Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Mobilmachung gegen bösen „antinationalen“ Film
Französische Rechte und Algeriensiedler protestieren gegen Spielfilm, den sie nicht gesehen haben

06/10

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Lionnel Luca ist Abgeordneter der Stadt Nizza – ein Ort, an dem eine Unzahl von Reichen, Rentnern und Rassisten hausen – in der französischen Nationalversammlung. Dort sitzt er für die konservative Regierungspartei UMP, und er zählt eher zu ihrem rechten Flügel. Lionnel Luca ist auch ein Vorkämpfer für die Meinungsfreiheit, jedenfalls wenn es die Meinungsfreiheit der Richtigen & Guten ist. So gründete er im April dieses Jahres eine Parlamentariergruppe „für die Verteidigung der Meinungsfreiheit“, die in Frankreich gar schröcklich bedroht sei. Konkret ging es dabei allerdings vor allem um die Freiheit des ultraprominenten rechtslastigen Journalisten Eric Zemmour (vgl. "Die Zemmour-Affäre"  ), mehr oder weniger rassistische Sprüche zu klopfen1.

In anderen Fällen hingegen hält Lionnel Luca nicht gar so viel von der Freiheit der Meinungsäuerung. Insbesondere, wenn es sich um jene von „antinationalen“ Elementen, vulgo Vaterslandsverrätern dreht. Dann kann er sogar fuchsteufelswild werden. So erging es ihm jüngst, als er hörte, dass ein Film unter dem Titel ,Hors-la-loi’ (ungefähr: „Gesetzloser“ oder ,Outlaw’) auf dem Ende Mai zu Ende gegangen Festival von Cannes uraufgeführt werden solle. Als Lionnel Luca im April 10 über bzw. gegen das Werk des Regisseurs Rachid Bouchareb Alarm schlug, hatte zwar noch niemand den Film gesehen – und erst recht nicht er selbst, der Lucky Luke von Nizza, der schneller schoss als sein Schatten. Aber der Historische Dienst des französischen Verteidigungsministeriums hatte eine Fassung des Drehbuchs (das danach noch überarbeitet wurde) in Händen gehabt und Kritiken formuliert, die an den Staatssekretär für Veteranenversorgung Hubert Falco – nebenbei Bürgermeister von Toulon an der Côte d’Azur – gerieten. Dieser gab daraufhin eine negative Einschätzung ab. Dies genügte dem, nun ja, kompetenten und versierten Filmkritiker Lionnel Luca, um alle Alarmglocken läuten zu lassen. Die Barbaren stehen vor den Toren! Ein antifranzösisches und antinationales Machwerk lauert darauf, Cannes heimzusuchen und unschuldige Festivalbesucher anzufallen!

Der 2 Stunden und 11 Minuten dauernde Film von Rachid Bouchareb wurde am Freitag, den 22. Mai 10 in Cannes erstmals aufgeführt. Aufgrund des massiven Drucks einer rechten Lobby durfte er zwar nicht in der französischen Filmauswahl laufen, doch er lief daraufhin offiziell als Teil der algerischen Auswahl. Ursprünglich war der Film mit Geldern aus Frankreich, Algerien und Tunesien finanziert worden. Er zeigt die Geschichte dreier Brüder, die vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Unabhängigkeit Algeriens infolge eines blutigen Kolonialkriegs (1954 bis 62) nacherzählt wird. Sie führt vom Nordosten Algeriens über das gigantische ,Bidonville’ – den damaligen Slum aus Bretterhäusern – in Nanterre, vor den Toren von Paris, wo der algerischen antikoloniale Widerstand sich organisierte, bis ins frisch entkolonialisierte Algerien. Die drei Brüder sind respektive Haudrauf der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, Intellektueller der Bewegung und (im Falle von „Saïd“) Lebemann und Zuhälter. Dargestellt werden die drei von groen Schauspielern: Sami Bouajila, Roschy Zem und Jamel Debbouze. (WICHTIGE FUSSNOTE2)

Die Brüder und ihre Mutter – nicht aber der Vater - überleben zunächst das Massaker von Sétif, das just am o8. Mai 1945 stattfindet, als Europa das Kriegsende und die „Befreiung der Völker“ fordert; dass die Bevölkerung im kolonisierten Algerien Ähnliches forderte, wurde zum Anlass für eine brutale Repression des Kolonialstaats. Zuerst fielen Schüsse auf Demonstranten – wegen Vorzeigens der algerischen Unabhängigkeitsfahne als „subversivem Symbol“ -, dies löste eine wütende Revolte aus (der 103 europäische Kolonialsiedler zum Opfer fielen), und Letztere wiederum wurde zum Anlass für eine breit angelegte militärische Repression. Letztere kostete 10.000 bis 40.000 Todesopfer. Der Film von Bouchareb zeigt diese historischen Szenen nur sehr andeutungsweise, auf sechs Minuten Länge. Diese pure Tatsache genügte, um Leute wie Luca aufschreien zu lassen: Antifranzösische Hetze! Geschichtsrevisionismus (weil der 08. Mai 1945 nicht allein als Tag des Sieges über den Nazismus anerkannt bleibe)! – Inzwischen, nachdem Luca den Film auch am 22. Mai erstmals gesehen hat, fügte er dem einen zweiten Kritikpunkt hinzu: Der Film sei „revisionistisch“, weil er die Befreiung Europas von 1945 mit jener Algeriens 1962 vergleiche. Tatsächlich zeigt der Film am Anfang und am Ende jeweils Szenen von jubelnden Menschen, Eltern unter Fahnen mit Kindern auf ihren Schultern – im Mai 1945 in Paris und im Juli 1962 in Algerien. Dies entspricht schlicht dem Erlebnis der Menschen in der jeweiligen Bevölkerung. Doch behauptet der Film an keiner Stelle, die Nazibarbarei und die Brutalität des französischen Kolonialstaats stünden insgesamt auf derselben Stufe

Am Freitag, den 21. Mai 2010 in Cannes fand gegen den Film eine Demonstration von Konservativen gemeinsam mit Aktivisten des rechtsextremen Front National statt. (Ähnlich, wie es damals bei der Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in München zuging, wo der rechte Mob von der CSU – bspw. Peter Gauweiler – bis zu offenen Neonazis zusammenkam. Die Demo vom o5. März 1997 in München hatte freilich rund 5.000 Teilnehmer angezogen.)

Zu der Demonstration, zu welcher u.a. der dem Front National angegliederte Veteranenverband ,Cercle national des combattants’/CNC aufrief und die am drittletzten Tag des Festivals organisiert worden war, kamen lt. polizeilichen Angaben 1.200 bis 1.400 Teilnehmer. (Jene der Presse variieren zwischen 1.000 und 1.500; die Regionalzeitung ,Le Petit Niçois’ spricht jedoch ihrerseits von „über 2.000“.) Unter ihnen waren vielen frühere französische Algeriensiedler, ,Pieds Noirs’, die in hoher Dichte in der Mittelmeerregion wohnen und aus Marseille, Aix-en-Provence oder Nizza angereist waren. Niemand oder fast niemand von ihnen hatte den Fim gesehen, oder auch nur eine ungefähre Ahnung von seinem Inhalt. Gegenüber den Fernsehkameras bekundete manche Demonstration ihre Ansichten dazu ziemlich offen: „Ich will nicht, dass ein Araber (überhaupt) einen Film darüber macht!“ Oder: „Raus aus Frankreich!“

Drei UMP-Abgeordnete demonstrierten mit: Lionnel Luca (Parlamentarier für Nizza), Michèle Tabarot (Le Cannet, an der Côte d’Azur) und Richard Mallié (Raum Marseille). Mehrere weitere konservative Parlamentarier, darunter auch der UMP-Bürgermeister von Cannes: Bernard Brochand, kamen zuvor zu Kundgebung am „Totendenkmal“ auf dem Friedhof von Cannes. Zu ihr hatte die Stadtregierung in Cannes offiziell aufgerufen. Etwa fünf Parlamentarier enthielten sich jedoch, aufgrund der rechtsextremen Präsenz, einer Teilnahme an der Demo. Zu ihnen zählten Elie Aboud (Region Montpellier), der die parlamentarische Studiengruppe für die früheren Algerienfranzosen - ,Pieds Noirs’ – leitet, oder der frühere Bürgermeister von Nizza, Jacques Peyrat (von 1972 bis 1994 Angehöriger des FN, seit 1996 Mitglied der konservativen Partei RPR und ihrer Nachfolgepartei UMP)3.


Anmerkungen

2 Zem und Debbouze hatten bereits in Rachid Boucharebs letztem, höchst prominenten Film - ,Indigènes’ (Eingeborene) – gespielt, der 2006 in Cannes preisgekrönt wurde; vgl. http://www.trend.infopartisan.net/trd1106/t211106.html - Dieser Film ,Indigènes’ handelt von französischen Kolonialsoldaten, die im Zweiten Weltkrieg kämpften. Die Diskussion um den Film war 2006/07 der Anlass dafür, das Augenmerk auf einen manifesten Diskriminierungsskandal zu lenken: Für die gleiche Rolle in der Armee von 1940-44 erhielten französischen Veteranen eine „normale“ Pension – hingegen waren die Pensionen der früheren Kolonialsoldaten seit 1960, also der Unabhängigkeit der meisten ehemaligen Kolonien, „eingefroren“ und liegen oft bei unter 100 Euro. Der Film endet mit den Bildern eines arabischen Veteranen, der in einer französischen Stadt in bitterer Armut lebt. Noch-Präsident Jacques Chirac versprach deswegen Ende 2006, diese Situation unverzüglich abzustellen. Bis heute ist jedoch nichts passiert. Just am vergangenen Freitag, 28. Mai 2010 verurteilte nun das französische Verfassungsgericht diese diskriminierende Praxis und ordnete ein Ende des „Einfrierens“ der Pension früherer Kolonialsoldaten auf dem Geldwert von 1958 an. Endlich...

 

Editorische Anmerkung

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.