradikal zu einem „Generalstreik“ für den 15. Juni auf. Der wohl keinerlei reale Auswirkungen haben dürfte, aber es FO erlauben wird, sich wortstark in Pose zu schwingen und zu profilieren. Nicht vergessen sei jedoch, dass dieser Dachverband sich einerseits zeitweilig am stärksten in Verbalradikalität übt, andererseits aber regelmäßig die übelsten und verkommensten Vereinbarungen mit unterzeichnet. An der Basis von FO besteht eine merkwürdige Mischung aus Sozialdemokraten – denen die CGT aus historischen Gründen zu (partei)kommunistisch war -, Anhängern einer besonders obskuren pseudo-trotzkistischen Sekte in Gestalt der „Unabhängigen Arbeiterpartei“ POI, politisch verwirrten Elementen und relativ zahlreichen Sympathisanten und Wählern der extremen Rechten.

Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob es von Seiten der übrigen Gewerkschaftsverbände vernünftig war, zu entscheiden, erst am 24. 06. 10 wieder zu demonstrieren. Die letzten Protestdemonstrationen zum Thema fanden am 27. Mai statt (wir berichteten dazu, vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd0610/t250610.html ). Ferner wird das nächste Datum kurz vor der Sommerpause, die in Frankreich eine extrem verlangsamte politische Aktivität bedeutet, zu liegen kommen. Einmal mehr beweist zumindest ein Teil der Gewerkschaftsapparate, dass er außer Spaziergangs-Demonstrationen in mehrwöchigen Abständen dazu nicht viel auf die Beine bekommt – oder bislang zum Teil auch gar nicht möchte. Nur eine Streikdynamik in irgendeinem Sektor könnte daran noch eventuell etwas abändern.

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.